Einflüsse der Ernährung auf die kindliche Entwicklung

Prof. Dr. Ines Heindl
Iheindl
 

Aus Interesse und Fürsorge für die Ernährung ihrer Kinder stellen Eltern mir seit einiger Zeit vor allem Fragen nach einzelnen Stoffen in der Nahrung, z. B. nach dem Fettgehalt oder den Vitaminen und Mineralstoffen. Die Sorge um die Vitaminversorgung für Wachstum, körperliche Entwicklung und, nicht erst seit PISA, die geistige Leistungsfähigkeit scheint größer zu sein, als es der Ernährungslage unserer Kinder und Jugendlichen heute entspricht.

Inhalt

Was Kinder essen und was sie essen sollten

In der Evolution wurde der Mensch durch seine biologische Ausstattung besser auf Hunger als auf einen Nahrungsüberfluss vorbereitet. Auf dem Weg von diesem “Hungerkünstler” zum zivilisierten Esser bleiben jene Menschen auf der Strecke, die nicht lernen, sich den jeweiligen Lebensbedingungen entsprechend anzupassen. Übergewicht durch Überernährung in den USA – 60% der Bevölkerung sind dort betroffen – und in Ländern Europas ist eine der Folgen falscher Nahrungsauswahl und Hauptrisikofaktor der meisten Zivilisationskrankheiten in Überflussgesellschaften. Die zunehmende Fettleibigkeit, bereits bei Kindern, beschäftigt ganz besonders Mediziner und Ernährungswissenschaftler in Wohlstandsländern (vgl. Heindl 2003). So genannte Verzehrstudien helfen dabei, das dahinter stehende alltägliche Essverhalten der Menschen zu erfassen.

DONALD-Studie

Wie bereits erwähnt, scheint im Bewusstsein vieler Eltern die Versorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen das wesentliche Problem bei der Ernährung ihrer Kinder zu sein. Die Zufuhr dieser Nährstoffe entsprach in der Donald-Studie (Dortmund Nutritional and Anthropometrical Longitudinally Study; wurde von 1985 bis 1995 mit Kinder und Jugendlichen im Alter von 4 – 18 Jahren durchgeführt; vgl. Alexy/ Kersting 1999), von Ausnahmen abgesehen, weitgehend den deutschen oder neueren internationalen Empfehlungen. Aus präventivmedizinischer Sicht, also zur Vorbeugung von Krankheiten, waren dagegen hinsichtlich der energieliefernden Nährstoffe Protein, Fett und Kohlenhydrate vielfache Verbesserungen angezeigt: Die Kinder und Jugendlichen der Studie hatten ca. ab dem 2. Lebensjahr dieselben Verzehrsmuster wie Erwachsene in Deutschland, d.h. der Protein-, Fett- und Zuckerverzehr war zu hoch, der Verzehr von Kohlenhydraten insgesamt, vor allem Stärke und Ballaststoffen, jedoch zu niedrig. Einzelne Ergebnisse der Studie verdienen es, näher betrachtet zu werden:

