Wie kann die Familie die seelische Gesundheit der Kinder fördern?

Dr. Andrea Mohr
Mohr

Eltern wünschen sich in aller Regel, dass ihre Kinder froh und glücklich sind, dass sie sich gut entwickeln und seelisch gesund sind. Doch welchen Beitrag können Eltern, kann die Familie dazu leisten? Diese Frage steht im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags. Zunächst wird darauf eingegangen, wie sich die seelische Gesundheit definieren lässt. Anschließend wird dargestellt, welche Bedingungen die seelische Gesundheit beeinflussen, bevor im dritten Teil auf konkrete Fördermöglichkeiten eingegangen wird. Dabei wird die Aufmerksamkeit insbesondere auf die Frage gerichtet, welche Bedürfnisse Kinder haben und wie diese im Familienalltag berücksichtigt werden können.

Seelische Gesundheit – was versteht man darunter?

Was kennzeichnet einen Menschen, der seelisch gesund ist? Mit diesem Thema haben sich zahlreiche Philosophen und Wissenschaftler beschäftigt, und entsprechend breit ist auch das Spektrum möglicher Antworten. Die Beantwortung dieser Frage ist dabei nicht nur abhängig von persönlichen Standpunkten und Erfahrungen, sondern auch von gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen: Jede Gesellschaft, jede Kultur hat ihre eigenen Normen, Wertvorstellungen und Ideale, die beeinflussen, was von der Mehrzahl ihrer Mitglieder als normal oder als gesund angesehen wird. Daher ist es wichtig, sich bei der Beschäftigung mit diesem Thema immer auch der Relativität jedes Definitionsversuchs bewusst zu sein.

Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit – dieser Satz gilt nicht nur für die körperliche, sondern auch für die seelische Gesundheit. Der Psychologie-Professor Peter Becker hat sich ausführlich mit der seelischen Gesundheit, Möglichkeiten ihrer Erfassung und ihrer Förderung auseinandergesetzt und Kriterien zusammengestellt, die einen seelisch gesunden Menschen kennzeichnen (Becker & Minsel, 1986). Ausgehend von diesen Kriterien lässt sich für unsere Kultur folgendes Idealbild eines seelisch gesunden Menschen zeichnen – je mehr und je häufiger es uns gelingt, diesem Ideal nahe zu kommen, desto höher ist unsere seelische Gesundheit einzustufen: Ein Mensch, der eine hohe seelische Gesundheit aufweist, fühlt sich dem Leben und seinen Herausforderungen insgesamt gut gewachsen. Er hat ein hohes Selbstwertgefühl und kann sich als Person so akzeptieren, wie er ist. Er ist nicht hilflos, sondern weitestgehend selbstständig und davon überzeugt, dass er viel dazu beitragen kann, um auftretende Probleme anzugehen und zu bewältigen. Er blickt in der Regel optimistisch in die Zukunft.

Ein seelisch gesunder Mensch ist weitgehend frei von psychischen Problemen und Störungen und fühlt sich im allgemeinen wohl, d.h. er empfindet häufig positive und selten negative Gefühle. Er ist aktiv, zeigt Interesse und Unternehmungsfreude und kann sich, seine Interessen und Bedürfnisse in angemessener Form behaupten. Er verfügt über gut ausgebildete psychische Funktionen, d.h. er ist kompetent, kreativ, willensstark und besitzt ein ausreichendes Maß an Selbstkontrolle. Anstatt zu grübeln und die eigene Aufmerksamkeit zu sehr auf die eigene Person zu konzentrieren, zeigt er ein hohes Interesse an seiner Umwelt und seinen Mitmenschen. Er tritt anderen Menschen offen und wertschätzend gegenüber und ist in der Lage, positive Beziehungen zu ihnen einzugehen.

Was beeinflusst die seelische Gesundheit eines Menschen?
 

Das Ausmaß unserer seelischen Gesundheit ist keine statische Eigenschaft, vielmehr entwickelt und verändert sie sich über die Zeit hinweg in einem komplexen Wechselspiel zwischen einem Individuum und seiner Umwelt (Becker, 1992, 1996; Mohr, 2000). Von Bedeutung sind dabei die vielfältigen Anforderungen, die sich jedem Menschen stellen. Diese Anforderungen werden zum einen von außen an ihn herangetragen: So verlangen z.B. die Eltern von einem Kind, dass es sich an vereinbarte Regeln hält. In der Schule wird Leistung und Disziplin verlangt. Und Freunde wünschen sich einen interessanten und anregenden Spielpartner. Zum anderen ergeben sich für jeden Menschen Anforderungen durch eigene Bedürfnisse, aber auch durch Ziele und verinnerlichte Werte. Seelisch gesund kann ein Mensch nur dann sein oder werden, wenn seine Bedürfnisse in angemessenem Ausmaß befriedigt werden.

