Abziehen und Abzocken – Erpressung und Diebstahl unter Jugendlichen

Christine Kammerer
Kammerer

“Abziehen” und “Abzocken” sind verharmlosende Begriffe aus der Jugendsprache für eine Situation der Raubtat, wie sie im Folgenden beschrieben wird. Tatsächlich liegt Raub oder räuberische Erpressung vor, d. h. das sich Aneignen von Eigentum fremder Personen unter Gewaltandrohung oder -ausübung.

Erpressung und Diebstahl findet in erster Linie außerhalb des Schulhofs statt, da im schulischen Umfeld das Risiko für Täter relativ hoch ist, entdeckt zu werden. In der Regel handelt es sich dabei zunächst nicht um die klassischen Tatbestände, also das direkte Einfordern z. B. von Gegenständen. Dies geschieht normalerweise erst, wenn die Täter bereits eine längere Gewaltkarriere hinter sich gebracht haben. Einsteiger haben “Eröffnungsrituale” , die dazu dienen, durch Provokation ein potenzielles Opfer in eine bestimmte Richtung zu drängen, aus der das Opfer nicht mehr heraus kommt. Handy oder Geld fallen dabei zunächst eher als “Nebeneffekt” der Aktion ab.

Das Ritual

Es handelt sich selten um Einzeltäter. In der Regel treten die Täter in der Gruppe auf. Diese Gruppe hat zumeist feste Treffpunkte zum “Abhängen” , d. h. Warten auf ein potenzielles Opfer. Ziel der Täter ist, eine Situation herbeizuführen, aus der sie einen Grund konstruieren können, das Opfer anzugreifen. Mit einfachen Sprüchen wie “Hey Du, komm mal her!” oder “Hast Du mal ne Zigarette?” wird das Opfer zu einer Reaktion veranlasst. Es bleibt stehen und antwortet oder geht sogar zu der Gruppe, weil freundlich gefragt wurde. Doch auch das ist bereits Teil einer Strategie, die auf Seiten des Opfers zunächst kein Gefahrensignal entstehen lässt. Der Ton wird fordernder, schärfer, z. B. “Wir sind aber zu viert, wir brauchen vier Zigaretten” , “Gib mal die ganze Packung her!” und “Was hast Du denn sonst noch dabei?” Das Opfer wird dabei von der Gruppe eingekreist, so dass es sich aus der Situation, die es zunächst nicht als gefährlich wahrgenommen hat, jetzt aber als zunehmend bedrohlich erlebt, nicht mehr zurück ziehen kann.

Im nächsten Schritt beginnen Gruppenmitglieder mit Übergriffen wie Schubsen, zunächst, um an der Reaktion des Opfers zu testen, ob Widerstand zu erwarten ist. Auch wenn Widerstand erfolgt, wird das Schubsen fortgesetzt. Es folgen Schläge und Tritte bis hin zur Bodenlage, also so weit, dass man das Opfer tatsächlich zu Boden zwingt, dort weiter malträtiert und schließlich ausraubt. Dabei werden bevorzugt Geld und Gegenstände wie Handy, Zigaretten und Bekleidung “abgezogen” .

Die Situation kann auch durch direkte Provokation des Opfers durch den/die Täter herbei geführt werden, zum Beispiel mit Sätzen wie “Was guckst Du?” . Ziel dieser Strategien ist, das Opfer in die Ecke zu drängen, entweder indem es zum Stehen bleiben gezwungen und dann umzingelt oder indem es in eine Zwickmühlensituation gebracht wird.

