Hilfe, Papa und Mama streiten! Was dürfen/ sollen die Kinder davon mitbekommen?
Mag. Dr. Manfred Hofferer
Konflikte und Streit gehören zum Leben wie das Atmen. Kinder müssen jedoch erst langsam lernen damit umzugehen. Ein Glück für Kinder ist es, wenn sie – auch in konfliktreichen Situationen – von anschlussfähigen Eltern eingebunden sind und Bescheid wissen, dass die Zuneigung und Liebe beider Eltern über jedem Konflikt steht.
Alles oder Nichts?
Beim Thema Streit vor Kindern scheiden sich die Geister. Für die einen ist es ein Glück und sie argumentieren: “Kinder lernen bei der Auseinandersetzung ihrer Eltern, dass Gebote, Grenzen und Normen relativ sind, und die Welt ein offenes und immer wieder neu auszuverhandelndes Beziehungsgefüge ist.” Die anderen bezeichnen es als eine Überforderung: “Konflikte vor den Kindern bringen gar nichts, da sie erstens die Kinder ängstigen und beunruhigen und zweitens sowieso nichts bringen; was soll das Kind da schon lernen?” . Und so stehen auf der einen Seite Eltern, die sagen: “Unser Kind soll nur sehen, dass auch wir Probleme miteinander haben und nicht alles Eitelwonne ist!” und auf der anderen Seite solche, die feststellen: “Unser Kind ist eh noch zu klein und kriegt nichts mit” oder/und “Wir streiten überhaupt nicht vor unserem Kind!” .
Dem ist entgegenzuhalten, dass es keinen Sinn macht, den Kindern immer eine heile und konfliktlose Welt vorzugaukeln, da das nicht der Realität entspricht. Indem nur die offenen Auseinandersetzungen vermieden werden, aber der Streit hinter verschlossenen Türen und die Krisenstimmung zwischen den Eltern den Kindern nicht verborgen bleibt, wird die Welt nicht schöner oder besser. Die Kinder “spüren” das Problem, wenn gestichelt oder überhaupt nicht mehr vor den Kindern miteinander gesprochen wird. Auseinandersetzungen vermeiden zu wollen, wenn es unter der Oberfläche bereits heftig brodelt und kocht, macht keinen Sinn. Es ist symbolisch gesehen wie ein Schneeball, der den Hang herunterrollt; er wird immer größer und plötzlich wird man von einer Lawine erfasst. Das Gleiche gilt, wenn die Kinder in Auseinandersetzungen einbezogen werden, die nicht ihre sind und die sie nicht bewältigen können. Die Wahrheit liegt also wahrscheinlich irgendwo in der Mitte! Es gibt keine Patentrezepte dafür, was wirklich gut ist und was schadet, da es in Wahrheit immer auf die konkrete Situation und die Umstände ankommt. Was dem einen hilft schadet unter Umständen dem anderen!
Wenn sich zwei streiten…
Unstimmigkeiten, Streit und Auseinandersetzungen gehören zum Leben dazu, und ebenso sind Konflikte ein wichtiger und natürlicher Bestandteil menschlicher Entwicklung und zwischenmenschlicher Beziehungen. Das Zusammenleben von Menschen verläuft nie wirklich “reibungsfrei” , und je näher sie sich stehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass “Reibungsflächen” (d.h., unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse, Wünsche, Erwartungen, Vorstellungen usw.) aufeinander treffen.
Das gilt auch für Kinder, die schon sehr früh die Erfahrung machen, dass es zwischen den eigenen Wünschen und Vorstellungen und denen der Beziehungspartner mitunter erhebliche Unterschiede gibt. Sie erfahren auch, dass dabei außergewöhnliche innere und zwischen den Personen liegende Spannungen entstehen. Jedoch sind die Ressourcen und personalen Kompetenzen des Kindes – also seine Möglichkeiten, diese Differenzen aufzuheben – je nach Lebensalter und -erfahrung unterschiedlich. So wird das eine Kind durch klägliches Weinen und das andere Kind durch zorniges Schreien oder Toben versuchen, diese Spannung zu überwinden und seine Vorstellungen durchzusetzen. Wieder anders wird das ein Kindergartenkind können, und noch einmal von besonderer Qualität ist das bei einem pubertierenden Jugendlichen.
In der Regel gelingt aber die Überwindung des Konflikts, da sich die jeweils Beteiligten über ein weiteres gemeinsames Vorgehen einigen können. Damit ist die Auseinandersetzung gelöst, und es kehrt wieder Ruhe ein – bis zum nächsten Mal. Nicht immer ist die Einigung der Schlüssel zum Erfolg, manchmal braucht es einfach ein wenig Zeit und Ruhe, bis sich die Gefühle wieder beruhigt haben und ein Aufeinanderzugehen möglich ist.
