Bindung im Kindesalter

Dr. Karen Strohband
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Der Begriff der Bindung taucht immer häufiger in der allgemeinen Presse und in der Fachliteratur zur Entwicklung von Kindern auf – oft mit ganz unterschiedlicher Bedeutung.

  • Was aber ist Bindung?
  • Gibt es eine gute Bindung, eine zu enge Bindung oder gar Bindungsunfähigkeit?
  • Wie zeigt sie sich im Alltag und wie wirkt sie sich auf die Entwicklung meines Kindes aus?
  • Verändert sie sich bei Übergängen wie dem Kindergarteneintritt?

Der nachfolgende Artikel gibt einen kurzen Überblick über die Bindungstheorie sowie über ausgewählte aktuelle Forschungsbefunde zur Bindung bei Kindergartenkindern.

Was ist Bindung?

Anfang der 70er Jahre entwickelte der englische Kinderpsychiater John Bowlby die Bindungstheorie (Bowlby, 1969, 1973, 1980). Er ging davon aus, dass Kleinkinder ab circa einem Jahr in neuen oder bedrohlichen Situationen Verhaltensweisen wie z.B. weinen, rufen, anklammern oder nachfolgen zeigen und darüber versuchen Nähe zu einer wichtigen Bezugsperson herzustellen. In den meisten Fällen ist diese wichtige Bezugsperson die Mutter; aber auch Väter, Großeltern oder andere Personen, die eine enge Beziehung zum Kind aufbauen, kommen in Frage. Entsprechend hat das Weinen eines kranken Kindes zum Ziel, dass die Mutter in seiner Nähe bleibt und das Anklammern ans Hosenbein des Vaters unter fremden Menschen gibt Sicherheit. Dieses Verhalten nannte Bowlby Bindungsverhalten. Er ging davon aus, dass Bindungsverhalten angeboren ist, da es für das Kleinkind in gefährlichen Situationen Schutz durch vertraute Erwachsene bietet und damit wichtig für sein Überleben ist.

Zusätzlich zum Bindungsverhalten nahm Bowlby an, dass es noch eine weitere Gruppe von Verhaltensweisen gibt, die abwechselnd mit dem Bindungsverhalten auftreten und von den Kindern dann gezeigt werden, wenn sie sich sicher fühlen. Dieses Verhalten bezeichnete Bowlby als Explorationsverhalten und meinte damit das neugierige Auskundschaften und Erkunden der Umgebung, eine wichtige Voraussetzung für das Lernen und die Entwicklung des Kindes. Nach diesem Modell suchen Kinder immer dann die Nähe zur Mutter, zum Vater oder zu einer anderen wichtigen Bezugsperson, wenn sie unsicher sind oder sich unwohl fühlen. Wenn sie dagegen sicher sind und sich wohl fühlen, bewegen sie sich weg und erkunden ihre Umgebung. Beide Verhaltensweisen stehen im ständigen Wechsel, wobei die erwachsene Bezugsperson als”sichere Basis“genutzt wird. Man kann sich dies wie in Abbildung 1 dargestellt, ähnlich einer Wippe vorstellen: fühlt sich das Kind sicher und vertraut, so steigt sein Explorationsverhalten an und das Bindungsverhalten sinkt. Fühlt es sich unsicher oder ängstlich, so steigt sein Bindungsverhalten, d.h. Nähe- und Kontaktsuchen an und das Explorationsverhalten lässt nach.

