Abschied von der Spaßpädagogik! – oder: wie nachhaltiger auf die Herausforderungen des Lebens vorbereitet werden kann

Dr. Albert Wunsch
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Landauf, landab werden bei Kindern und Jugendlichen gravierende Defizite im Leistungsvermögen und sozialen Umgang beklagt. In Schule und Ausbildung werden katastrophale Mängel deutlich. Über Ursachen und Auswege findet kaum eine Auseinandersetzung statt. Die Reizüberflutung nimmt ständig zu, spült Interesse, Neugier, Motivation und Aufnahmefähigkeit als Basis von Lernbereitschaft hinweg. Gleichzeitig nehmen Konzentrationsfähigkeit, Antriebsstärke und Verantwortungs-Bewusstsein für das eigene Handeln rapide ab. Das Aufwachsen in einer Konsum- und Spaß-Gesellschaft hat einen hohen Preis. Der Artikel verdeutlicht wichtige Zusammenhänge und Handlungsbedarfe.

Jede Gesellschaftsform hat ihre eigenen Erziehungs-Leitlinien. Mal sind sie braun, grün, tief-rot, blau oder schwarz, mal diktatorisch oder demokratisch. Auch eine Konsum-Spaß-Gesellschaft hat ihre eigene Pädagogik. Sie manifestiert sich am deutlichsten in der Aussage: ‚Lernen muss Spaß machen’. Hier ein Beleg, wie stark die Spaß-Maxime unser gesellschaftliches Leben prägt: Lag bis vor 30 – 40 Jahren für die meisten Menschen der Lebenssinn in einer zufriedenstellenden Existenzabsicherung, meist angereichert durch eine Prise Erfolgs-Hoffnung, so gaben nach einer repräsentativen Untersuchung des Hamburger BAT Sozialforschungs-Institutes im Frühjahr 2001 64% der Bundesbürger Spaß als Sinn des Lebens an. Schnell und mühelos soll es zugehen: ’Genuss pur’, ‘trendy sein’ und ‚Auffallen’ wird zur Lebensmaxime. Können, Sachargumente oder Leistung zählen kaum, Gag’s verdrängen Inhalte, der Spaß wird zum Ziel. Da kommt, trotz mancher Lacher keine Freude auf.

Zu den Tücken eines Lebens in einer Spaßgesellschaft

Es erscheint mir angebracht, das Wollen und Streben dieser 2/3 Mehrheit einmal etwas genauer unter der Lupe zu betrachten. Was mögen diese Menschen mit Spaß verbinden? Um welches Lebensverständnis geht es? Was soll gleichzeitig bei einer so exzessiv angestrebten Leichtigkeit des Seins verdrängt werden? Laut Wörterbuch ist Spaß ein Mix aus Witz, Scherz, Posse, Jux und Narretei, kurz: verdichteter Unsinn. Leicht, angenehm, genussvoll und konsumierbar soll es sein. Demnach ist das Lebenskonzept solcher Zeitgenossen zwischen Wolken-Kuckucksheim und Schlaraffenland angesiedelt.

Auch ist eine Differenzierung zwischen Spaß und Freude klärend. So geht Spaß in der Regel mit haben wollen einher, andere sollen die Voraussetzungen schaffen, während Freude mit bereiten assoziiert wird. Spaß ist meist oberflächlicher, Freude wirkt tiefer und ist ein prägendes Element zur Erreichung von Lebenszufriedenheit. Außerdem ist es erhellend, zwischen erhofften – meist aber ausbleibendem – Spaß auf dem Weg einer Zielerreichung und Freude über eine Zielerreichung zu unterscheiden. Gute Noten in der Schule und Erfolg im Leben wird jeder toll finden, aber von Kindesbeinen an ist zu trainieren, da die Götter in der Regel den Schweiß vor den Erfolg gesetzt haben.

Das Lebenskonzept von Spaß-Fixierten orientiert sich demnach an Herumhängen, viel Essen und Trinken, reichlich Fernsehen, im Internet surfen, Shopping, Sex und Super-Action. Giga-Geil muss es sein. Manchen Zeitgenossen macht selbst Mobbing, Diffamierung, Gewalt und Horror Spaß. Und weil der selbe Spaß auf Dauer keinen Spaß mehr macht, muss bald ein Mega-Plus-Programm her. Das Volk will mehr, bis hin zur Unerträglichkeit, wie manche TV-Formate offenkundig werden lassen.

