Betreuung statt Liebe? – ein “Betreuungsopfer” erzählt

Klaus Fischer
Kfischer
 

Institutionelle Betreuung von Kindern aller Altersgruppen ist das pädagogische Thema der letzten Jahre. In bewusst provokativer und überspitzter Form zeigt der Artikel auf, dass sich die organisierte Betreuung nicht in erster Linie an den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientiert sondern an den Interessen der Erwachsenenwelt.

Betreuung von Kindern – kaum ein anderes Thema wird in den letzten Jahren so intensiv erörtert, forciert und durch unterschiedlichste Projekte umgesetzt wie die Betreuung von Kindern im Säuglings- Kleinkind-, Vorschul- und Schulalter. Von ausreichenden Betreuungsangeboten hängt anscheinend die Bereitschaft vieler Menschen ab, überhaupt Kinder in die Welt zu setzen. Bei allem Verständnis für die entsprechenden Begründungen und Argumente beschleicht viele Menschen aber auch ein gewisses Unbehagen, vor allem, wenn man sich die Frage der Betreuung von Kindern aus dem Blickwinkel der Kinder betrachtet, d.h., wenn man sich ernsthaft damit beschäftigt, was Kinder wirklich benötigen, um lebenstüchtig zu werden.

Der Autor ist durch seine Arbeit in einer Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche aber auch in seiner Funktion als fachlicher Begleiter verschiedener Projekte (offene Ganztagsschule, verlässliche Grundschule von 8 – 1) mit dem Thema vertraut. Aus diesen Bedenken heraus ist die folgende Geschichte entstanden:

Hallo, ich heiße Robin, könnte auch Kevin heißen, Jennifer, Christin oder wie auch immer. Von meiner Sorte gibt es viele, zu viele. Unser gemeinsames Problem ist, dass wir unter einem noch relativ unerforschten Krankheitsbild leiden, wir sind Betreuungsopfer.

Sie wissen nicht was das ist?
Dann will ich Ihnen das mal erklären.

Geboren wurde ich als lang geplantes echtes Wunschkind, als ein im Lebensplan meiner Eltern wichtiges Element zur Erlangung vollkommener Glückseligkeit. Meine Eltern hatten alles wohl durchdacht, sich gut auf die Geburt vorbereitet, genau ausgerechnet, wie sie mit der veränderten Einkommenssituation klar kommen würden, wann wer wie viel Zeit „opfern“ wollte um mich zu betreuen.

Genau, hier war zum ersten Mal davon die Rede, dass meine Betreuung gewährleistet sein musste, dass sie ein Kostenfaktor im Familienetat war, es wurde im Zusammenhang mit mir vom Betreuungsproblem gesprochen – und das zu einem Zeitpunkt, als ich noch nicht mal geboren war.

Dabei wollte ich gar nicht betreut werden, ich wollte geliebt werden, wollte, dass man sich auf mich freut und Zeit für mich hat, wollte eine selbstverständliche Bereicherung im Leben meiner Eltern sein und kein Betreuungsproblem.

Die ersten Wochen in dieser hellen fremden Welt waren schön. Von Tag zu Tag passten wir besser zusammen, meine Eltern und ich, sie verstanden immer besser, was ich brauchte, ich erkannte ihren Geruch ihre Stimme, spürte die Zuwendung und die zunehmende Sicherheit. Wir wurden uns vertraut und freuten uns aneinander.

Dieser paradiesische Zustand dauerte leider nicht sehr lange. Ich war wenige Wochen alt, da spürte ich so etwas wie elterliche Ungeduld. „Wann schläft er wohl durch?“ „Wie lange muss (!!) man denn stillen?“, „Wann kann man Kinder abgeben“. Immer häufiger hörte ich meine Eltern diese und ähnliche Fragen stellen. Sie machten dabei ziemlich besorgte Gesichter. Auch wenn ich das alles nicht richtig verstand, spürte ich doch sehr schnell, dass meine Eltern sich außer mit mir noch mit vielen anderen Dingen beschäftigten. Sie redeten viel von ihren Arbeitsplätzen, davon, dass man sich keine lange Auszeit erlauben könne, dass man dann „weg vom Fenster“ sei. Sie planten Urlaub, Kegeltouren und hatten immer schrecklich viel vor.

