Autismus
Prof. Dr. Matthias Dalferth
Die Medien haben in den vergangenen Jahren für einen größeren Bekanntheitsgrad dieser Behinderung gesorgt. So gelang es beispielsweise mit dem Film “Rainman” (mit Dustin Hoffman, Tom Cruise), eine ganze Reihe von typischen Auffälligkeiten anschaulich am Beispiel eines erwachsenen Mannes darzustellen. Zweifellos geht von einer autistischen Behinderung eine große Faszination aus, weil man diesen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ihre Behinderung nicht ansieht und etliche Personen über uns rätselhaft erscheinende Fähigkeiten verfügen.
Die verkürzte Berichterstattung in den Medien hat jedoch auch dazu geführt, dass sich einige Fehlannahmen über diese Behinderung verfestigen konnten. Deshalb soll nachfolgend nicht nur diese “tiefgreifende Entwicklungsstörung”, wie sie in den psychiatrischen Klassifikationssystemen ICD 10 und DSM IV bezeichnet wird, näher beschrieben werden, sondern auch auf populäre Fehlannahmen eingegangen werden.
Was ist Autismus?
Neben Autismus (ein Begriff, der sich mit Selbstbezogenheit, Abkapselung oder Rückzug in die eigene psychische Welt übersetzen ließe) finden auch noch andere Bezeichnungen Verwendung: frühkindlicher Autismus, autistische Störungen, autistisches Syndrom, Asperger Syndrom, High-functioning-autism und atypischer Autismus. Es handelt sich hierbei um verschiedene Spielarten aus dem autistischen Spektrum (ASD – Autistic Spectrum Disorders), weil wir heute wissen, dass Autismus in völlig unterschiedlichen Schweregraden und in Kombinationen mit anderen Behinderungen in Erscheinung treten kann. Es gibt autistische Menschen, die gleichzeitig geistig behindert sind (ca. 70%) oder eine weitere Krankheit oder Behinderung haben (z.B. Tuberöse Sklerose, Neurofibromatose, Phenylketonurie, Fragile X-Syndrom u. v. a., vgl. Baron-Cohen, Bolton 1993). Andere können mit ihrer diskreten Behinderung eine höhere Schule besuchen, eine qualifizierte Ausbildung absolvieren und ein hohes Maß an Selbstständigkeit erreichen.
Als typisches Behinderungsbild gilt das Kanner-Syndrom, als leichtere Form das Asperger-Syndrom. Syndrom bedeutet, dass mehrere, hier bis zu 60 einzelne Auffälligkeiten oder Symptome beobachtet werden können, die allerdings nicht alle gleichzeitig vorkommen müssen. Ein atypischer Autismus findet sich bei in der Regel schwerstbeeinträchtigten Menschen, bei denen nicht alle wichtigen Symptome vorkommen. High-functioning-autism (Autismus mit hohem Funktionsniveau) gilt als symptomatisch etwas unklare Bezeichnung für Personen mit Kanner-Syndrom, die über herausragende Fähigkeiten in Teilgebieten (z.B. Musik, Kalenderrechnen, Zeichnen, Merkfähigkeit) verfügen.
Da autistische Menschen insbesondere in ihrer Fähigkeit beeinträchtigt sind, zu anderen Menschen – auch zu den eigenen Eltern – in einen engen, gefühlsbetonten sozialen Kontakt zu treten, und die Beweggründe menschlichen Handelns nur schwer verstehen können, werden die meisten unabhängig vom Intelligenzniveau lebenslang auf Hilfe angewiesen bleiben.
Wann wurde Autismus zum ersten Mal beschrieben? Wie viele Menschen mit Autismus gibt es?
Als Erstbeschreiber des “Frühkindlichen Autismus” gilt der amerikanische Psychiater Kanner, der 1943 eine ganze Reihe typischer Gemeinsamkeiten für die Fachwelt zusammengetragen hat. Er ging damals davon aus, dass es sich nur um eine kleine Gruppe von betroffenen Kindern handle. Heute wissen wir, dass nicht nur 4 oder 5 (die so genannte Kerngruppe), sondern bei einem breiteren diagnostischen Schlüssel sogar 15 bis 40 von 10 000 Kindern – vorwiegend Jungen (4:1) – von dieser Behinderung betroffen sind (vgl. BAG HfB 2000, ARRI 2002, 2003; Remschmidt 2000). Für Deutschland bedeutet dies, dass es erheblich mehr autistische als blinde Kinder gibt. Mindestens 41.000 Menschen der Kerngruppe und bis zu 205.000 aus dem autistischen Spektrum (BAG HfB 2000) leben also unter uns.