Die Zwickmühle

Das “Abziehen” appelliert insbesondere bei männlichen Kindern und Jugendlichen an Ehrgefühl und Männlichkeitsstolz. Es fällt dem potenziellen Opfer aufgrund des entweder freundlich vorgetragenen oder provokativen Appells schwer, sich der Situation zu entziehen, indem es nicht reagiert. Ein vom Konfliktverhalten eher ängstliches und auf “Flucht” programmiertes Opfer wird zum Beispiel antworten: “Ich hab doch gar nicht geguckt” und wird dann mit der Antwort: “Ich hab das doch gesehen, willst Du etwa behaupten, dass ich lüge?” konfrontiert. Es wird weiter defensiv antworten, zum Beispiel: “Nein, nein, Du lügst nicht!” und ist damit bereits in der Zwickmühle, denn der Aggressor wird nun sagen: “Also hast Du mich doch angeschaut?” Das Opfer hat in keinem Fall eine Chance, sich argumentativ aus der Affäre zu ziehen. Alles, was es nun sagt oder tut, wird ganz bewusst gegen das Opfer eingesetzt. Eine aggressivere Reaktion des Opfers könnte zum Beispiel so aussehen, dass dieses auf eine Provokation hin selbst ausfallend oder beleidigend wird und sich vielleicht sogar auf der Körperebene, zum Beispiel durch Schubsen wehrt, weil ihm der oder die Täter zu nahe kommen. Damit erteilt das Opfer den Tätern jedoch nur die gewünschte Rechtfertigung für das weitere Ritual des Schlagens und Tretens.

In der Regel kennen Täter und Opfer sich weitläufig vom sehen, wissen u. U., wo der andere wohnt, wo er verkehrt. Sie benutzen evtl. die gleichen Verkehrsmittel, treffen sich an Knoten- bzw. Umsteigehaltestellen, zum Beispiel nach Schulschluss, wenn sich Schüler unterschiedlicher Schulen an bestimmten Haltestellen treffen. Solche Situationen können sich auch in der Freizeit ergeben, zum Beispiel wenn Opfer und Täter sich schon mehrfach auf dem Sportplatz begegnet sind. Das ist insbesondere für die Konsequenzen relevant, die das Opfer aus einer derartigen Gewaltsituation zieht.

Die Opfer

Gewalt bedeutet aus Opferperspektive immer körperliche und seelische Verletzungen, Leiden an den Folgen bis zur Traumatisierung und häufig wird ihnen auch Schuld oder Mitschuld an der Gewalttat zugeschrieben bzw. die Opfer geben sich selbst die Schuld am Geschehen.

Opfer des “Abziehens” kann grundsätzlich jedes Kind, jeder Jugendliche werden. Es scheint verschiedene Eigenschaften zu geben, aufgrund deren einige Kinder gefährdeter sind als andere. So sind es häufig körperlich unterlegene Kinder, die in den ersten drei Lebensjahren schwach ausgeprägte Ärgeremotion, Aggression und Trotz zeigen und als eher inaktiv, ruhig und “pflegeleicht” gelten sowie ängstlich-unsicheres Verhalten und Empfindlichkeit zeigen.

Warum die hohe Dunkelziffer?

Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalttaten wurden, schweigen sich sehr häufig darüber aus und zwar mit gutem Grund: Opfer werden (laut Selbst- und Fremdbericht) eher abgelehnt und weniger sozial akzeptiert als, Kinder, die nicht zu Opfern abgestempelt wurden. Opfer sein gilt in unserer Gesellschaft als Ausgrenzungskriterium. An den Opfern haftet der Makel der Schwäche, sie werden als Verlierer wahrgenommen und sehen sich auch selbst so. Auch Erwachsene gestehen sich häufig nicht ein, wenn sie Opfer geworden sind und setzen sogar oft mit ihrer Erwartungshaltung, mit Anklagen oder Schuldzuweisungen ihr Kind so unter Druck, dass dieses bewusst über seine Situation schweigt oder die Unwahrheit berichtet. Beispielhaft wäre hier zu nennen der Kommentar eines Vaters, der so auf seinen Sohn reagiert, indem er ihn fragt, warum er sich nicht gewehrt habe und ihm vorhält, dass das nicht passiert wäre, wenn er das und das gemacht hätte.