Jeder Mensch verfügt nun über unterschiedliche Mittel und Ressourcen, um die Anforderungen, die sich ihm – von außen oder innen – stellen, zu bewältigen. Diese Ressourcen sind in seiner sozialen und materiellen Umwelt sowie in ihm selbst zu finden. Ein Beispiel für eine Ressource in der sozialen Umwelt eines Kindes wäre die soziale Unterstützung, die es von Seiten seiner Eltern erhält. Die Ressourcen, die im Individuum selbst liegen, umfassen z.B. seine Intelligenz und seine Fähigkeiten, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften sowie seine körperliche Konstitution. Die internen Ressourcen entwickeln sich über die Lebensspanne hinweg, ausgehend von Interaktionen zwischen Erbanlagen des Individuums und seiner Umwelt. Auch die seelische Gesundheit kann als eine interne Ressource betrachtet werden. Sie erleichtert die Bewältigung von Anforderungen.

Je gleichgewichtiger das Verhältnis von Anforderungen und Ressourcen ist und je besser einem Menschen die Bewältigung der an ihn gestellten externen und internen Anforderungen gelingt, desto förderlicher ist dies für seine seelische Gesundheit und seine gesamte Entwicklung. Geringfügige Unterschiede, die sich durch Anstrengung lösen lassen und als Herausforderungen erlebt werden, sind dabei in der Regel ebenfalls förderlich. Umgekehrt können aber gravierende Unterschiede zwischen Anforderungen und Ressourcen langfristig zu Entwicklungsproblemen führen. Ein Kind, das z.B. in Schule und Familie immer wieder überfordert (oder unterfordert) wird und dessen Bedürfnisse nicht genügend Berücksichtigung finden, wird auf die Dauer seelisch und möglicherweise auch körperlich krank.

Wie lässt sich die seelische Gesundheit von Kindern in der Familie fördern?
 

Welche familiären Bedingungen tragen dazu bei, die seelische Gesundheit eines Kindes zu stützen und zu fördern? Ganz allgemein lassen sich hier zwei Ansatzpunkte formulieren: Kindgemäße Anforderungen und Befriedigung kindlicher Bedürfnisse.

Kindgemäße Anforderungen
 

Zum einen sollten die Familie und insbesondere die Eltern dafür Sorge tragen, dass die Anforderungen, die einem Kind von außen gestellt werden, von ihm bewältigt werden können, seinem Entwicklungsstand und Leistungsvermögen entsprechen und ihm die Möglichkeit geben, Erfolg zu erleben. Diese Passung von Anforderungen und Ressourcen kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Zum einen ist es möglich, die externen Anforderungen an das Kind anzupassen. Dies ist beispielsweise von Bedeutung, wenn es um die Entscheidung geht, welche weiterführende Schule ein Kind besuchen soll. Aber dies betrifft auch die Freizeitgestaltung, z.B. wenn ein Kind von einem übervollen Terminkalender überfordert wird, der kaum Raum für Spontaneität lässt, oder wenn zu viele Hobbies gleichzeitig gepflegt werden sollen. Auch die Gestaltung des Familienlebens kann ein Kind überfordern, wenn zu viele Aktivitäten auf dem Plan stehen. Umgekehrt kann ein Kind auch zu wenig Anregungen erfahren und unterfordert sein. Dies ist ebenso problematisch wie Überforderung.

Eine Balance zwischen Anforderungen und Ressourcen kann weiterhin dadurch erreicht werden, dass die Ressourcen des Kindes gestärkt werden. Die Interaktionen in der Familie und die Gestaltung des Familienlebens beeinflussen die geistige, soziale und emotionale Entwicklung des Kindes zentral. Und so haben Eltern die Möglichkeit, die Entwicklung ihrer Kinder in diesen Bereichen zu fördern (siehe Förderung der geistigen Entwicklung im Vorschulalter – was können Mütter und Väter tun). Dadurch stärken sie ihr Kind für die Bewältigung einer Vielzahl von Anforderungen z.B. im schulischen Bereich. Die Ressourcen von Kindern werden auch dadurch gestärkt, dass ihre Bedürfnisse angemessen befriedigt werden – darauf wird im nächsten Abschnitt eingegangen. Neben der Stärkung der persönlichen Ressourcen des Kindes stellt die Familie wichtige Ressourcen zur Bewältigung von Anforderungen bereit, z.B. dadurch dass die Eltern bei Problemen unterschiedlichster Art Unterstützung und Ermutigung anbieten und sich Zeit für das Kind nehmen. Wenn das Kind Probleme mit Gleichaltrigen erlebt, können Eltern wichtige Ansprechpartner sein. Bei schulischen Problemen können sie dem Kind Mut machen, gemeinsam mit ihm die Hausaufgaben besprechen oder mit ihm für eine Klassenarbeit üben.