Wenn jedoch Spaßsuche und Konsumorientiertheit zum Lebens-Sinn avancieren, heißt das im Umkehrschluss: „Null oder geringe Chance für weniger lustvolle oder gar anstrengende Vorhaben und Aufgaben!’ So erhalten Selbst- und Mit-Verantwortung, Anstrengung, Nutzbringendes, Leistung, soziale Werte und Zukunftstiftendes einen Platzverweis.

  • Dementsprechend wird beim jüngeren Nachwuchs deutlich: Sprechen-Lernen, Zähneputzen, Regeln einhalten, gesunde Nahrung aufnehmen, Bewegungs-Training, Zimmer-Aufräumen, Schulaufgaben erledigen, – dazu hab ich keine Lust, ist mir zu schwer, will ich nicht!
  • Bezogen auf zwei Aspekte aus dem Alltag von Jugendlichen: im Umgang mit weichen bzw. harten Drogen oder in erotisch lustvollen Situationen Verantwortung leben, – Nein danke, das wäre pur un-cool.
  • Die Eltern-Variante sieht dann so aus: intensive Beziehungszeiten, nervige Auseinandersetzungen, Verlässlichkeit bei Vereinbarungen, Garant für Regelabläufe, Einführung in die großen oder kleinen Geheimnisse des Lebens? – Bloß nicht, ist zu zeitintensiv und meist gar nicht lustig. Anstelle von Engagement und Konsequenz setzt raffinierte Selbstübertricksung nach dem Strickmuster ein: ‚heute wachsen halt alle freier heran’, und ‚wir wollen unsere Kinder ja auch nicht zwingen!’
  • Und zur Ergänzung hier einige Beispiele für das Leben der Erwachsenen: Fitness für Körper und Seele, sich beruflich weiterbilden, Engagement im Gemeinwesen, Aufgaben gewissenhaft erledigen, Konflikte im persönlichen Umfeld angehen, Zeit und Ideen zur Revitalisierung von Partnerschaft und Ehe einbringen, ohne mich, da gibt es lustigere Alternativen, – ‚Leben im Hier und Jetzt’ ist angesagt!

Hier werden die Prioritäten einer Spaß-Konsum-Gesellschaft deutlich, häufig einhergehend mit falschen Selbstverwirklichungs-Vorstellungen. Ein solches Spaßverständnis entwickelt sich jedoch schnell zum Horrortrip für Viele, da so die psychische Stabilität des Einzelnen wie der Gesamtgesellschaft unterminiert wird.

Als Sigmund Freud einmal den ‚Bedürfnis-Aufschub als die größte Kulturleistung des Menschen bezeichnete’ wusste er noch nichts von Verlockungen des Lebens in einer Spaß- und Konsum-Gesellschaft, welche nach den Prinzipien des ‚jetzt und sofort Haben-Wollen’ funktioniert. Umso mehr rufen diese Fakten dazu auf, dass Kinder und Jugendliche – quasi als Überlebenshilfe – von Kindesbeinen an reichlich die Gelegenheit erhalten, Ich-Stärke und Selbst-Disziplin entwickeln können. Damit werden gleichzeitig die wichtigsten Erkenntnisse der Resilienz- und Stresspräventions-Forschung berücksichtigt. Denn ohne diese Voraussetzungen ist kein gezieltes Lernen, erst recht nicht, wenn es Mühe macht, kein Dranbleiben an wichtigen Vorhaben, kein konfliktarmer Umgang, kein gesundes Ess- und Bewegungs-Verhalten, kein förderliches soziales Miteinander möglich.