Zeitgleich beschrieb der Wiener Hans Asperger 1943 eine Gruppe mit einer “autistischen Persönlichkeitsstörung” , die viele Auffälligkeiten mit den Kannerschen Typus gemeinsam hat. Doch diese Kinder lernen früher sprechen; sie können sich oft gewählt ausdrücken, verfügen über mindestens durchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten und entwickeln ausgeprägte Sonderinteressen (z.B. Seeräuber, Fahrpläne, Kirchenglocken), mit denen sie sich nachhaltig und oft zwanghaft beschäftigen.
Was führt zu der Diagnose “Autismus” ?
Bereits im Verlauf der ersten drei Lebensjahre müssen mehrere typische Auffälligkeiten gleichzeitig beobachtet werden können, die nachfolgend aufgeführt werden. Einzelne dieser Besonderheiten sind in der Normalentwicklung nicht außergewöhnlich.
Erste Anzeichen (bis zu 18 Monaten):
- Die Kinder wollen nicht gerne auf den Arm genommen werden, schreien lange ohne ersichtlichen Grund, lächeln nicht zurück, wenn sich vertraute Personen nähern, und vermeiden Blickkontakt. Sie interessieren sich nicht für Spielzeug oder für die Umwelt, achten nicht auf Zeigegesten der Erwachsenen und ahmen sie nicht nach. Sie reagieren wie taub auf Geräusche, scheinen Sprache nicht zu verstehen, schreien, wenn man sich mit ihnen beschäftigen möchte, und erwecken den Anschein, dass sie sich am wohlsten fühlen, wenn sie sich allein, häufig mit wiederholenden, stereotypen Bewegungen oder immer mit den gleichen Gegenständen beschäftigen. Die Sprachentwicklung verebbt in monotonen Lautbildungen, da sie nicht versuchen nachzuahmen, was man ihnen vorspricht. Gleichfalls sind Schlafstörungen und Störungen bei der Nahrungsaufnahme zu beobachten (vg. BAG HfB 2000).
- Wenn sich diese Frühanzeichen zu schweren Wahrnehmungs-, Beziehungs- und Kommunikationsstörungen verdichten, macht dies eine genaue diagnostische Abklärung durch Fachleute (in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in einer Ambulanz für autistische Kinder oder in einer Psychologischen Beratungsstelle) erforderlich.
Vollbild der Behinderung:
Nach den internationalen Klassifikationssystemen (ICD 10 und DSMIV) liegen dem Vollbild folgende Kernsymptome zu Grunde:
- eine qualitative Beeinträchtigung der zwischenmenschlichen Beziehungen
- eine schwere Beeinträchtigung der Kommunikation und der Phantasie
- deutlich eingeschränkte Interessen und Entwickeln von stereotypen Verhaltensmustern
- Beginn im Verlauf der ersten 36 Lebensmonate
Eine Autismusdiagnose ist nur berechtigt, wenn in jedem der Bereiche gleichzeitig 1-3 einschlägige Auffälligkeiten zu beobachten sind. Die wichtigsten werden nachfolgend aufgeführt (vollständige Symptomlisten finden sich beim Bundesverband Hilfe für das autistische Kind – BV HAK – und BAG Hilfe für Behinderte 2000).
Sprache und Kommunikation
Ungefähr die Hälfte aller autistischen Kinder lernt nie, sich lautsprachlich zu äußern; sie ziehen eher an der Hand des Erwachsenen bei Willensäußerungen. Andere entwickeln eine in vielerlei Hinsicht auffällige Sprache (z.B. in der Melodie, Wortwahl, in der Grammatik, im Sprechtempo). Sie verwenden lange Zeit keine Personalpronomina ( “ich” ); sie reden von sich in der 3. Person oder verwechseln Du und Ich.