  • Die Wasseraufnahme bei jüngeren Kindern war zu niedrig. Die Befragung von Müttern ergab einen Zusammenhang zwischen der Beschränkung von Getränken und der Sauberkeitserziehung einerseits und andererseits der erhofften höheren Nahrungsaufnahme bei Tisch. Dabei wird die Wirkung der Erziehungsmaßnahme überschätzt und die Langzeitwirkung derartiger Eingriffe in die Selbstregulation der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme unterschätzt.
  • Fleisch und Wurstwaren trugen zu einem wesentlichen Teil zur hohen Fettzufuhr, hier vor allem an gesättigten Fettsäuren, bei. Fettkalorien sind eine der Hauptursachen für die Entstehung von Übergewicht.
  • Bis zu 20% der Fettzufuhr und der gesättigten Fettsäuren stammten aus “süßen Fettigkeiten” , wie Süßigkeiten und Gebäck.
  • Kinder und Jugendliche essen mehr Obst als Gemüse, vermutlich wegen der Bevorzugung des süßen Geschmacks. Ein wesentlicher Teil des Obstes wurde als Saft getrunken. Durch hohe Anteile an Säften verringerten sich die Gehalte an Ballaststoffen und sekundären Pflanzenstoffen. Mädchen aßen mehr Obst als Jungen; dies bestätigt ein insgesamt gesundheits- und kalorienbewussteres Essverhalten der Mädchen.
  • Vollkornprodukte wurden nur selten gegessen. Dies hat Einfluss auf die Versorgung mit den Vitaminen B1 und B6. Sensorische Tests deuten darauf hin, dass das Aussehen von Vollkornprodukten (dunkel, bräunlich) bei Kindern und Jugendlichen die Akzeptanz mehr beeinflusst als der Geschmack.
  • Bei den Mineralstoffen zählten Kalzium, Eisen und Jod zu den kritischen Nährstoffen. Bei Kalzium wurden weder die deutschen noch die internationalen Zufuhrempfehlungen erreicht. Eine Erhöhung des Verzehrs von Milch und Milchprodukten wäre die einfachste und effektivste Maßnahme zur Verbesserung der Lage. Gleichzeitig käme es zu einer höheren Zufuhr von Vitamin B2.
  • Zur Verbesserung der Eisenversorgung bei Kleinkindern und weiblichen Jugendlichen empfehlen die Autorinnen, Vollkorngetreide als zusätzliche Quelle zu nutzen, da der Verzehr an Fleisch und Wurstwaren bereits den Empfehlungen entspricht.
  • Die Zufuhr von Jod war in allen Altersgruppen zu niedrig. Neben jodiertem Speisesalz bildet Fisch eine Hauptjodquelle.
  • Die Zufuhr von Vitaminen war insgesamt zufrieden stellend.

Es ist an dieser Stelle nicht nötig, die Erkenntnisse weiterer Verzehrstudien vorzustellen, denn zusammenfassend führen die Ergebnisse zu sehr einfachen und klaren Empfehlungen darüber, was Kinder essen sollten (siehe Tabelle 1). Ähnliche Aussagen der Experten wiederholen sich und zeigen deutlich, was wir essen sollten, was Kinder und Jugendliche brauchen.

Tabelle 1: Ernährungsempfehlungen für Kinder und Jugendliche (Zusammenstellung von Helmut Heseker, Universität Paderborn, anlässlich eines Vortrags vor dem Bundeselternrat, 2003)

Ernährungsempfehlungen für Kinder und Jugendliche

  • abwechslungsreiche, fettarme und schmackhafte Lebensmittelauswahl… geringe Gefahr einer Unter-/Überdosierung

    …  stärkere Geschmacksdifferenzierung

  • reichlich ungesüßte oder wenig gesüßte Getränke (Obstsaftschorlen, [Mineral-]Wasser, Tees)
  • täglich frisches Obst und Gemüse
  • täglich eiweißreiche Milch und Milchprodukte
  • regelmäßig mageres Fleisch, Fisch, Eier
  • Frühstückscerealien (Getreide, Müsli, Haferflocken etc.)

Woran liegt es dann, dass ein Befolgen dieser Empfehlungen im Alltag so schwer fällt? Da die Umsetzung der vorstehenden Empfehlungen von Heseker (2003), aber auch Anregungen zum Kochen für und mit Kindern, in den vertiefenden Literaturhinweisen am Ende des Betrags zu finden sind, möchte ich mich auf Erklärungen beschränken, die in heutiger Zeit helfen zu verstehen, warum Kinder und Jugendliche so essen, wie sie essen.

Warum Kinder essen wie sie essen

Untersuchungen zum Essverhalten von Kindern und Jugendlichen fragen meist nach dem “Was”, seltener nach dem “Wie” gegessen wird. Vor dem Hintergrund einer konsumorientierten Nahrungsauswahl essen Kinder heute anders als noch vor 20 Jahren. Die schöne neue Welt der Lebensmittelindustrie ist vor allem in Gesellschaften des Nahrungsüberflusses offen für Projektionen von Gefühlen und Wünschen – wie Lust, Ängsten und dem Bedürfnis nach Sicherheit, Identität und Gruppenzusammengehörigkeit. Wahrnehmungen und Erfahrungen heutiger Esskultur in reichen, industrialisierten Ländern lassen sich laut Ulrich Spiekermann (1999) wie folgt erfassen.