Die Sprach- und Denkmuster einer Erziehung im Schongang

Immer wenn gesellschaftliche Trends beschrieben werden tendieren nicht wenige Zeitgenossen dazu, sich als Irgendwie-Betroffene oder Nicht-Beteiligte zu sehen. Aber wir alle sind in der Regel – mehr oder weniger umfangreich – auch Akteure einer solchen Entwicklung. Denn durch typische Redewendungen oder Verhaltensweisen im alltäglichen Umgang mit unseren Kindern wird der oben beschriebene Mix aus Spaß und Nachgiebigkeit geprägt. Die häufigsten Nennungen von Eltern innerhalb vieler Seminare machen den Vorgang konkret:

  • magst du wirklich noch weiter üben?
  • wenn du Lust hast, kannst du ja mal …
  • möchtest du mir bei der Hausarbeit helfen?
  • wenn die Schulaufgaben zu schwer sind, dann lass es! – ich mach das schon für dich! – macht es dir auch Spaß?
  • darf der Arzt dich jetzt untersuchen?
  • lass es, das wird zu anstrengend sein! – ich will dich ja nicht zwingen! – wenn du jetzt schon vor der Mahlzeit was essen willst?
  • heute ist kein gutes Wetter, da fahre ich dich lieber zum Sport!
  • wenn du jetzt schön brav bist, bekommt du anschließend …

Grundlegende Fähigkeiten wie: Dran-Bleiben, Bedürfnis-Aufschub, lustfreie Anstrengung, Mitwirkung im Haushalt, sich in Regelabläufe einordnen und nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, werden auf diese Weise keinesfalls erlernt. Dabei werden auf Seite der Eltern oder anderer Erziehungskräfte folgende Grundhaltungen deutlich:

  • Ist es recht so?
  • immer mithalten zu wollen – Begrenzungen schaden der zarten Kinderseele
  • ich helfe gern! – Ausgleich für schlechtes Gewissen – z.B. zu wenig Zeit
  • mein Kind soll es einmal besser haben – fehlende Konflikt-Fähigkeit – ein zu großes Harmoniebedürfnis, – kurz: die klassischen Verwöhn-Motive

Wenn jedoch mühelos ein sicheres Überleben möglich ist, wozu sollten dann Jugendliche – oder nach Jahren Erwachsene – die Verantwortung für die eigene Zukunft übernehmen? Denn satte Bäuche mögen weder Leistung noch Selbstverantwortung! So kann deutlich werden: Zu Erfolg und Lebensglück gibt es keinen Spaß-Lift. Wer nach oben möchte, muss die Mühe der Treppen auf sich nehmen!

Wenn der Spaß zu ernsten Folgen in Schule und Beruf führt

Unüberhörbar schrillen die Warnsirenen in Schule, Hochschule und Ausbildungsbetrieben seit Jahren unisono: „So kann es nicht weitergehen!“ Leistungsbereite Schüler werden zu Außenseitern; ‚Blaumachen’ und ‚Abhängen’ wird zum Schulsport, – der übrige Nachwuchs lässt sich unmotiviert und lethargisch im Lern-Fluss dahintreiben, sehnsüchtig auf das Wochenende wartend, um endlich im großen Pool der Spaßkultur abtauchen zu können.

So leidet einerseits der Wirtschaftsstandort Deutschland unter den vielen antriebslosen Jugendlichen und Erwachsenen, während uns gleichzeitig die allgegenwärtige Spaß-Industrie für alle Lebenslagen den leicht gemachten Genuss aufdrückt, um neue Konsumenten zu gewinnen bzw. abhängig zu halten. Die Alarmmeldungen überschlagen sich. Hier wird das Desaster als Erziehungsnotstand, dort als Erziehungskatastrophe bezeichnet.

Dann die nächste Hiobsbotschaft! Die PISA-Studie, eine internationale Vergleichsuntersuchung zur Effizienz und Effektivität schulischen Lernens, verweist das Land der Dichter und Denker auf die hintersten Plätze: Lesen, Rechnen, Arbeitshaltung, Problemlösungsfähigkeit, Denk- und Sprachvermögen mangelhaft. In Universitäten und betrieblicher Ausbildung kumulieren Nichtwissen und Desinteresse. Als Folge wirkt allzu oft der ‘Dreisatz’:

  • antriebslos
  • ausbildungslos
  • arbeitslos!

Und was besonders erschreckend ist: Zu viele – zwischen Selbstbezogenheit und Gleichgültigkeit – dahindümpelnde Zeitgenossen bleiben tatenlos. So wird Sinnvolles oder gar Notwendiges gezielt verunmöglicht, wertvolle Energie in Belangloses oder Schädigendes investiert.