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Abb. 1 Voraussetzungen für Explorations- und Bindungsverhalten

Unterschiedliche Bindungsmuster bei Kleinkindern

Die Kanadierin Mary Ainsworth untersuchte zusammen mit ihren Forscherkollegen die beschriebene Bindungstheorie von Bowlby, indem sie das Bindungsverhalten von einjährigen Kindern mit ihren Müttern beobachtete (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978). Nachdem sie lange Feldbeobachtungen von Müttern und Kindern in natürlicher Umgebung gemacht hatte, entwickelte sie eine standardisierte Verhaltensbeobachtung in einem Spielzimmer, wie sie in Beratungsstellen üblich sind. Durch eine kurze Trennung von der Mutter, welche für die einjährigen Kinder in der unbekannten Umgebung des Spielzimmers eine Belastung darstellte, sollte Bindungsverhalten ausgelöst werden. In Anwesenheit der Mutter dagegen sollten die Kinder sich sicher fühlen und in der Lage sein, die Umgebung zu erkunden. Es zeigte sich, dass nicht alle Kinder den erwarteten Wechsel zwischen ausgeprägtem Bindungs- und Explorationsverhalten in der standardisierten Verhaltensbeobachtung mit ihren Müttern zeigten. Insgesamt fanden Mary Ainsworth und ihre Kollegen drei unterschiedliche Gruppen von Kindern.

Bei einer Gruppe zeigte sich genau das von Bowlbys Theorie vorhergesagte Wechselspiel zwischen Nähe suchen und Erkundung, das heißt die Kinder nutzten ihre Mutter als “sichere Basis” . Diese Gruppe von Kindern wurde”sicher“genannt. Bei den beiden anderen Gruppen schien jeweils entweder das Bindungsverhalten oder das Explorationsverhalten besonders ausgeprägt vorhanden zu sein. So gab es Kinder, die sich sehr stark mit der Erkundung ihrer Umgebung und vorhandenen Spielsachen beschäftigten, wenig unter einer Trennung von der Mutter zu leiden schienen und beim Wiedersehen mit der Mutter kaum Nähe und Kontakt zu dieser suchten. Da diese Kinder den Körper- und Blickkontakt zur Mutter vermieden, wurden sie als”vermeidend“bezeichnet. Im Gegensatz dazu gab es aber auch Kinder, die kaum Explorationsverhalten zeigten und vor allem damit beschäftigt waren, die Nähe und den Kontakt zur Mutter aufrecht zu erhalten. Diese Kinder litten sehr stark unter einer Trennung und suchten nach einer Trennung engen Kontakt zur Mutter, während sie gleichzeitig Wut und Ärger gegen die Mutter zeigten. So streckten sie zum Beispiel die Arme aus, um hoch auf den Arm der Mutter genommen zu werden, schmiegten sich dann aber nicht an diese an, sondern stießen sich von der Mutter weg. Teilweise verhielten sie sich auch passiv und weinten trotz Nähe der Mutter. Diese Kinder waren oft kaum in der Lage sich von der Mutter zu lösen und die Umgebung zu erkunden oder zu spielen. Bedingt durch das teilweise widersprüchliche Verhalten von Nähe suchen und Wut und Ärger zeigen, wurden diese Kinder als”ambivalent“bezeichnet.

Die folgende Graphik veranschaulicht noch einmal die Einordnung der drei Gruppen zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten.

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Abb. 2 Bindungsgruppen zwischen Explorations- und Bindungsverhalten

Zusammenhänge mit dem Verhalten der Mütter

Bei Hausbesuchen in den Familien während des ersten Lebensjahres der Kinder stellten Ainsworth und ihre Kollegen fest, dass sich nicht nur die Kinder sondern auch ihre Mütter unterschiedlich verhielten. Die Mütter der Kinder mit “sicherer” Bindung gingen einfühlsam und feinfühlig auf das Bindungsverhalten ihrer Kinder ein und gewährten ihnen Nähe und Schutz, wenn diese dies brauchten. Gleichzeitig unterstützten sie entwicklungsangemessen ihre Kinder beim Erkunden der Umwelt. Mütter von Kindern mit “vermeidender” Bindung wehrten das Bedürfnis ihrer Kinder nach Nähe und Kontakt in neuen Situationen oder in Situationen in denen sich ihre Kinder unwohl fühlten, häufig ab und gaben selbst an, dass ihnen enger Körperkontakt eher unangenehm sei. Die Kinder schienen sich dem anzupassen, indem sie ihre Aufmerksamkeit vermehrt auf ihre Sachumwelt und weniger auf den Kontakt zur Mutter legten.