Wir sind Konsumenten, keine Nahrungsproduzenten mehr. Wir essen keine selbst erzeugten Lebensmittel mehr, sondern Produkte, deren Herkunft, Produktion und Verteilung zunehmend undurchschaubar werden.

Zwang und Notwendigkeit haben abgenommen, Speisen zuzubereiten. Ein Großteil heutiger Produkte ist verarbeitet, muss allenfalls erwärmt und schließlich nur noch gegessen werden. Der Prozess von Einkaufen, Zubereiten, Verzehren und Verdauen in der Konzentration auf das Essen verlangt neue Kenntnisse und Entscheidungsfähigkeiten, die das Selbst-Kochen verdrängen.

Individuelle Entscheidungsspielräume ersetzen herkömmliche Verpflichtung. Sozioökonomische Rahmenbedingungen und die Pluralität der Lebens- und Arbeitsformen haben heute die Entscheidungsspielräume des Einzelnen erweitert. Regelmäßig, zu festen Zeiten zu kochende Mahlzeiten gehen auf Kosten der Flexibilität. Fertiggerichte und Essen außer Haus entpflichten vor allem Frauen von zeitgebundenen häuslichen Tätigkeiten.

Somit reicht die Emanzipation bis in die Küche; man spricht von einem “Trendsetting” aus Inkompetenz. Wenn auch die Rollenverteilung bei jüngeren Paaren nach wie vor stereotype Muster aufweist und Frauen noch immer mehr mit Hausarbeit beschäftigt sind, so nähern sich die Lebens- und Ernährungsstile von Männern und Frauen einander an. Dabei scheinen Männer “Trendsetter aus Inkompetenz” zu werden, denn sie wissen weniger über Nahrung und Ernährung, konsumieren weit mehr Fertiggerichte und essen häufiger außer Haus. Frauen übernehmen diese Stile, weil sie aus der traditionellen Rolle von Hausfrau und Mutter ausbrechen und männlichen Karrieremustern folgen.

Die Nahrung hat sich qualitativ verändert, sie wirkt quasi entstofflicht. Lebensmittel werden industriell verarbeitet; sie gelangen verarbeitet in den Handel. Nahrung erscheint dann verpackt und macht die ursprünglichen Lebensmittel unsichtbar. Die Produkte werden kommerziell präsentiert, als Teil einer künstlichen Gesamterscheinung. Auswirkungen dessen beobachtet man bei Kindern, die nicht mehr wissen, wo Butter, Milch und Brot herkommen. Nudeln, Pommes frites u. ä. haben keinen Bezug mehr zu Getreide und Kartoffeln.

Essen entgleitet den Sinnen durch verpackte Ware und Geschmacksstandards. Essen als umfassende sinnliche Erfahrung durch Sehen, Ertasten, Hören, Riechen und Erschmecken kann nur noch teilweise von den Menschen selbst bestimmt werden. Überwiegend verarbeitete und verpackte Ware, gewürzte Fertiggerichte und insgesamt bestimmende gesetzliche Vorschriften vermindern die Möglichkeiten geschmacklicher Vielfalt.

Die Bedeutung funktioneller Lebensmittel und von Nahrungsergänzungsmitteln hat zugenommen. Behauptungen wie, herkömmliche Lebensmittel leisteten nicht mehr die Versorgung mit essentiellen Nährstoffen, verunsichern auch Eltern und lassen sie für ihre Kinder nach Ergänzungen greifen. Arzneiliche Darreichungsformen, in Form von Pillen und Pulvern, sowie Funktionelle Lebensmittel, z. B. prä- und probiotische Milchprodukte, überschwemmen die Märkte.

Moderne Lebensmittel werden zu Projektionen von Wünschen des Alltags. Industrie, Marketing und Handel – aber auch die Wissenschaft – versehen Nahrung mit einem Image. Vor allem Frische und Natürlichkeit werden mit Bildern von traditionell gesunder Küche und Heimatgefühl verkauft.