Befriedigung der Bedürfnisse von Kindern
 

Der zweite Ansatzpunkt bezieht sich auf die Schaffung von Rahmenbedingungen in der Familie, damit die Bedürfnisse von Kindern in angemessener Form befriedigt werden können. Doch welche Bedürfnisse sind das? Jeder Mensch, jedes Kind hat eine Vielzahl von Bedürfnissen, deren Bedeutung individuell verschieden ist und sich außerdem mit dem Alter verändert. Dennoch lässt sich so etwas wie ein “Katalog” menschlicher Bedürfnisse (Becker, 1995) formulieren.

Grundlegend sind unsere physiologischen Bedürfnisse nach Nahrung, ausreichend Schlaf, Bewegung etc. Insbesondere im Kindesalter sind es in der Regel die Eltern, die sich um die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse kümmern müssen, um das Wohl ihres Kindes sicherzustellen.

Doch die Bedürfnisse von Kindern gehen weit über diese physiologischen Bedürfnisse hinaus. Kinder – und dies gilt bereits für Säuglinge – haben ein starkes Bedürfnis nach Bindung und Nähe, d.h. sie wollen sich aufgehoben und geborgen fühlen, wünschen sich die Anwesenheit und Nähe vertrauter Menschen. Wie dieses Bindungsbedürfnis befriedigt werden kann, hängt vom Alter des Kindes ab (Largo, 2001): Je kleiner ein Kind ist, desto wichtiger ist der Körperkontakt zu den Bezugspersonen, später ist insbesondere das Wissen um die Erreichbarkeit und Verfügbarkeit der Bezugspersonen relevant. Dem Bindungsbedürfnis kommt es entgegen, wenn die Familie bestimmte Rituale schafft, durch die Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit erfahrbar wird, z.B. in Form regelmäßiger gemeinsamer Mahlzeiten oder gemeinsamen Spielens. Dabei ist – zumindest bei älteren Kindern – weniger die Dauer der gemeinsam verbrachten Zeit entscheidend als die Qualität des Zusammenseins.

Für die Art des Umgangs miteinander gilt es, sich immer wieder klar zu machen, dass bereits Kleinkinder ein starkes Bedürfnis nach Achtung haben. Sie möchten von ihren Mitmenschen be- und geachtet werden sowie Wertschätzung und Zuneigung erfahren. Diese Wertschätzung hilft ihnen, Selbstachtung und Selbstvertrauen zu entwickeln. Ebenso wollen Kinder erleben, dass sie einen Einfluss haben und ihre Wünsche Gehör finden. Dies erlaubt die Entwicklung von Selbstwirksamkeit und der Überzeugung, etwas beeinflussen zu können. Dabei geht es keinesfalls darum, jedem Wunsch des Kindes nachzugeben. Im Gegenteil, es ist eine wichtige Lernerfahrung, dass Wünsche nicht immer verwirklicht werden können oder dass das Kind sich gedulden muss. Wichtig ist aber, dem Kind zu zeigen, dass seine Bedürfnisse wahrgenommen werden. Entweder können die Wünsche des Kindes direkt berücksichtigt werden, es können Alternativen entwickelt werden, oder es gilt, dem Kind altersgemäß zu erklären, warum etwas nicht geht. Ein Kind, das erlebt, dass seine Wünsche berücksichtigt werden, muss nicht ständig um Aufmerksamkeit kämpfen, es wird zufriedener und gelassener.

Ebenfalls zentral ist das Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit. Kinder wollen ihre Welt verstehen, und dies gelingt ihnen viel leichter, wenn andere Menschen ihnen die Welt erklären, Dinge beim Namen nennen und ihnen helfen, einzuordnen, was sie sehen. Es kommt ihrem Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit auch entgegen, wenn ihr Alltag eine gewisse Struktur und Regelmäßigkeit aufweist, die es ihnen ermöglicht, Abläufe zu durchschauen und sich auf diese einzustellen. Dazu gehört auch, dass das Kind Regeln und Grenzen kennen lernt und eine angemessene Konsequenz seiner Eltern erfährt ( siehe Beitrag: Konsequenz: Regeln und Grenzen). In diesem Zusammenhang ist es für ein Kind auch von Bedeutung, dass das Verhalten seiner Bezugspersonen vorhersehbar und berechenbar ist. Ein Erwachsener, der immer wieder aus unerfindlichen Gründen explodiert oder andere für das Kind nicht nachvollziehbare Gefühlsausbrüche zeigt, verunsichert das Kind. Auch das Verhalten der anderen Familienmitglieder zueinander beeinflusst das Sicherheitsgefühl des Kindes – je harmonischer und respektvoller der Umgang innerhalb der Familie ist, desto sicherer fühlt sich das Kind. Aus diesem Grunde ist es sinnvoll, Konflikte zwischen den Partnern möglichst nicht vor den Augen (oder Ohren!) des oder der Kinder auszutragen, insbesondere wenn sie noch zu klein sind, um zu verstehen, was vor sich geht.

