Migräne bei Kindern

Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft

Kindliche Kopfschmerzen sind in den letzten Jahren zunehmend in das Interesse der Medizin gerückt, nachdem sie lange Zeit nicht von Kopfschmerzen im Erwachsenenalter differenziert worden waren. Die Diagnose kindlicher Kopfschmerzen stellt in der kinderärztlichen Praxis immer ein spezifisches Problem dar, somit kann sie nur durch einen Kinderarzt selbst gestellt werden. Kopfschmerzen im Kindesalter werden formal genauso wie im Erwachsenenalter nach den Kriterien der International Headache Society (IHS) klassifiziert.

Die Therapie der Migräne bereitet im Alltag häufig Schwierigkeiten, obwohl inzwischen auch für Kinder Perspektiven einer pragmatischen Behandlung zur Verfügung stehen. In der Langzeitperspektive ist dabei zu berücksichtigen, daß die Migräne nach Erstmanifestation im Kindesalter bei ca. 50% der Patienten auch im Erwachsenenalter weiterbesteht. Familiäre Belastungen, unkontrollierte Selbstmedikation und Chronifizierung bedingen ein erhöhtes Risiko für Analgetikamißbrauch, medikamentös induzierte Dauerkopfschmerzen und Analgetika-bedingte Komplikationen wie z.B. Nierenversagen. Rezidivierende oder chronische Kopfschmerzen müssen deshalb auch schon im Kindesalter frühzeitig, grundlegend und wirksam behandelt werden.

Epidemiologie

Es gibt Hinweise darauf, daß die Häufigkeit von Kopfschmerzen bei Kindern während der letzten 30 Jahre deutlich zugenommen hat. Schon im Vorschulalter klagen annähernd 20% der Kinder über gelegentliche Kopfschmerzen, am Ende der Grundschulzeit haben weit mehr als die Hälfte aller Kinder nach skandinavischen und deutschen Studien Kopfschmerzerfahrungen.

Die Lebenszeithäufigkeit von Migräne liegt bei Kindern bis zum ca. 12. Lebensjahr zwischen 3,7% und 10,6%, darunter zwischen 1,5% und 2,8% Migräne mit Aura mit einem annähernd ausgeglichenen Geschlechtsverhältnis. Untersuchungen an fast 7.000 deutschen Schülern haben gezeigt, daß ca. 90% bis zum 12. Lebensjahr Kopfschmerzerfahrungen haben und daß es sich dabei in ca. 60% um Kopfschmerzen vom Spannungstyp und bei ca. 12% um Migräne handelt. Etwa 30% der kindlichen Kopfschmerzen entziehen sich (noch) einer eindeutigen Klassifikation. Geschlechtsunterschiede – speziell bei der Migräne – spielen im Kindesalter keine wesentliche Rolle.

Ausschlaggebend für die Therapiebedürftigkeit ist der mit den Kopfschmerzen verbundene Leidensdruck, der insbesondere dann angenommen werden kann, wenn die Kopfschmerzen häufig auftreten, stark sind oder lange anhalten und zu wiederholtem Schulausfall oder regelmäßiger Schmerzmitteleinnahme führen. Der Leidensdruck bei Mädchen steigt dabei vor der Pubertät deutlicher als bei Jungen an.

Zusammenfassend ist die Kopfschmerzproblematik bereits im Kindes- und Jugendalter von weitreichender gesundheitspolitischer Bedeutung.

Dokumentation

Voraussetzung für eine sinnvolle Therapie der Migräne ist das Führen eines geeigneten Kopfschmerzkalenders. Darin sollten die Symptomstärke und Begleitsymptome sowie deren Auslöser und Auswirkungen eingetragen werden. Ein Beispiel dafür ist in dem Buch “Kopfschmerzen im Kindesalter” von R. Pothmann (Hippokrates-Verlag, Stuttgart 1999) dargestellt. Kind und Eltern sollten die Kopfschmerzdauer, Schmerzstärke, Begleitsymptome und Medikation über einen Zeitraum von 4 bis 6 Wochen unabhängig voneinander dokumentieren. Erfahrungsgemäß führt die strukturierte Wahrnehmung und Dokumentation selbst bei länger bestehenden und häufig wiederkehrenden Kopfschmerzattacken in einigen Fällen zu einem Rückgang der Migräne.

Therapie der Migräne

In diesem Kapitel werden die Therapieverfahren für Migräne im Kindesalter in Empfehlungen zusammengefaßt. Die resultierenden Leitlinien (insbesondere im Bereich der medikamentösen Akuttherapie und nicht-medikamentösen Prophylaxe) können in Teilen auch auf andere Kopfschmerzformen übertragen werden.