Auch wenn so auf Dauer der eigene oder gesellschaftliche Untergang provoziert wird, eine event-süchtige Konsum-Gesellschaft hat halt eine ganz eigene Selbstvernichtungs-Dramaturgie. Um diesem Trend entgegen zuwirken, fordert der renommierte Freizeit- und Konsumforscher Horst W. Opaschowski kurz und bündig, die „Spaßgesellschaft abzuschaffen“. „Rastlos, heimatlos, oberflächlich“, so sein Resümee in der Studie zur „Generation @“ aus dem Jahre 1999.

Aber diese Forderung verhallte bislang. So weitet sich der Flurschaden einer Spaß- und Konsum-Fixiertheit bei der nachwachsenden Generation ständig aus.

  • Deutsche Kinder und Jugendliche leiden unter einem immensen Bewegungsmangel und psychomotorischen Stau: 40% der Zwölfjährigen haben Kreislaufprobleme, 33% Haltungsschäden, bei 50% liegt Muskelschwäche vor, 33% leiden an Schlafstörungen, Kopf- und Magenschmerzen. Neben geistiger und körperlicher Schlaffheit führen diese Symptome zu Versagensängsten und Lernstörungen. Beispielsweise liegt das sportliche Leistungsniveau heutiger Grundschüler um bis zu 20% unter dem der Kinder vor 20 Jahren, wie eine aktuelle Studie der Universität Karlsruhe ergeben hat.
  • Eine aktuelle Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) belegt: Deutsche Jugendliche sind Weltmeister in den Spezial-Disziplinen Alkoholkonsum, Rauchen, Kiffen, Müdigkeit, Bewegungsmangel, Über- bzw. Fehlernährung.
  • Jedes zweite Kind im Alter von 6 – 12 Jahren hockt täglich mehr als 3 Std. vor TV-Geräten; durchschnittlich sieht diese Altersgruppe pro Woche 18,5 Stunden fern. Die Zeiten für elektronische Spiele und PC/Internet sind dabei nicht berücksichtigt.
  • Schulleiter gehen davon aus, dass ein Drittel aller Schüler nachmittags alleine zu Hause ist, jährlich gibt es 30.000 Suizidversuche unter Kindern, ein Drittel endet tödlich.
  • Nach einer Studie des Münchener Max-Planck-Institutes für Psychiatrie leiden 55% der 14 – 17jährigen unter starken psychischen bzw. psychosomatischen Störungen wie Depressionen, krankhafter Angst, Essstörungen, zeigen Suchtverhalten, sind suizid-gefährdet.

Die Reizüberflutung nimmt ständig zu, spült Interesse, Neugier, Motivation und Aufnahmefähigkeit als Basis von Lernbereitschaft hinweg. Gleichzeitig nehmen Konzentrationsfähigkeit, Antriebsstärke und Verantwortungs-Be­wusst­sein für das eigene Handeln rapide ab. Mit einer solchen Mitgift kön­nen junge Menschen keinesfalls die vielen Herausforderungen des Lebens in Beruf, Partnerschaft und Gesellschaft aufgreifen. Das Statement des renom­mier­ten Jugendforschers Klaus Hurrelmann ist auf diesem Hintergrund Situationsanalyse und Appell zugleich: „Kinder und Jugendliche bekommen zu wenig von dem, was sie brauchen, wenn sie zu viel von dem bekommen, was sie wollen!“

Hier eine Mini-Auswahl der Folgen:

15 – 25 % der Jugendlichen brechen – je nach Branche differierend – ihre Berufsausbildung ohne Abschluss ab, meistens jedoch nicht wegen einer möglichen beruflichen Fehlentscheidung, sondern aus Gründen mangelhafter Belastbarkeit bzw. Einsetzbarkeit.

Es verwundert daher nicht, dass auch 25% – 35% – auch nach der europaweiten Harmonisierung von Studiengängen im Rahmen des Bologna-Prozesses – der Studenten ihr Studium abbrechen. War es hier die falsche Wahl, ging es dort um eine zu geringe Leistungsfähigkeit.