Hinzu kommt die Angst vor den, wenn auch nur weitläufig bekannten Tätern, denen das Kind unter Umständen regelmäßig begegnet. Diese setzten natürlich alles daran, anonym zu bleiben. Hierzu dient auch die so genannte “Folgedrohung” , für den Fall, dass das Opfer sich offenbaren sollte und andere Formen der Einschüchterung. Kinder und Jugendliche wählen aus Angst, Peinlichkeits- und Schuldgefühlen und aus Unwissenheit sehr häufig die Alternative zur Offenbarung und die besteht darin, sich in einen Kreislauf der Gewalt zu begeben. Die Täter fordern nun zum Beispiel immer höhere Geldbeträge, so lange, bis das Opfer den Forderungen nicht mehr nachkommen kann und beginnt, die eigenen Eltern, Geschwister oder Freunde zu bestehlen, nur um draußen das Wegegeld bezahlen zu können. Die Täter dagegen erkennen im Opfer sehr schnell ein “erfolgreiches Modell” . Sie erleben, dass sich das Opfer nicht wehren kann oder will und so entwickelt sich aus diesem Kreislauf eine Spirale in deren Verlauf sich Quantität der Forderungen und Qualität der Gewaltanwendung steigern.

Die Täter

Die Anwendung von Macht oder Gewalt hat vor allem einen kompensatorischen Aspekt – sie wird als Mittel eingesetzt, Defizite wie fehlendes Selbstwertgefühl auszugleichen, indem andere erniedrigt und fertig gemacht werden. Konfrontiert mit der Tat reagieren die Täter zunächst fast immer entschuldigend: Sie wälzen die Schuld auf das Opfer ab oder bagatellisieren den Vorfall. Auch bei Tätern lassen sich mit einiger Wahrscheinlichkeit gemeinsame Merkmale in den ersten drei Lebensjahren finden: Sie sind körperlich überlegen und zeigen stark ausgeprägte Ärgeremotionen, Aggressionen und Trotz, sie gelten als überaktiv, unruhig, anstrengend und schwierig, zeigen furchtlos-risikoreiches Verhalten und “Rauhbeinigkeit” .

Als Menschen, die sich selbst schwach und unbeachtet fühlen, suchen solche Täter Beachtung. Es geht dabei zunächst um Ausübung von Macht, das Erleben und Genießen des Gefühls von Macht. Erst in zweiter Linie treten beim “Abziehen” ökonomische Aspekte hinzu. Im Laufe einer solchen Täterkarriere kann jedoch der Aspekt der Machtausübung in den Hintergrund treten und zunehmend durch den wirtschaftlichen Aspekt ersetzt werden. Der Täter bzw. die Gruppe erleben sich als “erfolgreich” , es geht ihnen gut, ihr Handeln zieht dauerhaft keine Konsequenzen nach sich und sie machen auch die Erfahrung, dass sie so ihre Konsum-Bedürfnisse befriedigen können.

In der Gruppe geben sich die Täter gegenseitig Halt, Schutz und Stärke. Sie haben häufig den gleichen Hintergrund: in der Regel liegen innerfamiliäre Probleme vor, die Kinder oder Jugendlichen finden keinen Halt in ihren Familien, sie sind richtungslos und verfügen nicht über moralische Grundwerte etc. Die Beteiligten erfahren in der Gruppe das, was sie alleine nicht finden: Familie, Gemeinschaft und Anerkennung. Sie erleben in der Gruppe Gefahr und Abenteuer und befriedigen so ihre Suche nach Reizen.

Das “Abziehen” war zunächst eine Domäne männlicher Kinder und Jugendlicher wird aber zunehmend auch von Mädchen ausgeübt.

Warum ist das “Abziehen” für Jugendliche so attraktiv?