Immer häufiger fiel das Wort „Betreuung“. Es gäbe jetzt Betreuung von kleinen Kindern, offene Betreuung für Kinder unter 3 Jahren, Kinderkrippen, Tagesmütter, die Betreuung von Kindern zum Beruf gemacht hätten und vieles mehr. Zunächst wusste ich natürlich nicht, was dass Wort bedeutet, erst später, als ich selbst andauernd betreut wurde, verstand ich was Betreuung heißt:
Betreuung ist, wenn kleine Kinder aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen werden und von ihren Eltern zu wildfremden Menschen gebracht werden. Diese wildfremden Menschen finden dann die Kinder immer sofort süß, ohne sie überhaupt zu kennen. Sie bemühen sich ganz kräftig, lieb zu sein, wollen die Kinder auf den Arm nehmen, sie zum Lachen bringen, wenn ihnen gar nicht nach Lachen zumute ist, geben einem zu essen, wenn man gar keinen Hunger hat, sondern aus Kummer weint und schicken die Eltern immer ganz schnell weg, wenn die Kinder traurig sind, weil sie glauben, wir würden uns schneller an sie gewöhnen, wenn wir unsere Eltern nicht mehr sehen – so ein Blödsinn.

Es gibt natürlich auch Betreuerinnen (Betreuer gibt es so gut wie überhaupt nicht), die verstehen, was kleine Kinder brauchen und die (fast) so lieb sind wie richtige Mütter und Väter, nur sind diese Betreuerinnen sehr selten. Aber wie soll man auch eine richtig gute Betreuerin sein, wenn man für diese Arbeit ganz wenig Geld kriegt, ganz schlecht ausgebildet wird und viel zu viele Kinder gleichzeitig betreuen muss.

Manche bekamen nur einen Euro und sollten dafür noch dankbar sein.
Meine Eltern haben mit mir alle möglichen Betreuungsformen ausprobiert, erst offene Betreuung, da wusste man aber nie, wer gerade da war, ständig andere Kinder oder Betreuerinnen, dann war ich bei einer Tagesmutter, die kostete aber so viel Geld, dass meine Mutter alles, was sie verdiente, dort wieder los wurde (die Logik verstehe mal jemand).

Ich war überall ziemlich unzufrieden und hab das auch gezeigt, wollte nachts immer bei Mama oder Papa schlafen, hab schon geweint, wenn sie mir die Schuhe anzogen usw. Meine Eltern stritten sich in der Zeit oft, weil sie auch nicht wussten, was sie machen sollten. Sie hatten so viel Pläne und Verpflichtungen, wollten alle Mögliche miteinander vereinbaren, dachten immer noch, das Leben mit einem Kind könne genau so weitergehen wie das Leben ohne Kind. Angeblich schlaue Menschen hatten ihnen ja auch versprochen, man könne mich und die anderen wichtigen Dinge gut miteinander vereinbaren und jetzt merkten sie, dass es irgendwie nicht funktionierte.

Mittlerweile war ich 2 Jahre und war die Betreuerei schon ziemlich leid. Ich hätte viel lieber zuhause gespielt, hätte mich gefreut, wenn Mama oder Papa in meiner Nähe gewesen wären und wir ab und zu schöne Sachen miteinander gemacht hätten. Aber die hatten ja immer so viel zu tun und so wenig Zeit. Außer Zeit meiner Eltern hatte ich so ziemlich von allem zu viel. Ich hatte immer viel mehr Leute um mich herum, mehr Spielzeug, mehr Beschäftigung. Die Leute meinten es zwar gut mit mir, aber mir war das alles viel zu viel.

Dann gab es eine neue Idee der Erwachsenen, wie man das „Betreuungsproblem“ kostengünstig lösen könne. In den Kindergärten, die eigentlich für ältere Kinder gedacht waren, wurden immer mehr Plätze frei, weil es immer weniger Kinder gab. Da könne man doch gut die unter 3-jährigen „unterbringen!!“, meinten die Erwachsenen, vor allem die Politiker und andere wichtige Leute, die wenig Ahnung davon haben, was kleine Kinder benötigen. Mit wohlklingenden Namen wie „kleine altersgemischte Gruppe, Sonderprogramm für 2-jährige“, „Belegung mit Kindern anderer Altersgruppen“ wollte man so tun, als ob man uns einfach in Kindergärten „integrieren“ könnte.