Wenn es nicht mehr weiter geht…
Sehr viel schwieriger wird es, wenn Unstimmigkeiten bestehen bleiben und nicht überwunden werden können, wenn kein gemeinsamer Weg und kein gemeinsames Vorgehen gefunden werden. Dies führt dazu, dass sich innere und äußere Konflikte entwickeln, da die unterschiedlichen Wünsche, Vorstellungen, Meinungen oder Absichten nicht mehr miteinander vereinbart werden können und die dabei entstehende Spannung nicht überwunden bzw. abgebaut werden kann. Das lässt sich sehr leicht an einem Beispiel darstellen:
“Stellen Sie sich vor, Sie haben einen 100 Euroschein in der Tasche und überlegen, ob Sie sich ein bestimmtes Kleidungsstück, das Ihnen gefällt, kaufen oder aber das Geld sparen. In diesem Moment eröffnet sich ein Streit zwischen dem Wunsch, das Kleidungsstück haben zu wollen, und der Überlegung, das Geld zurücklegen zu wollen. In der Regel wird das nicht wirklich ein Problem, da Sie den Zwiespalt durch eine Entscheidung überwinden. Entweder Sie kaufen das Kleidungsstück oder aber Sie sparen das Geld. Ein Kompromiss dabei wäre, wenn Sie sich ein günstigeres Kleidungsstück kaufen würden und den Rest des Geldes weglegen oder aber das Geld weglegen und sich vornehmen, das Kleidungsstück später zu kaufen. Am Ende wären Sie zufrieden, und es würde Sie nicht weiter belasten.”
Der Alltag ist voll von solchen kleinen Unstimmigkeiten, die den Menschen immer wieder herausfordern, sich etwas zuzuwenden bzw. von etwas loszulassen. Einmal mehr und dann wieder weniger gut gelingt das, und jeder kennt die innere Unruhe, wenn man “gezwungen” ist oder gezwungen wird, sich für oder gegen etwas zu entscheiden. Das ist im Großen und Ganzen normal und gehört zum Leben dazu. Ein Problem wird das dann, wenn man sich nicht mehr entscheiden kann, was in so einer Situation zu tun ist, oder nur mehr gezwungen ist, eine bestimmte Entscheidung zu treffen.
Vielleicht werden Sie jetzt sagen: “Was soll das?” Möglicherweise wird es Ihnen erst dann leichter verständlich, wenn die Entscheidung nicht “Kaufen oder Sparen” heißt, sondern “In der Beziehung bleiben oder sich scheiden zu lassen?” Oder wenn Kinder darüber nachdenken: “…soll ich meiner Mama die Wahrheit sagen oder nicht?” , “…soll ich weglaufen oder bleiben?” , “…will ich leben oder sterben?” usw. Die Lösung von Konflikten hängt in jedem Fall davon ab, welche Möglichkeiten die Person in ihrer Entwicklung erfahren hat, in so einer Lage zu handeln. Der eine Weg eröffnet neue Chancen, und der andere Weg führt in eine tiefe Verzweiflung.
Das Leben braucht Auseinandersetzung
Konflikte entwickeln sich nicht offen und vordergründig. Das heißt, dass es in der Folge von z.B. immer wieder nachgiebigem Verhalten oder beim fortwährenden Abrücken vom eigenen Standpunkt zunehmend unmöglich wird, die eigenen Vorstellungen und Wünsche, Anliegen und Wege zu verwirklichen. Die Emotionen, die dabei entstehen, sind Wut, Ärger, Zorn, Frustration, Angst und Verzweiflung, die aber noch immer unterdrückt und “hinuntergeschluckt und im Zaum gehalten” werden können. Mit der Zeit sammeln sich diese Emotionen an, verdichten sich und suchen nach einer Lösung, nach einem Ausgang.
Erst danach und in der Regel durch irgendwelche “kleinen oder dummen Auslöser” kommt es zu einer offenen Auseinandersetzung, zu einer Eruption von Gefühlen. Dabei brechen alle bislang aufgestauten und unterdrückten Emotionen hervor, und sehr häufig eskalieren solche Situationen. Dabei verlieren die Konfliktpartner sehr leicht die Kontrolle und alles und jedes wird eingesetzt, um sich selbst und den eigenen Standpunkt durchzusetzen. Es gelten keine Spielregeln mehr, und alles gerät aus den Fugen. Wie ein tobendes Unwetter, unberechenbar und nicht mehr abzuschätzen, bricht alles zusammen. Manche meinen dazu: “Das ist gut so, danach ist alles besser!” oder “Bei uns braucht es eben solche stürmische Gewitter!” .