Beim Sprechen wird, wenn überhaupt, nur kurz Blickkontakt aufgenommen. Sprachbegleitende Mimik und Gestik unterbleiben. Die Kinder neigen zu Selbstgesprächen, manche zu floskelhafter, bizarrer Sprache mit Neuschöpfungen. Ständige Wortwiederholungen oder die Wiederholung von Fragen, die an sie gestellt wurden, sind typisch. Die Kinder kommunizieren in mechanischer Weise, und dies erweckt den Anschein, dass sie die üblichen Kommunikationsregeln nicht beherrschen. Wenn ihr Sprachverständnis auch besser als ihr aktives Sprachvermögen erscheint, entnehmen sie die Bedeutung der Äußerungen oder die Informationen doch eher aus der Situation oder aus dem Alltagszusammenhang. Sie haben Schwierigkeiten, die Bedeutung von Gesten oder von metaphorischen, bildhaften Äußerungen ( “er hat ein Auge auf sie geworfen”, “da sehe ich schwarz” ? “ich verstehe nur Bahnhof” ) zu entschlüsseln.
Wahrnehmung, Verarbeitung von Sinnesreizen
Die Kinder bevorzugen bestimmte Geräusche (hohe Töne, Klopftöne, Musik, Geräusche vom Staubsauger oder anderen Haushaltsmaschinen), sie achten jedoch nicht auf Sprache oder sehr laute Töne. Es kann auch sein, dass sie äußerst empfindlich auf normale Alltagsgeräusche reagieren. Sie lassen sich von optischen Reizen faszinieren (Teppichmuster, Seifenblasen, Klarsichtfolie), die sie auch selbst erzeugen (gleichförmiges Bewegen von Bändchen oder Fädchen vor den Augen). Sie werfen nur kurze Blicke auf Personen und Dinge, sehen an einem vorbei. Es fällt ihnen schwer, die Gesichter von Menschen, die ihnen vertraut sein müssten, wiederzuerkennen. Manche neigen dazu, ihr Umfeld mit Belecken oder Schnüffeln zu erkunden, und erscheinen geradezu unempfindlich gegenüber Kälte, Hitze oder Schmerzen.
Bewegungsmuster
Die Kinder zeigen häufig ständig wiederholende, rhythmische Hand-, Kopf- oder Körperbewegungen – insbesondere dann, wenn sie erregt sind. Sie grimassieren, schaukeln oder hüpfen gerne. Mitunter zeigen sie Mängel in der Koordination der Bewegungen. Es fällt ihnen schwer, auch einfache Bewegungen nachzuahmen. Manchmal gehen sie auf Zehenspitzen. Es dauert oft lange, bis sie eine Handlung auf Aufforderung tatsächlich ausführen. Manchmal verharren sie in der Bewegung.
Verhaltensmuster
Die Kinder zeigen sich nicht in der Lage, Regel- oder Rollenspiele durchzuführen. Sie benutzen Spielzeug (Puppe, Auto) eher zur Sinnesstimulation. Beliebte Tätigkeiten (z.B. Wasser oder Sand durch die Hände rieseln lassen) können sie über Stunden faszinieren. Der Alltag ist geprägt von ständig gleich ablaufenden Ritualen, die sie oft zwanghaft einzuhalten trachten (z.B. Schuhe, CDs ordnen, Fenster schließen, Bevorzugung bestimmter Nahrungsmittel). Versucht man, diese Zwänge zu durchbrechen, reagieren sie oft aggressiv oder mit Selbstverletzungen. Sie entwickeln wenig Motivation, sich mit Neuem zu befassen, wenden ihre Aufmerksamkeit oft Kleinigkeiten zu (z.B. Ball, Ohrring, Rad) und entwickeln wenig Phantasie.
Daneben versetzen die Personen uns in Erstaunen mit Fähigkeiten (z.B. beim Rechnen, Auseinandernehmen und Zusammensetzen von mechanischen Teilen, Abspeichern von Melodien, Gedichten oder von Texten, auf die sie nur einmal kurz den Blick geworfen haben, bei der genauen Anfertigung von Abbildungen, etc.), die wir uns kaum erklären können und die im Kontrast zu ihren Verhaltensproblemen stehen.