Auch meine Eltern ließen sich von dem Angebot blenden, zumal viele Erzieherinnen, obwohl sie es besser wissen müssten, ohne Bedenken diesen neuen Formen der Betreuung zustimmten. Da saß ich dann im Kindergarten, mir war es viel zu laut, die vielen großen Kinder machten mir Angst, ich wusste nicht, wo ich hingehörte und verkroch mich in eine Ecke. Die Erzieherinnen gaben sich viel Mühe, ständig nahm mich eine von ihnen auf den Schoß und erklärte mir, wie schön es doch im Kindergarten sei. Immer, wenn ich mich dann fast an eine von ihnen gewöhnt hatte und es auch schon selbst ein bisschen schön fand, wurde sie versetzt, bekam selbst ein Kind oder war aus anderen, mir nicht verständlichen Gründen, verschwunden. Dann kamen andere, und das Ganze ging von vorn los.

Irgendwann hab ich mich dann damit abgefunden und wurde selbst zum richtigen Kindergartenkind. Da war es dann eine Zeitlang ganz gut. Nur diese ständigen Förderprogramme, die gingen mir ganz schön auf die Nerven. Immer, wenn ich gerade mit meinen Freunden richtig schön spielte, mussten wir uns fördern lassen. Da machten die Erwachsenen ernste Gesichter, sangen ausländische Lieder vor oder zeigten uns Bilder, auf denen wir dann alles Mögliche erkennen sollten, richtig langweilig war das.

Auf die Schulzeit hab ich mich lange Zeit richtig gefreut. Ganz abgesehen davon, dass man angeblich in der Schule viel wichtige Dinge lernen sollte, hatten meine Eltern mir viel von ihrer eigenen Schulzeit erzählt, von den Abenteuern auf dem Schulweg, den Nachmittagen, an denen man ganz schnell Hausaufgaben machte, um dann stundenlang draußen zu spielen, den Verabredungen in der Schule und den nachmittäglichen Treffen mit Freunden und Freundinnen. Sie hatten mir auch erzählt, dass ab und zu der Unterricht später anfing oder früher endete. Die freie Zeit konnten sie dann nutzen, um auszuschlafen, zu spielen, den Schulweg zu verlängern usw. Was kam da für eine spannende Zeit auf mich zu.

Eines Tages, meine Eltern kamen gerade vom Elternabend für die Schulanfänger, hörte ich sie abends im Wohnzimmer sprechen. Eigentlich sollte ich schon schlafen, aber ein Wort, auf das ich mittlerweile schon empfindlich reagierte, fiel verdächtig oft: „Betreuung“. „Sollen wir ihn in der Betreuung von 8 bis 1 anmelden, zur Übermittag-Betreuung, zur Betreuung in der OGS (Offene Ganztagsschule) oder das Komplettprogramm buchen“.

Sie diskutierten hin und her, rechneten die verschiedenen Kosten durch und entschieden dann – ihr ahnt es – mich für das Komplettprogramm anzumelden. „Dann sind wir auf der sicheren Seite“, war ihre Begründung. Bei den ständig wechselnden Arbeitszeiten sei ja nie vorhersehbar, wann denn überhaupt jemand zuhause sei. Das war es also, nichts war mit freien Nachmittagen, mit Hütten bauen im Wald, mit Verabreden, nichts mit Nachmittagen, an denen man stundenlang Fußball spielen konnte, aus und vorbei.

Genau so kam es dann auch. Jeden Morgen um 7.30 Uhr ging es in die Schule, entweder direkt in den Unterricht oder in die Betreuung, mittags gab es Übermittagbetreuung, dann Hausaufgabenbetreuung, dann betreutes Spielen nach Plan. Halbjährlich musste ich mich festlegen, was ich montags – freitags von 15.00 – 16.00 Uhr machen wollte, als ob ich das schon so lange im Voraus gewusst hätte.