Persönliche und kulturelle Identitätssuche erfolgt auch über die Nahrung und das Essen. Medien und Werbung setzen bekannte Persönlichkeiten aus Sport und Gesellschaft ein, die sich und ihr Lebensgefühl über Produkte verkaufen. Vor allem Kinder und Jugendliche nehmen diese Angebote zur Identifizierung gerne an, denn derartige Werbung richtet sich gezielt an die Lebensabschnitte der Neuorientierung und Identitätssuche, zur Ablösung von Traditionen und zur Schaffung kollektiver Identitäten.

Kinder sind diesen Veränderungen und fremdbestimmten Einflüssen in mehrfacher Hinsicht ausgesetzt: Als Säuglinge und Kleinkinder sind sie auf die Versorgung durch andere Menschen angewiesen. Auswirkungen von Nicht-mehr-kochen-können, Convenience-Food, geschmacklichen Einheitsstandards usw. erreichen sie unmittelbar. Später verstehen es Marketing und unlautere Werbung, sie an Produkte wie Nuss-Nugat-Cremes, Milchschnitten und süße Erfrischungsgetränke zu binden. Diskussionen nach PISA und IGLU werden gleichermaßen schamlos – “zum Besten” für die Kinder – genutzt, über Botschaften gerichtet an Eltern:

  • Süßes steigert Leistungsfähigkeit und mentale Power.
  • Den IQ verbessern – mit richtiger Ernährung!

Um es sehr deutlich zu sagen: “Anzunehmen, dass eine unmittelbare Leistungssteigerung durch den erhöhten Verzehr bestimmter Lebensmittel zu erreichen sei, wäre ein Missverständnis des Zusammenhangs von Nahrung und geistiger Leistung. Es gibt kein Lebensmittel, das die Leistung in bestimmten Schulfächern, zum Beispiel Mathematik, direkt verbessern könnte” (Kaiser/ Kersting 2001, in einem Beitrag über die Wirkung des Frühstücks auf die kognitive Leistungsfähigkeit von Kindern; Zeitschrift Ernährung im Fokus, Heft 1).

Was hat Nahrung mit Entwicklung zu tun?

Der Pädagoge Werner Loch sprach 1983 in seinem Aufsatz über Stufen kindlichen Lernens von Phasen der

  • Erziehung durch Ernährung,
  • Erziehung durch Pflege und Fürsorge,
  • Erziehung durch Gewöhnung.

In der ersten frühkindlichen Phase geht es darum, dass das Neugeborene am Leben erhalten wird und wachsen kann; somit dominiert die Nahrung zunächst alles. Hunger wird als unangenehm erlebt. Der Körper eines schreienden Säuglings ist angespannt und verlangt nach Nahrung. Im Vorgang des Stillens oder Nährens vollzieht sich Entspannung, die jeder kennt, der einem Säugling je Nahrung gegeben hat. Durch das Einverleiben von Nahrung erwirbt der Säugling frühzeitig das Vertrauen in diesen wiederkehrenden Akt, in wohlwollende Zuwendung. Diese Interaktion zwischen Mutter und Kind hat den Sinn, dass das Kind lernt – nachdem es den Mutterleib verlassen hat -, sich in seinem Körper wohl zu fühlen. Hieraus entstehende Stärkung und Wachstum sind gleichermaßen körperlich und seelisch; nach Werner Loch sollte dies die Basis für jede weitere Stufe kindlicher Entwicklung und Erziehung darstellen.

Meine Beratungserfahrung mit Essgestörten zeigt immer wieder, dass offensichtlich schon früh Essen und Esssituationen nicht positiv erlebt wurden. Wohlige Gefühle von Spannung und Entspannung zwischen Hunger, Appetit und Sättigung werden vor allem von Mädchen und Frauen selten beschrieben.

Essen und Trinken bleiben dennoch in erster Linie sinnliche Erfahrungen zwischen Lust- und Ekelgefühlen, ohne die wir in der Evolution nicht überlebt hätten. Jedoch bewegen wir uns mit diesen Fähigkeiten zwischen den Produkten des heutigen Überangebots an Nahrung.