Soziale Kontakte
Was die Personen aber im Umgang mit anderen Menschen besonders beeinträchtigt, das ist die Schwierigkeit, den Sinngehalt aus der Sprache zu entnehmen, Absichten in den Handlungen der Mitmenschen zu erkennen und emotionale Äußerungen (Freude, Ärger, Trauer…) in der Mimik, Gestik und Sprachmelodie richtig zu verstehen. Gleichfalls fällt es ihnen schwer, eigene Empfindungen durch den Gebrauch von Mimik und Gestik verständlich mitzuteilen.
In einer Welt zu leben, die einem unverständlich erscheint, weil man die zugrundeliegenden Regeln, nach denen sie funktioniert, nicht begreift, fördert den Rückzug und die gleichförmige Beschäftigung mit ausgewählten Gegenständen und mit sich selbst.
Können autistische Menschen niemals zu anderen Menschen Kontakt aufnehmen?
Viele Menschen denken, dass dieses Rückzugsverhalten, die Verweigerung des Blickkontaktes, die Kontaktverweigerung und die fehlenden Anteilnahme als typische Anzeichen eines Autismus lebenslang anhalten und dass sich diese Kinder am wohlsten fühlen, wenn man sie in Ruhe lässt. Tatsächlich lernen autistische Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter selbstverständlich, Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen. Sie tun es in der Art und Weise, die ihnen möglich erscheint.
Folgt man den Selbstaussagen von äußerungsfähigen Menschen, die von Autismus betroffen sind (vgl. Sellin 1993, Zöllner 1988), dann wird offenkundig, dass es zu den schmerzhaftesten Empfindungen der Betroffenen gehört, als desinteressiert an sozialen Kontakten zu gelten oder als gefühlskalt beschrieben zu werden. Selbstverständlich haben sie Gefühle – es gelingt ihnen nur nicht immer, sie verständlich zu äußern. Sie wollen auch nicht in Ruhe gelassen werden, sondern brauchen Unterstützung in der Kommunikation und Hilfe, um die Absichten und Handlungsweisen ihrer Mitmenschen besser zu verstehen.
Wie lassen sich die verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten erklären?
Veränderungen in der Umwelt können autistische Kinder nur schwer ertragen. Deshalb achten sie darauf, eine ihnen gemäße Ordnung immer wieder herzustellen. Die Zwänge, die hieraus resultieren, stellen für die Angehörigen eine große Belastung dar. Autistische Kinder brauchen jedoch diese selbstgeschaffene Ordnung eine Zeit lang, damit sie sich sicher fühlen können.
Autistische Kinder unterscheiden sich auch in ihrem Spiel und in den bevorzugten Beschäftigungen von Gleichaltrigen: Sie entwickeln Stereotypien (Drehen und Kreiseln von Gegenständen, Hin- und Herbewegen der Hände vor den Augen, Erzeugen von Klopftönen) oder interessieren sich ausschließlich für bestimmte Gegenstände (z.B. Liegestühle, Waschmittel, Abflussschächte…). Wenn sie sprechen können, konzentriert sich ihre Aufmerksamkeit oft auf einseitige Gesprächsthemen (Flugpläne, Astronomie, Geografie…), zu denen sie sich detailliertes Fachwissen aneignen. Exzessive Sammelleidenschaften, die Weigerung, eine bestimmte Kleidung zu tragen oder ein bestimmtes Gericht zu essen, oder die Wiederholung immer derselben Sätze – all dies steht nicht nur im Zusammenhang mit Problemen im Verständnis kommunikativer Regeln und mit dem Bemühen um Sicherheit, sondern auch mit elementaren Störungen im Bereich der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung.
Weil es autistischen Kindern schwer fällt, komplexe Zusammenhänge zu erfassen und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, richten sie ihr Augenmerk auf Details (z.B. Ohrring, Ball) oder auf eingeschränkte Themenbereiche. Aufgrund ihrer auffälligen Über- oder Unterempfindlichkeiten auf verschiedene Sinnesreize (beim Riechen, Schmecken, Fühlen, Hören, Sehen und bei der Gleichgewichtsstimulation; vgl. Dalferth 1995) reagieren sie sehr sensibel auf bestimmte Reize, die als unangenehm empfunden werden. Bestimmte Geräusche, Gerüche, Menschenansammlungen, Stimmengewirr etc. können sie auch zu selbstverletzendem Verhalten veranlassen.