Wenn ich mich dann um 16.00 Uhr verabreden wollte, war niemand mehr zu erreichen. Die Kinder, die nicht betreut werden mussten, hatten längst ihre Nachmittage verplant, die anderen mussten zur Musikschule, zum Training oder anderen Aktivitäten, bei denen sie wieder von Erwachsenen……angeleitet wurden.

Mit mir geschah etwas Merkwürdiges.
Wenn ich nicht betreut wurde, fühlte ich mich leer und einsam, ich wusste auch nicht, was ich mit mir anstellen sollte; war ich in einer Betreuung, sehnte ich mich danach, endlich mal ohne die ständigen Vorschläge und Anregungen einfach nur spielen zu dürfen und nervte die Betreuerinnen, die ja auch nichts dafür konnten.

An den Wochenenden war es ähnlich. Meine Eltern wollten ihre Ruhe und wussten auch gar nicht, was sie mit mir machen sollten, sie waren es ja auch nicht gewohnt, mit Kindern zu spielen. Sie sagten dann immer, ich würde nerven, ich solle doch mal spielen und sie in Ruhe lassen. Oder sie fuhren mit mir irgendwo hin, wo ganz viel los war, in Vergnügungsparks und Freizeitbäder. Da war dann immer so viel zu sehen und zu erleben, dass ich nie alles schaffte. Obwohl alles schrecklich viel Geld gekostet hatte, war ich abends dann unzufrieden und enttäuscht, meine Eltern waren erschöpft und enttäuscht von mir, weil ich ja nie zufrieden zu stellen sei.

Immer wieder hörte ich, wie teuer all die Betreuungsangebote seien, dass alles könnten sie sich nur erlauben, weil Papa so viele Überstunden machte. Mama sagte, ihre Firma würde sogar jedes Jahr für die Betreuung eine Spende machen, damit auch ja eine „Kontinuität“ gewährleistet sei. Ich verstand das alles nicht, Ich spürte aber genau, dass sie froh waren, wenn sie mich wieder irgendwo in einer Betreuung abgeben konnten.

Meine letzte Hoffnung waren die Ferien. Das sind angeblich die Zeiten, in denen man machen kann, was man will, keinen Termindruck hat, keine Verpflichtungen. Eltern und Kinder freuen sich aufeinander, weil sie endlich viel Zeit miteinander verbringen – dachte ich.

Die Betreuung in unserer Schule machte ein Ferienangebot, für all die Kinder, die in den Ferien nicht zuhause betreut werden konnten. Das kostete zwar noch mal viel Geld, dafür konnte für Mama und Papa aber alles so bleiben wie immer. Für mich bedeutete das, wieder genau wie in der Schulzeit morgens aufzustehen, zur Schule zu gehen und mit den anderen Kindern zusammen zu sein, die ich schon kannte. Wir haben da zwar viel gespielt und mussten nicht so viel lernen wie während der Schulzeit, trotzdem wäre ich froh gewesen, mal nicht betreut werden zu müssen.

In der zweiten Ferienhälfte fuhr ich immer mit meinen Eltern in die Ferien. Endlich mal keine Betreuung – dachte ich beim ersten Urlaub. Meine Eltern hatten aber was ganz besonderes gebucht, „all – inclusive“ nannte sich das. Da konnte ich essen und trinken, so viel ich wollte, bis mir schlecht wurde. „All – inclusive“ hieß aber auch, dass Kinderbetreuung eingeschlossen war. Jeden Morgen und jeden Nachmittag wurden alle Kinder der Ferienanlage von den Eltern entfernt und ähnlich wie in Vergnügungsparks mit allerlei Spielereien abgelenkt. Die Eltern hatten schließlich Urlaub und mussten sich erholen.