Aber Unvermögen und Verantwortungsmangel werden auch im Bereich Freundschaft und Sexualität deutlich: Sexting per Internet, ‚Sex als Spaß- und Konsumartikel’, und ‚wenn es halt passiert ist’, wird viel zu häufig und leichtfertig ein Schwangerschafts-Abbruch vorgenommen. Ein erschreckender Befund: Die Zahl der sexuell übertragbaren Krankheiten in Deutschland steigt rasant. Vor allem bei jungen Menschen treten Erreger wie Chlamydien, HPV und Herpes simplex gehäuft auf. Sie werden hauptsächlich durch sexuelle Kontakte übertragen – hierzu gehören auch Finger- und Zungenkontakte sowie die Übertragung durch Sexspielzeuge. Durch mittlerweile etablierte Sexualpraktiken wie Oral- und Analverkehr nehmen Infektionen im Hals- und Rachenraum zu, so Annette Bulut am 3. Mai 2013 unter der Überschrift: „Immer häufiger Geschlechtskrankheiten bei Jugendlichen“ (in: Umwelt-Panorama.de, ZG am 13.5.2015).

Angesichts solcher Hiobsbotschaften bringen sich auch die Medien ins Erziehungsthema ein und rufen nach deutlicherem Durchgreifen: Nehmt die Kinder an ‘die Kandare’, ‘Strenge’ und ‘Gehorsam’ werden eingefordert! Aber weder eine ‘schnelle Wende rückwärts’ in unrühmliche Zeiten, noch eine ‚Flucht ins nur Andere’ kann weiterführen. Statt dessen ist zu fragen,

  • was Erziehung ausmacht,
  • weshalb sie stattfindet,
  • welche Ziele dabei anzustreben sind und
  • durch welche Bedingungen

dieser in die Eigenständigkeit führen sollende Weg behindert oder gefördert wird.

Um also nicht in ein Nirwana der Scheinlösungen zu geraten, wird hier eine Neubesinnung zwischen Strenge und Selbstüberlassung favorisiert. Das erfordert Mut und vollzieht sich oft im wahren Wortsinn als Zumutung, weil eine ins Leben führende Erziehung kein Billigprodukt ist. Denn wer auf Dauerspaß abonniert ist, wird bald keinen mehr haben, ob als Einzelperson oder als gesamte Gesellschaft.

Wenn Ansprüche und Forderungen tragende Werte verdrängen

Wo liegen die Gründe, dass Leistungsbereitschaft und ein förderliches soziales Miteinander eine recht geringe und im Gegenzug ein Konglomerat aus Spaß, Genuss und Selbstbezogenheit in unserer Gesellschaft eine so hohe Bedeutung erlangten? Es ist die zu große Sattheit und Versorgtheit vieler Menschen! Denn wenn die Existenzabsicherung als Herausforderung entfällt, konzentriert sich die Sinn-Suche allzu leicht auf eine ständige Glück-Maximierung des eigenen Seins:

  • Ein Sitzen im gemachten Nest verhindert die Entstehung von Visionen einer selbst gestalteten Wirklichkeit. (Kindern aus Entwicklungs­ländern steht oft der ihnen gar nicht bekannte Spruch: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir!“ auf der Stirn geschrieben).
  • Falsches Helfen und ein verwöhnender Umgang fördern Nichtkönnen bzw. Unvermögen (die stille Botschaft der so agierenden Menschen lautet: „Ich traue es dir nicht zu; – schau her, wie toll ich das kann“).
  • Anstelle einer Ermutigung gegenüber dem Leben wächst so Anspruchsverhalten (jede vorschnelle familiäre oder kollektive Funktions­übernahme bzw. Überversorgung ist kontraproduktiv, weil sie immer Selbstverantwortung ruiniert).
  • Das Schwinden zwischenmenschlicher Werte und Sinnstiftungs-Systeme schafft Leere (wenn der Existenzkampf überwunden ist, benötigen wir Ideale als Handlungs-Ziele. Hier hat die Religion eine tragende Funktion).
  • Mehr nehmen als geben führt beim Einzelnen zur Vereinsamung und gesellschaftlich betrachtet zum Zerreißen des sozialen Netzes (immer mehr Menschen suchen die Vorteilsnahme zu lasten Anderer).

