Keine Angst vor Rat und Hilfe
Ingrid Leifgen
Kinder zu erziehen ist eine anspruchsvolle Aufgabe, ein gutes Familienleben zu führen ebenfalls. Weil Eltern keine Übermenschen sind und nicht alles von vornherein wissen können, haben sie ein Recht, sich Rat zu holen.
“Erziehung ist in unserer Gesellschaft zu einer hoch komplexen Angelegenheit geworden”, meint dazu Paul Glar, Sozialpädagoge und Leiter der Caritas-Erziehungsberatung Aachen. “Wurden einst Kinder wie kleine Erwachsene mit den entsprechenden Pflichten behandelt, so spricht man heute viel über Entwicklungsphasen und die Bedürfnisse von Kindern.” Anders als früher sollen Kinder heute über eine Vielzahl von Fähigkeiten verfügen, damit sie in jeder Lebenslage zurechtkommen. Sie sollen schnell wechselnde Eindrücke verarbeiten, flexibel und anpassungsfähig sein, dabei gleichzeitig selbstbewusst und selbstbestimmt. Diese wenig konkreten Ziele müssen von Eltern mit Inhalt gefüllt werden, erklärt Glar. Sie müssen deshalb ihre Erziehung ständig überdenken. Vor lauter Angst, ihre Kinder in ihrer Entwicklung zu hemmen, überlassen manche Eltern ihnen oftmals unbewusst vorzeitig die Führung. “Dadurch fließt Kindern unterschwellig Verantwortung in einem Maße zu, das sie letztlich überfordert”, beschreibt der Sozialpädagoge das Dilemma.
Wenn Erziehung heute ein so schwieriges Geschäft ist, dann steht es Müttern und Vätern zu, dass sie fachlichen Beistand erhalten – sollte man meinen. Aber so einfach ist die Sache nicht. “Eltern kriegen einen Schreck, wenn sie den Namen Erziehungsberatung hören”, erklärt Paul Glar. “Sie glauben, sie hätten in der Erziehung versagt.” Diese Reaktion kommt vor allem dann, wenn es Profi-Erzieherinnen sind, die die Empfehlung aussprechen. Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen und Lehrer – sie haben das Formen und Bilden von Kindern gelernt. Aber Eltern? Mütter und Väter sind Laien, einen Lehrberuf “Elternschaft” gibt es nicht.
Elternschaft als Lehrberuf? Ein Gedanke, den die meisten Menschen wahrscheinlich verschreckt ablehnen werden. Wenn man Kinder in die Welt setzt, wird man sie wohl auch erziehen können. Das ist, ausgesprochen oder nicht, die Auffassung vieler junger Mütter und Väter. Man ist ja selbst auch groß geworden und orientiert sich unbewusst am Vorbild der eigenen Eltern. Oder beschließt alles das, worunter man gelitten hat, völlig anders zu machen. Dass Erziehung viel mehr ist, wird erst allmählich klar. “Learning by doing” lautet die Devise, und das ist mitunter ganz schön mühsam. Wie oft stillen? Schreien lassen oder nicht? Aufs Töpfchen setzen? Ins Elternbett nehmen? Regeln erfinden, konsequent sein – ein Leben mit Kindern heißt, unzähligen Herausforderungen standzuhalten.
Familie als letzte Sicherheit
In unserer Gesellschaft gilt diese Herausforderung als Privatsache. Früher war die Familie Wirtschaftseinheit, in der jedes Mitglied seinen Beitrag leisten musste. Auf dem Bauernhof, im Handwerk, im Kolonialwarenladen – durch die Arbeit für den Lebensunterhalt wurden die Generationen zusammengehalten. Heute hat die Familie als Ganzes nur noch selten mit dem Broterwerb zu tun. Die Erwachsenen arbeiten irgendwo; die Kinder haben meist keine Vorstellung davon, was sie eigentlich tun. Familie reduziert sich auf rein private Beziehungen. Hier, so hoffen wir alle, finden wir Glück und Geborgenheit. Die Familie soll sich einer Welt entgegenstellen, in der Strukturen sich auflösen und Vieles undurchschaubar ist.