In den wenigsten Fällen ist die Anwendung von Gewalt “sinnlos” , auch wenn es uns auf den ersten Blick so erscheinen mag. Jugendliche machen damit auf sich aufmerksam, sie benützen Gewalt als Mittel zur Selbstinszenierung. In einem falsch verstandenen Rollenverständnis, das jedoch von den Medien massenhaft so vermittelt wird, sehen gerade männliche Jugendliche Gewaltanwendung als Männlichkeitsbeweis. Das “Abziehen” verschafft ihnen willkommene Reize und Nervenkitzel in der Langeweile und Eintönigkeit des Alltags. Häufig handeln Jugendliche aus dem Gefühl heraus, selbst “Opfer” der Gesellschaft zu sein – sie verschaffen sich das, was ihnen aus ihrer Sicht zusteht: Anerkennung, Selbstverwirklichung und materiellen Wohlstand. Ursachen dafür können sein, dass sie das Gefühl haben, “nicht dazu zu gehören” , emotionale Ausgrenzung erfahren, sich nicht akzeptiert fühlen oder dass sie glauben, keine beruflichen Perspektiven zu haben und damit von echten Chancen auf Wohlstand ausgegrenzt zu sein. Kinder und Jugendliche haben ein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Anerkennung und Selbstbestätigung. Beim Fehlen von zeitlich absehbaren und subjektiv als realistisch eingestuften Perspektiven kommt es zu Versagenserlebnissen und Niederlagen.

Und – wie durch zahlreiche Medien, aber auch durch das politische Geschehen vermittelt – die Regeln der Gewalt sind faszinierend einfach: Gewalt schafft Klarheit und Eindeutigkeit, es gibt Sieger und Besiegte, sie ist ein Mittel, um Ziele zu erreichen und Interessen durchzusetzen und sie kann kurzfristig dabei helfen, die eigene Ohnmacht zu überwinden. Zum Ritual des “Abziehens” gehört auch das Tabu – die Täter können meist davon ausgehen, dass die Opfer schweigen. Das schafft Fakten, welche die weiteren Begegnungen zwischen Opfer und Täter bestimmen. Die Täter sichern ihre Vorteile durch den Bann des Schweigens ab und handeln im Wissen, dass sie keine Konsequenzen zu erwarten haben. Damit ist das “Abziehen” eine (scheinbar) sehr effektive Form von Gewaltanwendung. Potentielle Kritiker werden eingeschüchtert, denn auch ihnen droht Gewalt.

Was können Eltern tun?

Vermitteln Sie Ihren Kindern einen sicherheitsbewussten Umgang mit Geld, achten Sie auf Unregelmäßigkeiten, zum Beispiel, wenn das Kind häufiger Geld oder andere Gegenstände “verliert” , dann könnte Erpressung im Spiel sein. Geben Sie dem Kind keine größeren Geldbeträge oder Wertgegenstände mit in die Schule und notieren Sie die Individualnummer des Handys: Jedes Handy hat eine so genannte “IMEI-Nummer” , die nach Eingabe der Codierung: Stern, Raute 06 Raute, auf dem Display erscheint. Diese Nummer ist nicht an die Karte gebunden, sondern an das Gerät. Sie wird permanent gesendet, wenn das Gerät in Betrieb genommen wird, also auch dann, wenn die Karte ausgetauscht wurde. Damit lässt sich das Gerät nicht nur orten, sondern es ist auch nachvollziehbar, welche Gespräche damit geführt wurden. Auf diese Weise kann der derzeitige Nutzer des Handys identifiziert werden. Zu diesem Zweck sollte die Nummer notiert und zu Hause hinterlegt werden.

Erkunden Sie mit Ihrem Kind “Rettungsinseln” auf dem Schulweg bzw. anderen regelmäßig zurück gelegte Strecken, z. B. um im Notfall Menschen anzusprechen. Geeignete Fluchtorte sind alle Orte, an denen Menschen anzutreffen sind wie Bushaltestellen und Geschäfte. Geschäfte sind für Täter fremdes Territorium, d. h. es besteht eine Hemmschwelle, in das Geschäft nachzufolgen. Das Kind ist dort in Sicherheit und kann etwas unternehmen, zum Beispiel indem es auf die Notsituation aufmerksam macht und darum bittet, die Polizei zu rufen oder die Eltern anrufen zu dürfen.