Die Mütter der Kinder mit “ambivalenter” Bindung reagierten unterschiedlich. Mal gingen sie feinfühlig auf die Bindungsbedürfnisse ihrer Kinder ein, mal wiesen sie sie zurück. Da die Kinder sich dementsprechend nie sicher sein konnten, wann ihre Mutter wie reagierte, richteten sie vermehrte Aufmerksamkeit auf den Kontakt zur Mutter und zeigten verstärktes Bindungsverhalten, um sich der Nähe zur Mutter und deren Schutz im Notfall sicher sein zu können. Je nach Verhalten der Mütter entwickelten die Kinder also unterschiedliche Strategien und passten ihr Bindungs- und Explorationsverhalten entsprechend an.

Die Entdeckung einer weiteren Bindungsgruppe

In weiteren Studien wurde neben den drei beschriebenen Gruppen noch eine vierte zusätzliche Gruppe von Kindern entdeckt (Main & Solomon, 1986). Sie kam vor allem in Stichproben mit vielen Risikofaktoren häufiger vor. Die Kinder dieser weiteren Gruppe zeichneten sich dadurch aus, dass sie während der Beobachtung kurze Momente zeigten, in denen sie weder Bindungsverhalten noch Explorationsverhalten an den Tag legten. In diesen Momenten wirkten die Kinder wie erstarrt, führten begonnenes Verhalten nicht zu Ende oder zeigten gleichzeitig oder kurz hintereinander widersprüchliches Verhalten. So rannte ein Kind nach einer Trennung zum Beispiel auf die Mutter zu, blieb dann aber plötzlich stehen und starrte ins Leere. Diese Gruppe von Kindern wurde, da sie für kurze Zeit keine organisierte Verhaltensstrategie aufwiesen, als”desorganisiert“bezeichnet. Es wird vermutet, dass diese Form von Verhalten bei den Kindern dadurch entsteht, dass ihre erwachsene Bezugsperson entweder bei den Kindern Angst auslöst oder selbst in der entsprechenden Situation ängstlich reagiert. Angst einflößendes oder ängstliches Verhalten der Bezugsperson bringt Kinder, die sich auf der Suche nach Schutz an diese wenden, in eine unlösbare Situation und führt so möglicherweise zu den beobachteten kurzen Momenten desorganisierten Verhaltens, da die Kinder keine Strategie haben, um damit umzugehen.

Die Verteilung der Bindungsgruppen in Deutschland

In diversen Studien wurde weltweit untersucht, wie häufig die einzelnen Bindungsgruppen bei Kleinkindern vorkommen. In Deutschland wurden dabei circa 45 % der Kinder als “sicher” , 28 % der Kinder als “vermeidend” , 7 % der Kinder als “ambivalent” und 20 % der Kinder als “desorganisiert” eingestuft (vgl. Gloger-Tippelt, Vetter & Rauh, 2000).

Bindung im Kindergartenalter

Die bisher beschriebenen Verhaltensweisen der Kinder wurden vor allem im Alter von 1 bis 1 ½ Jahren beobachtet. Bindungsverhalten zeigt sich aber auch bei älteren Kindern, wenngleich bedingt durch den höheren Entwicklungsstand der Kinder teilweise in abgewandelter Form (Marvin & Greenberg, 1982). So benötigen Kinder im Kindergartenalter nicht mehr durchgängig die körperliche Anwesenheit der Bindungsperson, um sich sicher zu fühlen, sondern sind in der Lage auf eine verinnerlichte “sichere Basis” zurückzugreifen. Durch ihre verbesserten Fähigkeiten zur Fortbewegung können sie selbständig die Nähe zur Bindungsperson suchen und aufrecht erhalten, aber andererseits auch verstärkt ihre Umwelt erkunden. Ab einem Alter von vier Jahren ist es den Kindern darüber hinaus zumeist möglich, neben ihren eigenen Gefühlen, Zielen und Bedürfnissen auch die Gefühle, Ziele und Bedürfnisse einer anderen Person in ihre Gedanken mit einzubeziehen und sich darüber auszutauschen. Dadurch wird es möglich, dass unterschiedliche Vorstellungen verhandelt werden können.