Diese Sehnsucht widerspricht allerdings einem anderen Phänomen: der Individualisierung. In der heutigen Zeit sind Lebenswege nicht mehr vorgegeben, sondern jeder Mensch kann die eigene Existenz scheinbar selbst gestalten. Selbstverwirklichung ist einer der wichtigsten Werte überhaupt. Diese Freiheit, durch die “jeder seines Glückes Schmied” zu sein scheint, wirft uns aber auf uns selbst zurück – und macht ziemlich einsam.
In dieser Welt, in der alles offen ist, bleibt die Familie als letzte, “natürliche” Zuflucht. Enge Bindung und lebenslange Gemeinschaft, wie sie dort ersehnt wird, passen aber mit dem Anspruch auf unbedingte Selbstverwirklichung nicht zusammen. In mühevollster Kleinarbeit muss in der Familie deshalb gerungen werden: Wer macht den Abwasch? Wer bringt den Müll runter? Hast du heute deinen freien Abend oder ich? Wer steht nachts für die Kinder auf? Wer fährt sie wo hin? Und überhaupt, wie sollen sie eigentlich erzogen werden? Die Folgen dieser Auseinandersetzungen lassen sich an den Scheidungsraten ablesen. In dieser Situation reduziert sich die Sicherheit letzten Endes auf die Beziehung zum Nachwuchs. “Das Kind wird zur letzten verbliebenen, unaufkündbaren, unaustauschbaren Primärbeziehung. Partner kommen und gehen. Das Kind bleibt”, erklären die Soziologen Elisabeth Beck-Gernsheim und Ulrich Beck.
Weil die Beziehung zum Kind letzter Rückzug ist, wird sie beinahe “heilig”. Sie muss einfach funktionieren. Wenn das Idealbild aber Risse zeigt, meinen Beck-Gernsheim und Beck, ist die letzte Zuflucht bedroht. Dies sei der Grund, warum viele Menschen selbst größte Schwierigkeiten in der Erziehung aushalten und lieber vertuschen, als sie öffentlich zu machen, indem sie darüber reden – etwa mit Erziehungsberatern oder -beraterinnen.
Schwellenängste sind normal
Kurt Pelzer kennt das Problem. Der Diplom-Psychologe ist Leiter des Psychologischen Beratungszentrums der evangelischen Gemeinde zu Düren. “Bei den meisten Eltern gibt es Schwellenängste, wenn sie in unsere Einrichtung kommen”, weiß er aus Erfahrung. Vor allem bei denen, die “geschickt” wurden, und das sind gut 50 Prozent. Mütter und Väter fürchten sich davor, wildfremden Leuten ihre Hilflosigkeit einzugestehen, ist sich Pelzer sicher. Sie haben Angst, dass ihr Familienleben ausgebreitet wird, dass es “ans Eingemachte geht”. Sie empfinden die Berater, gerade wegen ihrer Kompetenz, als bedrohlich. Die könnten ja herausfinden, dass in der Familie etwas nicht stimmt. Damit ihr privater Raum nicht vollends in Frage gestellt wird, geben manche Eltern lieber anderen die Schuld: “Meine Frau kommt mit dem Jungen nicht klar.” Oder: “Seitdem sie in der neuen Schule ist, dreht das Mädel irgendwie durch.”
Allerdings gibt es einen eklatanten Unterschied zwischen Müttern und Vätern. Zum Erstgespräch, berichtet Kurt Pelzer, kommen fast immer die Mütter. “Bei Männern herrscht noch eher das Prinzip ‘das muss man selbst schaffen’”. Diesen Eindruck bestätigt Paul Glar, der Leiter der Aachener Einrichtung. Väter sähen offenbar viel seltener die Notwendigkeit, Außenstehende in die Erziehung einzubeziehen. Die Angst, als “Versager entlarvt” zu werden, sei bei ihnen weitaus größer als bei den Frauen. “Ich habe den Eindruck, die Väter müssen in Vielem nachgeschult werden”, sagt er. “Wir spüren bei den Frauen oft unausgesprochen den Wunsch, dass wir in der Lage sind, die Väter mit ins Boot zu nehmen”.