Vom Sinn der Sinne

Fragt man die Menschen nach ihren Essmotiven, so sind die Antworten vielfältig: Genuss, Hunger, Gewohnheit, kulturelle und traditionelle Einflüsse, Neugier, Angst, Gesundheit, Fitness, Schönheit (vgl. Pudel 2002). Unter dem zuerst genannten Motiv antworten Kinder viel häufiger als Erwachsene: “Weil es schmeckt!”

“Es ist keine Kunst, süß von sauer, salzig von bitter zu unterscheiden. Darin liegt auch nicht der Sinn der Sinne. Dieser liegt vielmehr darin, süß von süß, sauer von sauer, bitter von bitter zu unterscheiden; und darin, das Bittere in Süßem, das Saure in Salzigem zu erschmecken. Der Sinn bewährt sich darin, in dem gleichförmig Erscheinenden Vielfältigkeit wahrzunehmen. Im Einerlei das Mannigfache, wie umgekehrt im Mannigfachen das einende Eine zu erkennen. Die Sinne sind gerichtet auf das Erspüren von Spuren, von einem Fast-Nichts, von Nuancen. Und auch nur dann können die Sinne sich entfalten zu dem, was sie sind, wenn sie zur Wahrnehmung von Spuren beansprucht werden” , sagte Kükelhaus schon 1954.

In diesem Punkt behindert der standardisierte Geschmack von Convenience Food, Fast Food u. ä. subjektive Wahrnehmungen einer unerschöpflichen Sinnesvielfalt. Vor allem Riechen und Schmecken lassen sich nicht auf “einfältige” Geschmacksstandards reduzieren. Und dennoch, das ist es genau, was eine “Flavor” -Industrie (Entwicklung von Geschmackszutaten) will: den Verbraucher, vor allem Kinder, frühzeitig an Fertigprodukte und Fast-Food-Standards binden: “Wenn Sie ein zweijähriges Kind für Ihr Produkt gewinnen und bis zum Alter von acht Jahren unablässig mit Werbung bombardieren, wird es sein Leben lang ein treuer Konsument bleiben” (Kevin O´Leary, Ex-Chef einer Bildungs-Software-Firma, USA. Aus: Greenpeace Magazin, Heft 1, 2003).

Kinder können nahezu alles an Geschmack lieben lernen – Süßes, Gewürztes, von den traditionellen Speisen der Völker bis zu Fast Food – je nachdem, was im sozialen Umfeld gegessen wird (vgl. Schlosser 2002) sowie für Kinder emotional und aufgrund erlebter Essatmosphäre zu Hause oder anderswo positiv besetzt ist. Darin liegen Chancen, auch für Eltern.

“Wir haben die Sinne nicht…”

“…so wenig wie den Verstand. Was der Mensch in seinen Sinnesorganen mitbringt, sind unausgebildete Möglichkeiten, die in der heutigen Gesellschaft verkümmern” . Dieses Zitat geht auf den Philosophen Georg Picht (1986) zurück. Er weist alle, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, darauf hin, dass zur Entwicklung des Menschen die Entfaltung seiner Sinne gehört. Es gibt wohl keine Alltagserfahrung – wie das Essen und Trinken -, die so kontinuierlich und umfassend alle Sinne gleichzeitig anspricht. Daraus ergibt sich für das Essen-Lernen:

  • Vor allem Kinder wollen in lustvoller, guter Atmosphäre essen.
  • Kinder essen unterschiedlich große Mengen von Tag zu Tag. Ein gesundes Kind, das sich gerne bewegt, braucht nicht zum Essen angehalten zu werden.
  • Kinder sollten reichlich trinken dürfen.
  • Sie brauchen zur Entfaltung ihrer Sinne ein Angebot an Nahrung, das langsam an die Vielfalt in Geruch, Geschmack, Konsistenz, Aussehen und Hörerlebnissen heranführt.
  • Sie brauchen vor allem Geruchs- und Geschmackserlebnisse für ihr sensorisches Gedächtnis.
  • Essen und Atmosphäre, als gespeicherte Düfte und Gerüche der Erinnerung, sind von lebenslanger Bedeutung für das, was schmeckt.
  • Wenn diese Aspekte in den Familien stimmig sind, dann ist meist auch ein vielfältiges Nahrungsangebot gewährleistet, dass den Empfehlungen von Heseker (s.o.) entspricht.