Jede zu leicht gemachte Annehmlichkeit des Heranwachsens führt auf Dauer zu Unfähigkeit und Schlaffheit. Die Spaßgesellschaft entlarvt sich so zum Übungsterrain für Ego-Taktiker und produziert täglich neu genuss-süchtige Kinder und Jugendliche. Hier ein Beleg dieses Trends: „Es macht keinen Spaß, sich gegenseitig zu helfen“, meinten 77 % der 14 bis 29jährigen innerhalb einer großen Befragung. Sinn­stiftendes bleibt so auf der Strecke.

Somit ergehen sich in unseren Tagen immer mehr Zeitgenossen in der Inaktivität und dösen der nächsten Unterstützungsdosis zwischen „Hotel Mama“ und „Vater Staat“ entgegen. Solange jedoch der Automatismus dieser Versorgungs-Pipeline nicht gekappt wird, kann auch keine Eigenverantwortung wachsen. So wird ein Nothilfe-Prinzip ausgehöhlt, denn ein Sozialstaat kann nur funktionieren, wenn Viele durch ihren Beitrag soviel Mittel erbringen, dass für wirklich Bedürftige auch eine finanzielle Unterstützung möglich ist. Es ist „Zeit, von den Pflichten zu sprechen!“ So titelt Altkanzler Helmut Schmidt in einem ZEIT-DOSSIER seinen Beitrag zur Wieder­geburt der Verantwortlichkeit. Denn „eine weitgehende permissive Erziehung orientierte sich allzu einseitig an den Grundrechten, von Grundpflichten ist kaum die Rede. Rücksichtslose egoistische ‚Selbstverwirklichung‘ erscheint als Ideal, Gemeinwohl dagegen eher als bloße Phrase.“

Demnach ist es ein folgenschweres Missverständnis, wenn Freiheit als Anspruch gedeutet wird, um Rechte und Vorteile ohne eine äquivalente Bringpflicht leben zu können. Statt dessen hat jeder Mensch eine primäre Selbstsorgepflicht, haben Eltern eine Erziehungspflicht, Kinder eine Lernpflicht, alle Familienangehörige – je nach Alter differierend – eine Mitsorgepflicht, Erwerbstätige eine Arbeitspflicht, Betriebe eine Fürsorgepflicht, alle eine Mitgestaltungs-Pflicht gegenüber der Gemeinschaft und letztlich hat die Solidargemeinschaft eine Hilfepflicht in Notlagen. Ein Fazit: Wer Freiheit ohne die Pflicht zur Eigenverantwortung lebt, produziert Dekadenz, ob sich diese nun als Gewalt oder Ohnmacht äußert.

Und je verlockender die Angebote einer Spaßgesellschaft sind, je stabiler müssen Kinder und Jugendliche werden, um in ihr nicht unter zu gehen: entweder, um durch das Erbringen von Leistung kräftig mithalten zu können, oder um sich den verschiedenen Verlockungen gegenüber resistent verhalten zu können. Egal ob Mithalten oder Abgrenzung das Ziel ist: Wer Kinder und Jugendliche sich selbst überlässt oder sie verwöhnend in Watte packt bzw. mit Konsumgütern zuschüttet, der provoziert den Crash. Dieser findet täglich statt, eher unbemerkt in Versagen, Misslingen und Aufgeben, manchmal auch als öffentlicher Gewalt-Exzess.

Ein Brückenschlag zwischen Dauerspaß und Lebensernst

Sich auf ein Leben in Spaß und Kurzweil einzustellen und in der Glitzerwelt eines ausufernden Konsumangebotes mithalten wollen, scheint für die Mehrheit unserer Gesellschaft das ultimative Muss zu sein. Dabei wird auch verdrängt, dass die bedeutsamste und nachhaltigste gesellschaftliche Leistung innerhalb der Lebensweitergabe die Erziehung unserer Kinder ist, weil sie über unsere Zukunft entscheidet. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, benötigen Eltern neben der entsprechenden Zeit auch eine angemessene Qualifizierung. Nur so können sie für ihr Aufgabenspektrum zwischen biologischer, emotionaler, sozialer und fertigkeitsorientierter Lebensvorbereitung gut gerüstet sein, um die ihnen anvertrauten Kinder liebevoll-konsequent ins Leben zu führen! Dies gilt erst recht für die Kleinkind-Erziehung. Fachleute der unterschiedlichsten Richtungen verkünden übereinstimmend, dass die ersten 3 Lebensjahre die entscheidendsten sind. Daher gilt gerade für diese Lebensphase: Kinder brauchen Elternhäuser und keine Verschiebebahnhöfe zwischen öffentlich finanzierter Ganztagsbetreuung und familiärem Nachtquartier.