Auch wenn sich diese Verhaltensbesonderheiten im Laufe der Zeit abschwächen, erschweren diese Gewohnheiten den Umgang mit autistischen Kindern beträchtlich und erfordern von den Angehörigen viel Einfühlungsvermögen und Geduld. Da viele Kinder auch Gefahren nicht richtig einschätzen können, sind ständige Aufsicht und Betreuung erforderlich.
Liegt es an der Erziehung, dass Kinder autistisch werden?
Die Vermutung, dass es an dem Erziehungsverhalten der Eltern liegen könne, wenn Kinder ein autistisches Syndrom entwickeln, ist wissenschaftlich unhaltbar und völlig ungerechtfertigt. Es ist heute eindeutig erwiesen, dass das Erziehungsverhalten der Eltern weder einen Autismus hervorrufen kann noch für die oft bizarren Verhaltensweisen verantwortlich zeichnet: Die Kinder sind nicht schlecht erzogen, wenn sie in der Öffentlichkeit unangenehme Dinge aussprechen (Taktlosigkeiten) oder sich unangemessen verhalten (z.B. sich auf einen Platz setzen, der schon besetzt ist). All dies ist Ausdruck ihrer Störung in der Wahrnehmung der Welt und bringt ihr eingeschränktes Verständnis von sozialen Situationen zum Ausdruck.
Sind autistische Kinder geistig behindert?
Die intellektuelle Begabung autistischer Kinder kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Sie reicht vom Niveau einer schweren geistigen Behinderung bis hin zu durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz. Einige weisen sich durch überdurchschnittliche Fähigkeiten im rechnerischen, technischen oder musischen Bereich aus. Ihr Intelligenzprofil ist eher als disharmonisch zu bezeichnen, da auch schwerer behinderte Menschen über erstaunliche Leistungsinseln verfügen können. So kann beispielsweise ein Mädchen komplizierte Schaltkreise aus dem Kopf nachzeichnen und kennt ganze Nährstofftabellen auswendig – die eigene Telefonnummer oder den Preis für einen Liter Milch kann sie sich jedoch nicht merken.
Dementsprechend ist es nicht einfach, autistische Kinder eindeutig einem bestimmten Schultypus zuzuordnen. Am besten ist es daher, wenn sich die Schule auf die Besonderheiten des jeweiligen Kindes einstellt.
Wie kommt es zu einer autistischen Behinderung?
Häufig wird behauptet, man wisse noch nichts über die Ursachen dieser rätselhaften Behinderung. Tatsächlich liegen eine ganze Reihe von Befunden und Theorien vor (Dzikowski 1996), die deutlich machen, dass diese Behinderung auf das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zurückzuführen ist.
Ch. Gillberg hat Autismus zutreffend als eine biologisch determinierte Verhaltensstörung charakterisiert. Das heißt, eine genetische Disposition (körperliche Bereitschaft), an Autismus zu erkranken, und ungünstige Einflüsse im Verlauf von Schwangerschaft und Geburt, also das gehäufte Vorkommen von ganz verschiedenen Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen (z.B. Virusinfektionen, Sauerstoffmangel) – die allerdings unspezifisch sind -, können das Gehirn schädigen und die Entwicklung eines autistischen Syndroms zur Folge haben.
Für die Bedeutung genetischer Faktoren sprechen Familien- und Zwillingsuntersuchungen (vgl. Dalferth 1990), da bei eineiigen Zwillingen meistens nicht nur einer, sondern beide von Autismus betroffen sind. Außerdem spielen Hirnschädigungen und Hirnfunktionsstörungen eine zentrale Rolle, die sich bei 60% der Kinder nachweisen lassen (vgl. BV HAK 2001).
Autismus manifestiert sich auch in einer ganzen Reihe von neurobiologischen und biochemischen Besonderheiten (vgl. Remschmidt 2000), deren Zustandekommen im Einzelnen noch nicht geklärt ist.