Klinisches Bild

Migräne im Kindesalter wird aufgrund derselben Kriterien diagnostiziert wie im Erwachsenenalter; im Kindesalter kann eine Migräneattacke jedoch kürzer sein als die für Erwachsene geforderte Mindestdauer von 4 Stunden. Typisch für das Kindesalter ist es auch, daß Kinder nicht selten im Verlauf einer Migräneattacke einschlafen und nach kurzer Schlafzeit weitgehend beschwerdefrei wieder erwachen. Häufig stehen im Kindesalter Begleitsymptome des Magen-Darm-Trakts im Vordergrund.

Therapie der akuten Migräneattacke

Für die meisten Kinder ist bei leichten Verlaufsformen mit seltenen Anfällen ein abwartendes Verhalten sinnvoll. Häufig helfen schon reizabschirmende Maßnahmen wie Hinlegen in einem abgedunkelten und akustisch gedämpftem Raum. Unterstützend wirkt sich oft ein kalter Lappen auf der Stirn aus. Auch kann lokales Einmassieren von Pfefferminzöl an Schläfe, Scheitel und Nacken helfen, leichte bis mittelstarke Kopfschmerzen effektiv zu linden. Mögliche individuelle Auslöser von Migräneattacken müssen erfragt werden. Hinweise ergeben sich oft schon aus einem gut ausgefüllten Kopfschmerzkalender. Hierdurch eröffnet sich die Möglichkeit, günstigere Verhaltensweisen mit dem Kind zu besprechen.

Für die medikamentöse Akuttherapie der Migräneattacke im Kindesalter werden Ibuprofen (10 mg pro kg Körpergewicht) und Paracetamol (10-20 mg pro kg Körpergewicht) empfohlen. Als Ausweichpräparat kann Dihydroergotamin oral gegeben werden. Für schwere und durch die o.g. Medikamente nicht beherrschbare Attacken wird intranasales Sumatriptan (20 mg) empfohlen. Bei Jugendlichen ab dem 12. Lebensjahr kann evt. auch Zolmitriptan 2,5 mg wirksam sein. Als Mittel zur Behandlung der Übelkeit und zur Resorptionssteigerung der nachfolgend verabreichten Analgetika wird Domperidon empfohlen

Medikamentöse Prophylaxe der Migräne

Im Einzelfall ist auch im Kindesalter eine medikamentöse Prophylaxe der Migräne möglich, wenn z.B. eine Frequenz von mehr als zwei Migräneattacken pro Monat, hoher Leidensdruck durch häufiges Schulversäumnis, sehr starke Schmerzen, lange Anfallsdauer (>48 Stunden) und fehlende Wirksamkeit einer geeigneten Akutbehandlung auftreten. Die zur Einleitung einer medikamentösen Prophylaxe führenden Kriterien sollten durch einen Migränekalender gut belegt sein.

Die Prophylaxe sollte über einen Zeitraum von 3 bis 6 Monaten erfolgen. Für die medikamentöse Prophylaxe der Migräne im Kindesalter sind Flunarizin (10 mg pro Tag) und Propranolol (ca. 60 mg pro Tag) geeignet. Flunarizin muß dabei als die am besten untersuchte wirksame Substanz für das Kindesalter gelten.

Nicht-medikamentöse Prophylaxe der Migräne

Unter den Therapeuten, die sich mit der Behandlung der kindlichen Migräne beschäftigen, besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß nicht-medikamentöse prophylaktische Maßnahmen, insbesondere verhaltensmedizinische Verfahren, bei Kindern eine sehr hohe Erfolgsrate aufweisen.

Die erfolgreichen verhaltensmedizinischen Verfahren bei kindlichen Kopfschmerzen lassen sich drei Hauptgruppen zuordnen:

  1. Entspannungsverfahren wie die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson und Phantasiereisen sowie mit Einschränkungen das Autogene Training
  2. Biofeedback-Verfahren (Hauterwärmungstraining, Vasokonstriktionstraining, EMG-Feedback)
  3. Verhaltensmedizinische “Multikomponentenprogramme” , die neben den beiden erst genannten Therapieansätzen das Erlernen von Streß- und Schmerzbewältigung und das Reizverarbeitungstraining in den Mittelpunkt der Behandlung stellen. Diese Programme berücksichtigen neben dem Erlernen von Techniken auch die Elternarbeit und die Edukation.

Bei der progressiven Muskelrelaxation lernen die Kinder die verschiedenen Muskeln ihres Körpers kennen, spannen sie sukzessiv für kurze Zeit an und entspannen sie dann wieder. Sie wird im Kindesalter durch Imaginationsaufgaben (z.B. Phantasiereisen) erweitert.

Das autogene Training ist wenig wirksam und für Kinder unter 10 Jahren nicht empfehlenswert. Bei ihm wird die Entspannung durch eine Aufmerksamkeitslenkung auf den Körper erreicht, verbunden mit Vorstellungen von z.B. Wärme und Schwere.