Das Explorationsbedürfnis stellt den Gegenpart zu dem vorher genannten Bedürfnis dar. Kindern genügt das Vertraute alleine nicht, sie sind neugierig auf die Welt um sie herum, sie wollen sie kennenlernen, untersuchen und entdecken. Zu wenig Abwechslung und Explorationsmöglichkeiten führen zu Langeweile. Es gilt somit, Kindern Möglichkeiten anzubieten, die es ihnen erlauben, ihren Entdeckungsdrang in konstruktiver Form auszuleben, ihren Wissensdurst zu stillen und ihre Lernfähigkeit zu nutzen. Wie diese Angebote aussehen sollten, ist abhängig vom Alter und den Interessen des Kindes.

Kinder selbst nehmen einen wichtigen Einfluss auf ihre eigene Entwicklung: dadurch, dass sie sich für bestimmte Spiele besonders interessieren, manche Aktivitäten eher mögen als andere, sich bestimmten Menschen bevorzugt zuwenden oder ein bestimmtes Ausmaß an Zuwendung und Aufmerksamkeit von ihren Bezugspersonen einfordern. Kinder sind von Geburt an einzigartig und bringen ganz bestimmte Stärken aber auch Schwächen mit. Ihr Selbstaktualisierungsbedürfnis kennzeichnet den Wunsch, die eigenen Fähigkeiten und Stärken zu entwickeln, gemäß dem eigenen Temperament und den eigenen Bedürfnissen leben zu können.

Eltern stehen damit immer auch vor der Aufgabe, ihr Kind so zu akzeptieren, wie es ist, und es mit seinen Stärken und Schwächen anzunehmen, ohne den bestehenden Entwicklungsspielraum zu verkennen. Der Familie kommt so die Aufgabe zu, der Entwicklung der Stärken Raum zu geben bzw. sie zu fördern, wie auch Schwächen zu erkennen und eine zu einseitige Entwicklung auszugleichen.

Insgesamt ergeben sich somit vielfältige Möglichkeiten, wie die Familie die seelische Gesundheit von Kindern fördern kann. Darüber hinaus erleichtert es viele Erziehungssituationen, wenn der Blick auf die Bedürfnisse von Kindern gerichtet wird. Anstatt sich in einer bestimmten Situation z.B. darüber zu ärgern, dass ein Kind quengelt, wird die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, warum ein Kind quengelt. D.h. welche seiner Bedürfnisse gerade zu kurz kommen, und dieser Blickwinkel ermöglicht einen lösungsorientierten und konstruktiven Umgang mit der Situation.

Literatur
 

  • Becker, P. (1992). Seelische Gesundheit als protektive Persönlichkeitseigenschaft. Zeitschrift für Klinische Psychologie, 21, 64-75.
  • Becker, P. (1995). Seelische Gesundheit und Verhaltenskontrolle. Eine integrative Persönlichkeitstheorie und ihre klinische Anwendung. Göttingen: Hogrefe.
  • Becker, P. (1996). Zwei theoretische Rahmenmodelle zur Erklärung der aktuellen und habituellen körperlichen Gesundheit: Darstellung und empirische Überprüfung (Trierer Psychologische Berichte, Vol. 23 No. 4). Trier: Universität, Fachbereich I – Psychologie.
  • Becker, P., & Minsel, B. (Hrsg.). (1986). Psychologie der seelischen Gesundheit. Band 2: Persönlichkeitspsychologische Grundlagen, Bedingungsanalysen und Förderungs-möglichkeiten. Göttingen: Hogrefe.
  • Largo, R. H. (2001). Kinderjahre (4. Aufl.). München: Piper.
  • Mohr, A. (2000). Peer-Viktimisierung in der Schule und ihre Bedeutung für die seelische Gesundheit von Jugendlichen. Lengerich: Pabst.

Autorin
 

Dr. Andrea Mohr

erstellt am 19. März 2002, zuletzt geändert am 16. März 2010

 

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