Denkt man an sich selbst, dann weiß man, dass solche Auseinandersetzungen nicht wirklich weiterführen und das eigentliche Problem nichts lösen. Es wird im besten Fall nur aufgeschoben. Jeder von uns kennt solche Auseinandersetzungen und weiß auch, dass solche Streitereien und Auseinandersetzungen nicht nur Kleinkram sind. Ob das Kind sich die Zähne nicht putzt, spät schlafen geht, zuviel fernsieht oder irgendeine Verfehlung begangen hat oder der Partner mal zu spät nach Hause kommt, ein falsches Wort sagt etc. ist nicht der “Motor” solcher Auseinandersetzungen. Solchen Konflikten liegen schwere Beziehungsprobleme zu Grunde und müssen als Hinweis dafür gewertet werden, dass etwas Grundsätzliches in den Personen oder/und in der Beziehung der Eltern nicht stimmt.
Mit den Augen der Kinder
Klar ist, dass Kinder im Laufe ihrer Entwicklung erst erfahren müssen, was Streit ist, was das bedeutet und wie sie damit umgehen können. Im normalen Leben erlernt das Kind von Anfang an spielerisch das Wechselspiel von “Geben und Nehmen” , “Halten und Loslassen” , “Durchsetzen und Nachgeben” , “Sich Einbringen und sich Zurückhalten” . Getragen wird diese Entwicklung von einer guten Vertrauensbasis, von einem Klima der Nähe und Sicherheit. Das Kind erfährt sich trotz der Wechselspiele der Gefühle durchgängig als sicher angenommen und aufgehoben. Auseinandersetzungen führen nicht in eine Verunsicherung, Beängstigung oder tiefe Verzweiflung, sondern sind eine Quelle der Erweiterung des Lebenshorizonts.
Das erfährt das Kind nicht nur an sich selbst, sondern auch an seinen Eltern. Es kann beobachten, was zum Problem wird, wie sich das auf die Eltern auswirkt und wie gerungen und nach Lösungen gesucht wird. Noch einmal anders ist die Erfahrung, wenn das Kind in diesen Prozess aktiv eingebunden ist und selbst mit Urheber der Lösung ist. Der Widerspruch, das Gegenteil, das Fremde, das Nichtgewollte oder -gewünschte usw. wird so Gegenstand der Entwicklung. In der Folge bildet sich eine differenzierte Sicht- und Verstehensweise solcher mitunter widersprüchlichster Umstände ab. Neben dem “Ganz oder gar nicht” etabliert sich ein “Sowohl als auch” , und neben dem “Entweder – Oder” findet auch ein “Und” einen Platz.
Kinder sind Gefühlsseismografen
Tatsache ist auch, dass Kinder schon in ganz jungen Jahren Unstimmigkeiten und die damit in Verbindung stehenden Befindlichkeiten in dem Beziehungsgefüge der Familie mitbekommen. Da Kinder darauf ausgelegt sind, dass sie den überwiegenden Teil der Informationen, die sie zur Einschätzung und Beurteilung der Situation benötigen, über Beobachtung erwerben, schauen sie sehr genau hin und haben die Gabe, den emotionalen Zustand und die Verfassungslage der jeweiligen Beziehungspartner zu verstehen. Zwar haben junge Kinder in der Regel noch keine Sprache bzw. Worte dafür, aber sie erfassen im weitesten Sinn die Situation in der Weise, dass sie zumindest registrieren, dass es der Mama und/oder dem Papa einfach nicht gut geht. Diese reagieren gereizt, sprechen nicht miteinander, provozieren sich gegenseitig immer wieder auf subtilste Weise. Der Papa kommt immer häufiger später nach Hause usw. Die Folge ist, dass aufgrund des Fehlens der Information “Was denn eigentlich los ist?” beim Kind Verunsicherung eintritt und die zuvor angesprochene Sicherheit bedroht wird. Das Resultat ist Angst, und diese Angst wiederum zwingt das Kind zum Reagieren.