Bei dieser Aufgabe, die Zukunft unserer Gesellschaft abzusichern, erhalten funktionsfähige Schulen eine herausragende Bedeutung, denn einer qualifizierten Erziehung und Bildung ist höchste Priorität im Hinblick der wirtschaftlichen und politischen Kraft des Standortes Deutschland einzuräumen. Denn Schule ist der Ort, wo Kenntnisse, eigenständiges Denken und kompetentes Handeln erlernt werden sollen. Findet dies in einem abgestimmten Erziehungskonzept statt, kann so Bildung wachsen. Zur Gewährleistung gehören: eine angemessene Ausstattung, fähige Lehrer, engagierte Eltern und lernbereite Schüler. Mangelt es in einem Bereich, wird sofort der Gesamterfolg reduziert. Dabei ist herauszustellen: Eine fördernd-herausfordernde Schule darf, aber muss nicht Spaß machen. Mühe gehört in der Regel zu jedem Lernen dazu. Guter Unterricht kann aber nur in einer durch Bereitschaft, Offenheit, Konzentration und Rücksicht geprägten Lernatmosphäre stattfinden. Die Ergebnisse der verschiedenen Lernstand-Erhebungen (Pisa, Iglu, Timss usw.) entpuppen sich auf diesem Hintergrund zum Bilanz-Bericht von Fehlentwicklungen und Unvermögen. Denn spaß-verwöhnte, leistungs-ungeübte, medial-zugemüllte, verhaltens-auffällige, von einer Glitzerwelt abgelenkte und übermüdete Kinder können wirklich den dargebotenen Lernstoff nur mangelhaft aufnehmen. Kinder brauchen für ihre Entwicklung keine Sturzbäche der Ablenkung, sondern körperliche, geistige und soziale Herausforderungen! Aber anstelle von sorgfältiger Analyse setzt schillernder Aktionismus ein.

Ein Volk, welches ‘Live-Style’ und ‘trendy sein’ zur Lebensmaxime macht, kurzatmig von Vergnügen zu Vergnügen kollabiert, pausenlos durch neue Werbe-Attacken willige Käufer braucht, per Essen und Trinken aufs – auch per Körpergewicht feststellbar – Prinzip eines Lebens in Fülle setzt, schafft desaströse Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen. Einigen sich Eltern, Kindergärten und Schulen nicht auf gemeinsame Erziehungskonzepte, werden Kinder und Jugendliche im Gewirr der staatlich tolerierten ‚Leer-Räume’ orientierungslos. Erfährt die Erziehungsleistung von Eltern, Erziehern und Lehrkräften keine angemessene gesellschaftliche Rückendeckung, fehlt den Handelnden die Kraft, Kinder und Jugendliche mit Umsicht und Konsequenz in ein selbstverantwortliches Leben zu führen. Denn aus einer schwachen Erziehungsposition heraus werden keinesfalls Sozialkompetenz, Selbstverantwortung, Mut, Stärke, Motivation, Kreativität und Konfliktfähigkeit zur Bewältigung zukünftiger Herausforderungen in Partnerschaft, Familie, Beruf und Gesellschaft wachsen. Fördern Gewerbe und Handel nicht die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit angemessener, sollten sie sich auf leistungsreduzierte Arbeitnehmer und Konsumenten einstellen. Setzt dieser Kurswechsel nicht ein, geraten noch mehr perspektivlose Nesthocker unvorbereitet als Berufstätige in einen aggressiven Wettbewerb innerhalb globaler Wirtschaftsstrukturen. Für Menschen mit wenig Können und Wollen bleiben dann nur Randpositionen oder Bauchlandungen.