Beratung als gemeinsame Suche nach Lösungen
Was denn auch nach Möglichkeit geschieht. In Aachen und Düren – wie in den meisten Beratungsstellen – wird das auffällige Verhalten eines Kindes nicht als das eigentliche Problem gesehen. Vielmehr fragt man danach, warum das Kind “schwierig” ist. In die Suche nach den Ursachen beziehen die Berater möglichst viele Beteiligte ein, auch die Väter. Denn Familie wird heute als ein System gesehen, in dem alle miteinander in Beziehung stehen. Tritt an einer Stelle eine Störung auf, wirkt sich die auf das gesamte System aus. Ein Kind ist dann oft nur “Symptomträger”, weil es mit “merkwürdigem Verhalten” auf die Störung reagiert.
Beraterinnen und Berater sehen Eltern und Kinder folgerichtig als Partner, mit denen sie gemeinsam nach Ursachen und Lösungen suchen. In den meisten Beratungsstellen arbeiten Fachkräfte mit unterschiedlichen Qualifikationen. Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Psychologinnen und Psychologen, Diplompädagoginnen und -pädagogen sowie Musiktherapeutinnen bringen ihre jeweiligen Fähigkeiten ein. Die meisten verfügen außerdem über Zusatzausbildungen wie Spieltherapie, Familien- oder Traumatherapie. Sie arbeiten im Team zusammen, um so zu optimalen Ergebnissen für die Ratsuchenden zu kommen.
Damit erfüllen sie ein wichtiges Kriterium aus dem Katalog von Qualitätsmerkmalen, den die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (bke) zusammengestellt hat. Der Dachverband vergibt das Gütesiegel “Geprüfte Qualität”, wenn eine Einrichtung verschiedene Kriterien erfüllt: Das Beratungsangebot muss für alle Problemlagen offen sein. Das Privatgeheimnis der Ratsuchenden und die Schweigepflicht der Mitarbeiter müssen geschützt sein. In Notfällen wird ein kurzfristiger Termin zur Verfügung gestellt. Die Beratung muss kostenlos sein. Weitere Kriterien, die Verwaltung, Fortbildung der Mitarbeiter und Überprüfung der eigenen Arbeit betreffen, sorgen zusätzlich dafür, dass Eltern sicher sein können, gut beraten zu werden.
Eltern haben ein Recht auf Unterstützung
Das gute Image der Beratung mag mit dazu beitragen, das die Zahl der Klienten Jahr für Jahr steigt. Der Sozialpädagoge Glar sieht es aber so: “Eltern haben ein grundsätzliches Recht auf Unterstützung in ihrer hoch differenzierten Erziehungsarbeit.” In seiner Beratungsstelle ist deshalb jedes Thema willkommen. Oft kann es nämlich helfen, über Alltagsprobleme – Geschwisterstreit zum Beispiel, oder Sauberkeitserziehung – mit Experten zu sprechen. “Bei uns wird jeder ernst genommen”, erklärt Glar. Und nicht selten kann er verunsicherten Eltern am Ende eines Gespräches sagen: “Sie machen Ihre Sache gut.”
Unterstützung ist auch für seinen Kollegen Kurt Pelzer ein wichtiges Stichwort. “Was heißt überhaupt ’schlechte Mutter’?”, fragt er. “Wir ermutigen die Eltern zu mehr Lockerheit. Für Kinder ist es schöner, mit einem Menschen zu tun zu haben, der auch mal einen Fehler macht, als mit jemandem, der immer perfekt ist.”
Weitere Informationen
Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke)
Herrnstraße 53
90763 Fürth
Tel.: 0911/97714-0
Website: Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke): Hier erhalten Sie auch die Adressen der Beratungsstellen in Ihrer Nähe!
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Autorin
Ingrid Leifgen ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Familie und Erziehung. Sie hat drei Kinder.
Erstellt am 2. September 2003, zuletzt geändert am 25. Juli 2013