Wenn ein konkreter Verdacht auf Diebstahl oder Erpressung vorliegt, nehmen Sie ggf. Hilfsangebote wie Erziehungsberatung oder schulpsychologische Dienste, Jugendhilfe etc. in Anspruch. Eine einfühlsame, vertrauensvolle Atmosphäre hilft Kindern, über das Geschehene zu sprechen. Gehen Sie mit größtmöglicher Ruhe und Überlegung vor und vermeiden Sie gegenüber Ihrem Kind Schuldzuweisungen und Vorwürfe. Besprechen Sie mit dem Kind, wie es sich am Besten verhalten kann, also zum Beispiel sich nicht “freizukaufen” durch Süßigkeiten oder Geld, mögliche Orte der Gewalt zu umgehen oder Schutz von Erwachsenen, Freunden in Anspruch zu nehmen, auf keinen Fall aber selbst Gewalt anzuwenden. Beim Vorliegen von Straftatbeständen wie z. B. Nötigung oder Raubdelikten sollte in jedem Falle Anzeige erstattet werden. Gespräche mit den Eltern des Täters oder dem Täter selbst sollten immer auf neutralem Boden, zum Beispiel in der Schule, und im Beisein Dritter stattfinden.

Was kann man Kindern und Jugendlichen mit auf den Weg geben?

Das einzig richtige Verhalten bei einfachen, noch auf niedriger Ebene statt findenden Provokationen oder Appellen: Ignorieren und räumlich Distanz herstellen, nicht stehen bleiben und sich auf keinen Fall in eine unklare Situationen begeben.

Verhaltensregeln:

  • Sich nicht provozieren lassen, verbale Attacken ignorieren.
  • Keine Provokation des Gegenübers, keine herablassenden oder arroganten Gesten oder Worte.
  • Nicht die Stimme erheben oder gar drohen.
  • Versuchen, möglichst ruhig und entspannt zu wirken, ruhig und leise mit dem Gegenüber sprechen, Sicherheit ausstrahlen.
  • Keine Konfrontation suchen, unter allen Umständen sachlich und höflich bleiben.
  • Ausweichen, wenn die Möglichkeit zur Flucht gegeben ist, fliehen.
  • In einer Notsituation auf sich aufmerksam machen durch lautes Schreien, Fremde zur Hilfeleistung auffordern.
  • Nachgeben, wenn Gegenwehr aussichtslos erscheint, zum Schein auf die Forderungen eingehen und eine weitere Zusammenkunft vereinbaren.
  • Rachebeteuerungen nicht beachten.
  • Das Gegenüber nicht in die Ecke drängen, immer einen Fluchtweg offen lassen.
  • Keinen andauernden Augenkontakt.
  • Dem Gegenüber nicht den Rücken zuwenden.
  • 110 alarmieren.

Auf keinen Fall sollte das Kind Waffen (Messer, Reizgas o. ä.) mit sich führen: Der Umgang mit Waffen birgt immer auch Risiken für die eigene Person und kann die Situation im Konfliktfall gefährlich eskalieren lassen. Es besteht zudem die Gefahr, dass der Täter dem Opfer die Waffe entreißt und sie gegen ihn richtet. Insbesondere bei männlichen Jugendlichen sollte man solchen Allmachtsphantasien entgegenwirken, z. B. wenn diese glauben, sich gegen jemanden mit einer Waffe verteidigen zu können.

Was passiert mit dem Täter?

Kinder unter 14 Jahren sind schuldunfähig. Bei Tatverdacht werden die Eltern bzw. die Sorgeberechtigten verständigt. Es können im Wiederholungsfalle oder bei schweren Vergehen Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe ggf. unter Einschaltung des Familiengerichts zur Anwendung kommen. Für Personen- oder Sachschäden können bereits Kinder ab acht Jahren sowie unter Umständen auch ihre Sorgeberechtigten z. B. durch Schmerzensgeld oder Schadenersatz zivilrechtlich haftbar gemacht werden.