Bei den Biofeedback-Verfahren werden meistens die Spannung des M. frontalis oder M. temporalis und die Hauttemperatur, seltener der Diameter der A. temporalis aufgezeichnet und den Kindern akustisch oder optisch zurückgemeldet. Die Kinder erlernen dann, diese Signale zu beeinflussen.

Verhaltensmedizinische Multikomponentenprogramme sind meist aus folgenden Bausteinen zusammengesetzt:

  • Aufklärung über die Kopfschmerzen, Entwicklung eines einfachen Schmerzmodells (Edukation)
  • Erkennen von Auslösern durch Führen eines Kopfschmerztagebuchs
  • Erlernen eines Entspannungsverfahrens (alternativ oder additiv Biofeedback)
  • Erkennen eines Zusammenhangs zwischen Streß- bzw. Reizsituationen und körperlichen Reaktionen
  • Erlernen von Streßbewältigung bzw. Reizverarbeitung wie Erkennen negativer Gedanken, kognitive Umstrukturierung, gedankliche Schmerzkontrolle, Selbstsicherheit, Problemlösestrategien
  • Erlernen spezieller Schmerzbewältigung wie z.B. Aufmerksamkeitsumlenkung
  • Informationen für Eltern

Es liegt eine Reihe von Studien zum Einsatz psychotherapeutischer Verfahren bei kindlichen Kopfschmerzen vor. So hat sich gezeigt, daß Entspannungsverfahren und Biofeedback-Verfahren vergleichbar effektiv sind in der Beeinflussung von Kopfschmerzen im Kindesalter. Die Entspannungsverfahren haben den Vorteil, daß die Kinder von Geräten unabhängig sind und sie direkt im Alltag, z.B. vor oder gar während einer Klassenarbeit, eingesetzt werden können. Die Biofeedback-Verfahren sind für Kinder motivierend, da sie an dem heutigen Medienverhalten ansetzen. Evaluierte verhaltenstherapeutische Programme liegen ebenfalls vor.

Alle Programme können therapeutengeleitet in einem Einzelkontakt oder in einer Gruppe durchgeführt werden. Studien, die die Überlegenheit eines bestimmten Settings belegen, liegen nicht vor. Eine 1995 publizierte Übersicht, die die verhaltenstherapeutischen und pharmakologischen Verfahren zur Prophylaxe kindlicher Migräne evaluiert hat, ist zu dem vorläufigen Ergebnis gekommen, daß die verhaltenstherapeutischen Verfahren statistisch eine ähnliche Wirksamkeit wie die pharmakologischen Verfahren aufweisen. Gegenüber den pharmakologischen Verfahren haben verhaltensmedizinische Techniken wahrscheinlich eine bessere Langzeitwirkung.

Es gibt Hinweise, daß eine oligoantigene Ernährung bei Kindern zu einer Senkung der Migränefrequenz und -intensität führen kann. Diese Verfahren zeigten sich insbesondere bei Kindern mit einer hohen Migränefrequenz (wenigstens einmal pro Woche) und weiteren Begleitsymptomen als wirksam. Das Fortlassen folgender Nahrungsbestandteile hatte statistisch einen positiven Einfluß auf Migräne bei Kindern: Kuhmilch, Lebensmittelfarbstoffe, Konservierungsstoffe, Schokolade, Weizenmehl, Eier, Käse, Tomaten, Fisch, Schweinefleisch, Soja.

In jedem Fall muß individuell ausgetestet werden, welche Nahrungsbestandteile zu einer Verstärkung der Migräne führen können und inwieweit eine entsprechende Eliminationsdiät tatsächlich den gewünschten Erfolg hat. Welche Mechanismen in diesem Zusammenhang die Migräne beeinflussen, ist nicht belegt. Möglicherweise ist hier zusätzlich auf Verhaltensebene auch die veränderte Familieninteraktion wirksam.

Für die Akupunktur liegen bislang für das Kindesalter nur unzureichend aussagefähige Studien vor, die allerdings auf eine prophylaktische Wirksamkeit hindeuten. Wie auch bei Erwachsenen kann keine abschließende Empfehlung für Akupunktur bei kindlicher Migräne gegeben werden, eine Wirksamkeit ist jedoch möglich. Sowohl für die Ernährungsberatung als auch für die Akupunktur bei kindlicher Migräne besteht weiterer Forschungsbedarf.

Quelle

Der Text stellt einen Auszug aus folgender Originalpublikation dar:

  • Evers, S./Pothmann, R./Überall, M./Naumann, E./Gerber, W.D.: Therapie idiopathischer Kopfschmerzen im Kindesalter. Empfehlungen der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. Nervenheilkunde 2001


Autor

Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft

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Erstellt am 30. Mai 2001, zuletzt geändert am 21. April 2011

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