Steht z.B. bei einem vierjährigen Kind eine vorübergehende Trennung von der Mutter an, wird es möglicherweise protestieren und die Mutter begleiten wollen, um in der Nähe der Mutter zu bleiben. Gleichzeitig kann es jedoch auch den Wunsch der Mutter verstehen, z.B. alleine zum Zahnarzt zu gehen und das Kind in Obhut eines Babysitters zu lassen, und ist in der Lage, nach kurzer Rücksprache mit der Mutter ohne größere Probleme die Trennung auf Zeit akzeptieren. Bei solchen Verhandlungen können im Kindergarten- und Vorschulalter die verbesserten Möglichkeiten des Kindes sich selbst zu schützen und zu beruhigen, Zeitpunkte einzuschätzen (z.B. nach dem Mittagessen) und bei veränderten Umständen auf veränderte Verhaltensweisen zurückzugreifen (z.B. “wenn Du Angst hast, ruf mich an” ) genutzt werden.

Ähnlich wie im Kleinkindalter lassen sich auch im Kindergartenalter verschiedene Gruppen von Bindungsmustern finden, wenngleich einzelne Kinder auch Verhaltensweisen aus unterschiedlichen Mustern zeigen können (Cassidy & Marvin, 1992). Die nachfolgend beschriebenen Gruppen geben daher nur einen groben Überblick. Kinder der “sicheren” Gruppen verhandeln über ihre Wünsche und Bedürfnisse nach Nähe und Erkundung der Umwelt, ohne dabei Angst zu haben, von ihrer Bindungsperson verlassen zu werden, wenn diese anderen Wünschen als denen des Kindes nachgeht. Kinder der “vermeidenden” Gruppe legen die Aufmerksamkeit weniger auf die Beziehung als vielmehr auf das Spielzeug und sachbezogene Aktivitäten. Sie zeigen ihr eigenes Bedürfnis nach Nähe zur Bezugsperson eher selten und wirken unabhängig und selbständig. Kinder der “ambivalenten” Gruppe betonen auch im Kindergartenalter die Beziehung und wirken oft sehr anhänglich. Sie versuchen entweder über hilfloses oder über ärgerliches Verhalten ihre Bezugsperson an sich zu binden und sind oft nur schwer in der Lage einen Kompromiss bezüglich Trennungen auszuhandeln. Kinder mit “desorganisiertem” Bindungsmuster zeigen im Kindergartenalter zum Teil eine Art Rollenumkehr und versuchen durch bestimmendes oder betont fürsorgliches Verhalten die Kontrolle über unerwartetes oder Angst auslösendes Verhalten ihrer Bezugspersonen in Schutz und Sicherheit erfordernden Situationen zu erlangen.

Beobachten lässt sich Bindungsverhalten bei Kindergartenkindern im Alltag in Situationen, in denen das Bindungssystem der Kinder aufgrund von Belastung, Krankheit, Müdigkeit, Streit mit anderen, Unsicherheit oder Angst aktiviert ist.