In jedem Falle äußert sich eine autistische Behinderung jedoch in einer Störung der Wahrnehmung und ihrer Verarbeitung. Das heißt, dass autistische Menschen mit intakten Sinnesorganen die zahlreichen Reize aus der Umgebung zwar aufnehmen, jedoch nicht richtig miteinander verbinden, einordnen und verstehen können. Die sensorischen Reize werden also nicht zu verständlichen Bedeutungsträgern und geben den Betroffenen damit keine Möglichkeit, ihr Verhalten und Erleben angemessen zu organisieren und sich auf die Außenwelt einzustellen. Diese Störungen in der Wahrnehmungsverarbeitung und die Unfähigkeit, sich angemessen in das Denken und Fühlen anderer Menschen hineinversetzen zu können, führen dazu, dass sie das Verhalten ihrer Mitmenschen nur schwer verstehen und sich selbst auch der Umwelt gegenüber nur schwer verständlich machen können.
Hinzu kommt, dass der Körper dem Willen autistischer Personen nicht immer gehorcht, sie also nicht so handeln oder sich ausdrücken können, wie sie es gerne wollen oder sollen (vgl. Zöller 1989, Sellin 1993). So kann man auch den Eindruck gewinnen, die Kinder seien taub oder schwer geistig behindert. Beispielsweise äußerte ein autistischer Junge, der gelernt hat, sich schriftlich mitzuteilen: “Ich kann nicht sprechen, weil mein Mund die Befehle des Gehirns nicht ausführen kann, aber ich kann denken.”
Wichtige Kontaktadresse
Bundesverband Hilfe für das autistischen Kind (BV HAK)
Vereinigung zur Förderung autistischer Menschen e.V.
Bebelallee 141
22297 Hamburg
Tel.: 040/5115604
Literatur
- Autism Research Review International (ARRI) No. 3, 4, Vol 16, 2002, 1,Vol 17, 2003
- BAG Hilfe für Behinderte (Hrsg.): Kommunikation zwischen Partnern. Frühkindlicher Autismus (bearb. v. St. Dzikowski ). Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
- Baron-Cohen, S.; Bolton, P. (1996): Autism. The facts. Oxford University Press, New York
- BV HAK (Hrsg.): Denkschrift zur Situation autistischer Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg 2001 (enthält das aktuelle Basiswissen über Autismus, wichtige Literaturhinweise und Hinweise auf Broschüren zu den verschiedensten Themen und Symptomlisten, die vom BV aufgelegt wurden, sowie die Anschriften sämtlicher Regionalverbände und Ambulanzen)
- BV HAK (Hrsg.): Berufliche Integration autistischer Erwachsener (bearb. v. M. Dalferth). Hamburg 1996
- Dalferth M. (1990): Zur Bedeutung erblicher Faktoren beim Frühkindlichen Autismus 3, 207-217
- Dalferth, M. (1995): Behinderte Menschen mit Autismussyndrom. Probleme der Perzeption und der Affektivität – ein Beitrag zum Verständnis und zur Genese der Behinderung. Winter, Heidelberg
- Dzikowski, St.: Die Ursachen des Autismus: Eine Dokumentation. Beltz, Weinheim 1996
- Gillberg, C.; Coleman, M. (1992): The biology of autistic syndromes. MacKeth Press, London
- Remschmidt, H. (2000): Autismus. Erscheinungsformen, Ursachen, Hilfen. Beck, München
- Schopler, E.; Lansing, M.; Waters, L. (2000): Übungsanleitungen zur Förderung autistischer und entwicklungsbehinderter Kinder. vml., Dortmund
- Sellin, B. (1993): Ich will kein inmich mehr sein. Kiepenheuer u. Witch, Köln
- Zöller, D. (1989): Wenn ich mit euch reden könnte. Scherz, Bern, München, Wien
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Autor
Prof. Dr. phil. Matthias Dalferth (Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des BV Hilfe für das autistische Kind)
Fachhochschule Regensburg
FB Sozialwesen
Postfach 12 03 27
D-93025 Regensburg
Tel.: 0941/9431087/81
Erstellt am 24. Juni 2003, zuletzt geändert am 31. März 2010