Kinder und Jugendliche brauchen starke Sparringspartner und keine Weichlinge, Spaßsucher oder Opportunisten. Statt dessen ist die nachwachsende Generation zu ermutigen, in angemessener Weise das Erbringen von Leistung zu erlernen. Weiterhin muss früh akzeptiert werden, dass andere mitunter mehr können. Dies kann eine kräftige Portion Frustrationstoleranz erleichtern. Andererseits sollten eigene Leistungen nicht zur Überheblichkeit führen. Schließlich müssen alle genügend Stabilität besitzen, um sich gegenüber den Verlockungen einer Spaß-Konsumgesellschaft auch deutlich abgrenzen zu können.

Klarheit gibt Orientierung, Auseinandersetzung ist die Basis, um Grenzen auszutesten und eigene Standpunkte zu entwickeln um diese profiliert ins Leben zu tragen. Kein Mangel an elterlicher Zuwendungs-Zeit lässt sich mit Konsum und Geld ausgleichen. Wer sich jedoch als Eltern, Erzieher oder Lehrer an den Lustkriterien einer Spaß-Gesellschaft orientiert, deformiert sich selbst nicht nur zum Rundum-Animateur sondern gaukelt dem Nachwuchs auch noch vor, eine optisch nette Fassade sei ein stabiles Lebenskonzept. Setzt hier kein Kurswechsel ein, kann selbst ein rasanter Stopp des andauernden Gebärstreiks nicht die Zukunft unseres Sozialsystems retten, denn nur zu Eigentätigkeit und Selbstverantwortung erzogene Leistungsträger taugen für eine Absicherung der Zukunft. Weiterführend ist es, einen seit Jahrzehnten verpönten Grundsatz neu in den Blick zu nehmen: Je mehr sich jemand etwas leisten will, je umfangreicher muss seine Bereitschaft und Fähigkeit zur Erbringung von Leistung ausgeprägt sein. Mangelt es hier an Mut und Stärke, wird unsere Zukunft düster sein.

Über zwanzig Jahre ist sie alt, die Spaßgesellschaft, aber es geht ihr gar nicht gut. Denn ihr ist zwischenzeitlich der Spaß angesichts von Wirtschafts- und Eurokrise gründlich vergangen. Und angesichts von weltweiten Kriegen, Terrorismus-Aktionen, Flucht und Vertreibung kommen vielen eher die Tränen. „Schluss mit dauernd lustig!“ – „Die Spaß-Gesellschaft hat ausgelacht, die Sehnsucht nach Wärme, Sinn und Persönlichkeit nimmt zu,“ – so die aktuelle Prognose von Trendforschern. Da wird die Refrain-Einleitung des schon in die Jahre gekommenen rheinischen Karneval-Hit’s: ‚Ein biß’chen Spaß muss sein’ zum Zeit-Zeichen eines hoffen machenden Neubeginns. Denn wer sich für den anstehenden Brückenschlag zwischen Dauer-Spaß und Lebens-Ernst engagiert, greift das – auch in Politiker-Reden wieder häufiger auftauchende – Prinzip der Eigenverantwortlichkeit auf und wirkt mit an einer Zukunft in Zufriedenheit und Gerechtigkeit. Die Mahnung von Friedensnobelpreis-Träger Albert Schweitzers wirkt da wie ein letzter Aufruf: „Keine Zukunft vermag gutzumachen, was du in der Gegenwart versäumst“.

Weiterführende Literatur des Autors:

  • Wunsch, Albert (2007): Abschied von der Spaßpädagogik. Für einen Kurswechsel in der Erziehung. München 2003, 4. Auflage.
  • Wunsch, Albert (2013): Die Verwöhnungsfalle. Für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit, München 2000, 14. restlos überarbeitete und wesentlich ergänzte Neuauflage, München.
  • Wunsch, Albert (2013): Boxenstopp für Paare – damit ihre Beziehung rundläuft. München 2011, 2. Auflage.
  • Wunsch, Albert (2015): Mit mehr Selbst zu m stabilen ICH. Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung. Heidelberg 2013, 2. Auflage.

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Dr. Albert Wunsch ist Psychologe, Diplom Sozialpädagoge, Diplom Pädagoge und promovierter Erziehungswissenschaftler. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern.

Kontakt

Dr. Albert Wunsch, Im Hawisch 17, 41470 Neuss

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Erstellt am 17. Januar 2005, zuletzt geändert am 10. Juni 2015