Bindung und Kindergarteneintritt

Der Eintritt in den Kindergarten, der für viele Kinder aufgrund der fremden Umgebung, den fremden Kindern und Erwachsenen, den neuen Regeln etc. zunächst mit großer Unsicherheit und damit einem verstärkten Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz verbunden ist, stellt eine Situation dar, in der sich individuelle Unterschiede im Bindungsverhalten ebenfalls gut beobachten lassen. Es gibt Kinder, die sich enthusiastisch auf die neuen Spielmöglichkeiten stürzen und ihre Eltern dabei zu vergessen scheinen, andere Kinder, die sich erst langsam an die neue Situation gewöhnen und zwischendrin Rückversicherung suchen und wieder andere Kinder, die sich nur schwer oder gar nicht von den Eltern lösen wollen. Dies sind nur einige Beispiele, da sich je nach Bindungsgeschichte z.B. durch Vorerfahrung mit Fremdbetreuung und Belastungsgrad der Situation für einzelne Kinder ganz unterschiedliche Verhaltensweisen zeigen können. Viele Eltern machen sich in dieser Zeit auch Sorgen, dass sich der Eintritt in den Kindergarten negativ auf die Beziehung zu ihrem Kind auswirken könnte. Studien weisen jedoch darauf hin, dass qualitativ hochwertige Fremdbetreuung die Eltern-Kind-Bindung nicht beeinträchtigt (z.B. NICHD, 1997).

Bindung zu Vätern, Großeltern, Erzieherinnen

Die meisten Forschungsstudien zur Bindung wurden bisher mit Kindern und ihren Müttern durchgeführt, aber es gibt auch Studien, die die Bindung der Kinder zu ihren Vätern (z.B. Grossmann & Grossmann, 2004) oder zu weiteren Bezugspersonen wie z.B. Erzieherinnen in Kinderkrippen oder Kindergärten untersuchten (z.B. Howes & Hamilton, 1992). Bei unterschiedlichen Bezugspersonen kann das Bindungsverhalten der Kinder dabei durchaus unterschiedlich sein. So kann ein Kind, welches zusammen mit der Mutter “vermeidendes” Bindungsverhalten zeigt, zusammen mit dem Vater “sicheres” Bindungsverhalten zeigen oder umgekehrt. Generell ist anzunehmen, dass Kinder eine Bindungsbeziehung zu verschiedenen Bezugspersonen aufbauen können, wenn diese maßgeblich an ihrer Versorgung und Betreuung beteiligt sind. In den meisten Fällen sind dies sicherlich die Eltern, aber auch Großeltern, Tagesmütter oder sonstige wichtige Bezugspersonen können zu Bindungspersonen werden. Möglicherweise entsteht dabei eine Abstufung, so dass das Kind eine Bindungsperson vorzieht, aber in deren Abwesenheit auch Nähe und Schutz bei anderen Bindungspersonen sucht. Auch zu Erzieherinnen oder Erziehern im Kindergarten bilden Kinder Bindungsbeziehungen aus und zeigen entsprechendes Bindungsverhalten. Es ist noch nicht geklärt, wie das Zusammenspiel unterschiedlicher Bindungsmuster zu verschiedenen Bezugpersonen sich auf die Entwicklung des Kindes auswirkt, es gibt jedoch Forschungsergebnisse, die darauf hinweisen, dass eine sichere Bindung zu einer wichtigen Bezugsperson als Puffer oder Schutzfaktor in Zeiten von Belastung oder Stress dienen kann (z.B. Dornes, 1999).

Sichere Bindung als Schutzfaktor

Viele Studien konnten darüber hinaus zeigen, dass eine “sichere” Bindung positiv mit anderen Entwicklungsmaßen wie z.B. Sozialverhalten oder Selbstkonzept zusammenhängt (Thompson, 1999). Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine “vermeidende” oder “ambivalente” Bindung automatisch schlecht ist, denn auch diese Bindungsmuster stellen sinnvolle Anpassungen an die Umwelt und das gezeigte Verhalten der Bezugspersonen dar. Lediglich die “desorganisierte” Bindung wurde als ein möglicher Risikofaktor identifiziert. Ein einmal erworbenes Bindungsmuster bleibt nicht notwendigerweise stabil, sondern kann sich auch verändern. Kritische Lebensereignisse wie z.B. längere Trennungen, schwere Erkrankungen oder Todesfälle von Bezugspersonen können die Bindung ebenso beeinflussen wie positive Erfahrungen mit Bezugspersonen, die einfühlsam auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen.