Wie Kinder Streit erleben
Stellen Sie sich einfach einmal vor, wie solche Konflikte aus der Sicht eines Kindes erlebt werden. Aus heiterem Himmel bricht ein heftiger Streit zwischen den Eltern aus, oder nach langen immer wieder auftretenden “kleinen Rangeleien” geraten die Eltern heftig aneinander. Sie schreien, schlagen die Türen hinter sich zu, beschimpfen und demütigen sich, packen sich an den Kleidern und zerren aneinander, werfen mit Gegenständen…
Ein Bub sagte mir einmal: “…Ich wünsche dir das nicht, dass dir so was passiert, das ist wie wenn die Welt untergeht!” Ein 7-jähriges Mädchen erzählte: “Es ist traurig! Meine Mama verwandelt sich plötzlich (in Streitsituationen) in ein Monster. Ich erkenne sie nicht mehr und habe nur noch Angst, weil ich nicht weiß, ob sie auch mich frisst.” Ein anderes Kind berichtet: “Wenn Papa und Mama streiten, dann kann ich nur noch singen und dann höre ich nur noch mich selbst und sonst nichts.” “Ich träume in der Nacht, dass der Papa die Mama aus dem Fenster wirft; er sagt das auch immer! Er sagt: Ich schmeiß dich raus…” “Ich fürchte mich, weil ich meine Mama nicht verlieren will, weil sie immer sagt, sie geht jetzt weg und hat die Nase voll.” “Ich muss immer weinen, wenn der Papa die Mama beschimpft, weil ich ja weiß, dass ihr das weh tut. Warum macht das der Papa?”
Auswirkungen elterlicher Streitereien auf Kinder
Wer ein wenig Einfühlung hat und sich darauf einlässt sich vorzustellen, was Kinder in solchen Situationen empfinden, kann zumindest ansatzweise verstehen, was im Zusammenhang mit Streit für ein Kind gut und zuträglich ist und was nicht. Und noch einmal schwieriger und problematischer wird es, wenn die Kinder in Konflikte hineingezogen werden oder gar als “Kampfinstrumente” genutzt werden. Es geschieht nicht selten, dass Kinder für die Bedürfnisse und Interessen der Eltern missbraucht werden, indem sie in partnerschaftliche Konflikte einbezogen und/oder instrumentalisiert werden.
“Ich muss der Mama helfen! Ich sage ihr immer schon bevor der Papa kommt, wir müssen leise sein!” “Der Papa holt mich dann immer, und sagt ich soll sagen, wen ich lieber mag!” “Am schlimmsten ist es, wenn die Mama dem Papa sagt, dass ich gesagt habe, dass ich sie lieber mag als ihn…” “Mama und ich verstecken uns, und sie sagt mir: Musst keine Angst haben, wir schaffen das schon!”
Die Welt ist für solche Kinder aus den Fugen geraten und sie sind mit einem für sie unüberschaubaren Chaos konfrontiert, in der es keine “Rettungsanker” gibt. Was bleibt, ist eine tiefe Verlorenheit und Traurigkeit. Solche Auseinandersetzungen verunsichern die Kinder nicht nur, sondern sie bleiben als “Verletzungsspuren” tief eingegraben in ihren Seelen zurück. Die Quelle, aus der sie in ihrem zukünftigen Beziehungsleben schöpfen werden, kann dann nur das hervorbringen, was dort angelegt ist. Und dann macht es für den eigenen Lebensweg einen ganz wichtigen Unterschied, ob man gelernt hat, sich in Streitsituationen zu ducken und klein zu machen, den eigenen Standpunkt aufzugeben, sich bedingungslos dem anderen zu unterwerfen und mit Angst alle möglichen Streitquellen zu vermeiden – oder aber sich einem Problem zu stellen und argumentativ vorzugehen, unterschiedliche Sicht- und Verstehensweisen nebeneinander bestehen lassen zu können, Verletzungen zu vermeiden und trotz der Spannungen achtsam und respektvoll mit dem Partner umzugehen. Wie schon am Beginn der Arbeit angeführt, kann Streit nicht vermieden werden, jedoch dürfen dabei nicht Angst, Gewalt, Macht und Demütigung die Regie führen!
Zusammenfassung
Ich denke, dass ich an dieser Stelle nicht weiterschreiben muss und nur einen Ratschlag geben kann: Nehmen Sie sich einfach etwas Zeit und hören und spüren Sie in sich selbst hinein, und ich weiß, Sie werden eine Antwort auf die im Untertitel gestellte Frage: “Was dürfen/ sollen die Kinder davon mitbekommen?” finden! Was ich Ihnen an dieser Stelle wünsche, ist die Kraft, sich in schwierigen Situationen daran zu erinnern, wie schön das Lachen Ihrer Kinder ist und wie gut das Ihnen selber tut!
Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch
- Wenn Kinder trotzen. Hilfe, das Ich meines Kindes erwacht!
- Wenn Essen zum Problem wird! Esstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Autor
Dr. Manfred Hofferer – Vater von 3 Kindern – ist der wissenschaftliche Leiter der Bildungspartner Österreich und u.a. als Berater und Therapeut mit dem Schwerpunkten Erziehung, Entwicklung und Bildung tätig.
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Mag. Dr. Manfred Hofferer
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Erstellt am 5. März 2002, zuletzt geändert am 23. Juni 2015