Bei den Ergebnissen von PISA und IGLU wurde leider versäumt, darauf hinzuweisen, dass jedes Lernen zunächst durch die Sinne geht. Kindertagesstätten und Schulen haben längst entdeckt, welche wichtige Rolle genussvolle Essenangebote für die Spiel- und Lern-Atmosphäre einer Einrichtung spielen. Finnische Schulen, die seit PISA zu Vorbildern für deutsche Schulen aufgestiegen sind, bestätigen auch dieses.

Zum Schluss und nicht zuletzt: Wenn sich nun in erster Linie Frauen angesprochen fühlen, für genussvolle Speisen ihrer Kinder zu sorgen, so sei hinzugefügt: Es geht um Qualität, nicht um Quantität. Berufstätige Männer und Frauen mit Familienhaushalten werden gemeinsam sinnvolle Organisationskonzepte für den Alltag entwickeln müssen, unter Einbeziehung auch externer Verpflegung. Einkauf und Zubereitung von Nahrung zu Hause, Essen am Arbeitsplatz, in Tagesstätten und Schulen lassen auch bei schnellen Gerichten Spielraum für Qualität in der Vielfalt und Einflussmöglichkeiten auf Verpflegungskonzepte. Ein veränderter Blickwinkel durch sinnlich anregende Speisen und eine gemeinsam gestaltete genussvolle Atmosphäre kann auch zu Hause für Entspannung sorgen. Bereits jüngere Kinder können und wollen beteiligt werden, wie Donata Elschenbroich (2001) in ihrem Buch über das “Weltwissen der Siebenjährigen” deutlich macht. In der Hoffnung, dass dieser Beitrag mit den nachfolgenden Literaturempfehlungen hierzu beitragen kann, wünsche ich allen Leserinnen und Lesern viel Freude und gutes Gelingen bei der Umsetzung neuer Ideen, bis in die Küche hinein!

Literatur

  • Betteray, C. von (2002): Lern-Vitamine – besser lernen durch gesunde Ernährung. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor
  • Cramm, D. von (2002): Kinder Koch-Alphabet – Infos + Rezepte = Kochspaß. München: Gräfe und Unzer Verlag
  • Eligmann, B./Iwan, A. (2002): Die Knirpsküche. Reinbek: Wunderlich, Rowohlt Verlag
  • Elschenbroich, D. (2001): Weltwissen der Siebenjährigen – Wie Kinder die Welt entdecken können. München: Kunstmann Verlag
  • Heindl, I. (2003): Studienbuch Ernährungsbildung – Ein europäisches Konzept zur schulischen Gesundheitsförderung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag
  • Meier-Ploeger, A./Stockmayer, K./Lange, M. (1999): Fühlen wie´s schmeckt – Sinnesschulung für Kinder. Ein Handbuch für Erzieherinnen und alle Interessierten. Künzell: Verlag food media
  • Meier-Ploeger, A./Götze, A./Lange, M. (1999): Fühlen wie´s schmeckt – Sinnesschulung für Kinder und Jugendliche. Ein Handbuch für Lehrkräfte und alle Interessierten. Künzell: Verlag food media
  • Pudel, V. (2002): So macht Essen Spaß! Ein Ratgeber für die Ernährungserziehung von Kindern. Weinheim: Beltz Verlag
  • Spiekermann, U.: Esskultur heute – Was, wie und wo essen wir? In: Gesunde Ernährung zwischen Natur- und Kulturwissenschaft. Münster: Rhema Verlag 1999, S. 48-50
  • Thorbrietz, P. (2002): Kursbuch gesunde Kinder-Ernährung. München: Zabert Sandmann Verlag

Autorin

Prof. Dr. Ines Heindl
Universität Flensburg
Institut für Ernährungs- und Verbraucherbildung i. Gr.
Auf dem Campus 1
24943 Flensburg

Tel.: 0461/8052359

E-Mail
 

Erstellt am 9. Juli 2003, zuletzt geändert am 16. März 2010

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