Bindungsstörungen

Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den Begriff der “Bindungsstörung” eingehen, da dieser häufig in Zusammenhang mit Bindung genannt wird, jedoch von dem bisher beschriebenen Bindungsverhalten abzugrenzen ist. Bindungsstörungen liegen vor, wenn in der frühen Kindheit keine Bindungsbeziehung aufgebaut werden konnte und sich auch beim Aufbau neuer Beziehungen Schwierigkeiten insbesondere in der sozialen Interaktion einstellen. Im Normalfall baut ein Kind eine Bindung zu mindestens einer wichtigen Bezugsperson auf und zeigt je nach Verhalten der Bindungsperson die beschriebenen unterschiedlichen Formen von Bindungsverhalten. In Ausnahmefällen z.B. bei schwerer Vernachlässigung oder häufig wechselnder Heimunterbringung kann es jedoch zur Entwicklung von Bindungsstörungen kommen, die eine psychotherapeutische Behandlung erforderlich machen.

Literatur

  • Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Wall, S. (1978). Patterns of attachment: A psychological study of the Strange Situation. Hillsdale, N. J.: Erlbaum.
  • Bowlby, J. (1969). Attachment and loss. Vol. 1: Attachment. New York: Basic Books.
  • Bowlby, J. (1973). Attachment and loss. Vol II: Separation. New York: Basic Books.
  • Bowlby, J. (1980). Attachment and loss. Vol III: Loss, sadness and depression. New York: Basic Books.
  • Cassidy, J., & Marvin, R. S. (1992). Attachment organization in preschool children: Coding guidelines (5th edition).). Unpublished manuscript, MacArthur Working Group on Attachment, Seattle, WA.
  • Dornes, M. (1999). Die Entstehung seelischer Erkrankungen: Risiko- und Schutzfaktoren. In: Suess, G. J. & Pfeifer, W.-K. P. (Hg.) Frühe Hilfen: Die Anwendung von Bindungs- und Kleinkindforschung in Erziehung, Beratung, Therapie und Vorbeugung. Gießen: Psychosozial-Verlag
  • Gloger-Tippelt, G., Vetter, J. & Rauh, H. (2000). Untersuchungen mit der “Fremden Situation” in deutschsprachigen Ländern: Ein Überblick. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 47, 87-98.
  • Grossmann, K. & Grossmann, K. (2004). Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Howes, C. & Hamilton, C. E. (1992). Children’s relationships with child-care teachers: Stability and concordance with parental attachments. Child Development, 63, 867-878.
  • Main, M. & Solomon, J. (1986). Discovery of a new, insecure-disorganized/disoriented attachment pattern. In M. Yogman & T. B. Brazelton (eds.), Affective development in infancy. Norwood, NJ: Ablex. 95-124.
  • Marvin, R. S. & Greenberg, M. T. (1982). Preschoolers‘ changing conceptions of their mothers: A social-cognitive study of mother-child attachment. In D. Forbes & M. T. Greenberg (Eds.), New directions for child development: No. 18. Children’s planning strategies. San Francisco: Jossey-Bass. 47-60.
  • NICHD Early Child Care Research Network. (1997). The effects of infant child care on infant-mother attachment security: Results of the NICHD Study of Early Child Care. Child Development, 68, 860-879.
  • Thompson, R. A. (1999) Early Attachment and Later Development. In: J. Cassidy & P. R. Shaver (Eds.) Handbook of attachment: theory, research and clinical applications. The Guilford Press: New York. 265-286

Autorin

Dr. Karen Strohband

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Erstellt am 20. Oktober 2004, zuletzt geändert am 2. März 2011

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