Personen zwischen 14 und unter 18 Jahren sind im Sinne des Strafrechts grundsätzlich verantwortlich. Das Strafverfahren gegen jugendliche Tatverdächtige richtet sich nach dem Jugendgerichtsgesetz, das den Erziehungsgedanken in den Vordergrund stellt und Freiheitsstrafe nur als äußerste Maßnahme vorsieht. Höhe und Schärfe strafrechtlicher Sanktionen haben nach kriminologischer Erkenntnis keinen positiven Einfluss auf die Resozialisierung und das Vermeiden von Rückfälligkeit.
Täter-Opfer-Ausgleich oder Diversion

Einstellung des Verfahrens ohne Urteil zugunsten anderer Maßnahmen mit dem Ziel der Konfliktschlichtung, Wiedergutmachung (z. B. durch unbezahlte Arbeit, deren Lohn auf das Konto des Geschädigten fließt) und Auseinandersetzung des Täters mit der Situation des Opfers. Beim Jugendstrafrecht geht es gerade nicht um Vergeltung oder um Schuldausgleich, sondern einzig und allein um die Frage: Mit welchen Mitteln kann der Staat sehr junge Straftäter von weiteren Taten abhalten? Wie kann er sie in die Gesellschaft zurückholen?

Damit möglichst wenige Jugendliche endgültig verloren gehen, gaben die Schöpfer des deutschen Jugendstrafrechts dem Richter die Handhabe, eine Vielzahl an Maßnahmen anzuordnen, die erzieherisch wirken sollen und tatsächlich in den allermeisten Fällen auch wirken. Dazu gehört neuerdings auch der Täter-Opfer-Ausgleich: Der Täter muss sich mit dem Opfer und dem Leid, das er ihm zugefügt hat, in Gegenüberstellungen und in Gesprächen befassen. Eine solche Konfrontation ist für manchen Halbwüchsigen qualvoller als ein kurzer Freiheitsentzug, durch den er sich der Anstrengung des Nachdenkens enthoben fühlt.

Auch oder gerade ein Kind, das im Verdacht steht, aktiv an einem Gewaltdelikt beteiligt zu sein, braucht besondere Zuwendung. In diesem Sinne sollte bei minderjährigen Tätern der Hauptaspekt weniger auf der Bestrafung liegen, sondern in der Reintegration. Hier haben sich das Anti-Aggressionstrainings und/oder die Psychotherapie und andere Maßnahmen zur Stärkung des Selbstbewusstseins bewährt.

Hinweis: Das Phänomen des “Abziehens” ist wissenschaftlich bislang kaum erforscht und dokumentiert. Der Beitrag beruht insofern hauptsächlich auf dem umfangreichen und sachlich fundierten Erfahrungswissen polizeilicher Präventionsstellen.

Literatur

  • CD Konflikte XXL, Hg. (2002): Institut für Friedenspädagogik Tübingen e. V., Bundeszentrale für politische Bildung
  • Eingreifen in kritischen Situationen ohne Körpereinsatz. In: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.)(1994): Aktuelle Gewaltentwicklung in der Gesellschaft – Vorschläge zur Gewaltprävention in der Schule. Soest, S. 251
  • Gabriel, Gabriele; Holthusen, Bernd, Schäfer, Heiner: Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität – Eine pädagogische Herausforderung. In: forum kriminalprävention 2/2002, S. 16 f.
  • Günther Gugel (1996): Wir werden nicht weichen. Erfahrungen mit Gewaltfreiheit. Eine praxisorientierte Einführung. Tübingen, S. 161
  • Michael Grüner (1997): Gewalt in der Schule ­ Arbeiten im Einzelfall und im System. In: Wolfgang Vogt (Hrsg.): Gewalt und Konfliktbearbeitung: Befunde – Konzepte – Handeln. Baden-Baden, S. 180
  • Rückert, Sabine: Wie man in Deutschland kriminell wird, In: Die Zeit vom 22.01.04
  • Wird man als Opfer oder Täter geboren? In: Sackgasse Gewalt? Erziehung, Prävention, Auswege, Lösungen. Dokumentation zur Fachtagung vom 04.07.2002, Bonn, S. 8

Autorin

Christine Kammerer, Politologin M.A.,  Freie Autorin und Publizistin, Arbeitsschwerpunkte: Politik und Gesellschaft, Bildung und Wissen, Pädagogik und Psychologie, Migration und Integration.

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Christine Kammerer
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Erstellt am 23. März 2004, zuletzt geändert am 10. März 2010

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