Dies war auch die Zeit, in der ich zum ersten Mal, wenn ich das Wort Betreuung hörte, nicht nur innerlich unruhig wurde, sondern auch Ausschlag bekam. Erst dachten alle, das läge am Klima in der Ferienanlage, als der Ausschlag aber auch nach dem Urlaub immer häufiger auftrat, zählte diese Erklärung nicht mehr. Das Gute an dem Ausschlag war, dass ich zu verschiedenen Ärzten musste, die mit unterschiedlichen Salben versuchten, den Ausschlag zu behandeln. Meine Mutter musste sich dann immer frei nehmen, weil die Termine bei den Ärzten meistens in den Betreuungszeiten lagen. Als die Salben nicht halfen und ich den Ausschlag ja auch nicht immer hatte, sagten sie dann, wahrscheinlich sei das „psychisch“.
Jetzt wurden verschiedene Psychobehandlungen an mir ausprobiert, dadurch hatte ich noch weniger Zeit – und es half auch nicht wirklich. Ich wurde innerlich immer unruhiger und hatte immer öfter schlechte Laune. Meine Wut hab ich dann immer häufiger auch „raus“ gelassen, „ohne Grund“, wie meine Betreuer sagten.

Als es ihnen zu viel wurde, haben sie mich aus der Betreuung ausgeschlossen und ich dachte erst, jetzt könne ich ungestört tun, was ich wirklich wollte und bin ganze Nachmittag in der Stadt herumgelaufen. Meine Eltern dachten, ich wäre allein zu Hause und würde Fernsehen, das hab ich aber nur abends gemacht, wenn ich allein in meinem Zimmer war. In der Stadt hab ich viel interessante Leute kennen gelernt und auch keinen Ausschlag mehr gehabt.

Als ich dann beim Klauen erwischt wurde, sind meine Eltern mit mir zum Jugendamt gegangen. Ab jetzt wurde ich in einer Tagesgruppe betreut. Der Unterschied zur Offenen Ganztagsschulbetreuung war, dass hier weniger Kinder und mehr Betreuer waren und alles viel strenger geregelt wurde.

Nach der Grundschulzeit kam ich – natürlich – in eine Ganztagsschule mit zusätzlicher sozialpädagogischer Intensivbetreuung. Als ich auch hier wieder meine innere Unruhe bekam und nicht wusste, was eigentlich mit mir los war, bin ich öfter mal abgehauen oder habe dafür gesorgt, dass ich rausgeschmissen wurde.
In dem Heim, in das mich meine Eltern dann steckten, waren eine Menge Kinder, die so ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie ich, die alle schon „durchbetreut“ waren und jetzt immer wieder hören mussten, dass hier ihre letzte Chance sei, wenn sie noch mal ein normales Leben führen wollten. Was das eigentlich war, ein normales Leben, sagte einem aber auch hier keiner.

Sie wollen sicher wissen, warum ich dies alles schreibe. Ich sitze hier im Jugendknast und habe die Auflage, alles aufzuschreiben, was mir zu meinem Leben einfällt. Außerdem soll ich aufschreiben, was mich besonders geprägt hat. Und wieso im Knast?

Also: Als ich aus dem Heim mal wieder ausgerissen bin, um mich ein bisschen von der vielen Betreuung zu erholen, bin ich erwischt worden, als ich nachts eine Bleibe suchte und bei den Nachbarn meiner Eltern, die im Urlaub waren, eingestiegen bin. Meine Eltern hatten mir die Tür nicht aufgemacht, weil sie mit mir nichts mehr zu haben wollten. Schließlich hätte ich sie trotz all ihrer Bemühungen grenzenlos enttäuscht. Ich bin also erwischt worden und angeklagt worden.

Als der Richter dann vorschlug, ich solle als pädagogische Maßnahme 6 Monate mit einem Erzieher in Sibirien verbringen als so genannte sozialpädagogische Einzelintensivbetreuung, sozusagen als Therapie, da bin ich völlig ausgerastet und habe den Gerichtssaal zertrümmert…

Jetzt sitze ich hier in meiner Zelle und habe viele Fragen, die mir bisher noch niemand beantwortet hat.

  • Warum schaffen sich Erwachsene Kinder an, wenn sie das wichtigste, was Kinder brauchen, nämlich Zeit, nicht für sie aufbringen können oder wollen?
  • Warum fragen so wenig Erwachsene danach, was Kinder wirklich brauchen?
  • Warum redet man immer von guter Betreuung und richtet oft Einrichtungen ein, in denen Kinder nur untergebracht und geparkt werden?
  • Warum glauben Erwachsene, dass Kinder den ganzen Tag betreut werden müssen?
  • Warum wissen Erwachsene so gut, was ihnen selbst als Kind besonders gut getan hat, und behandeln ihre eigenen Kinder ganz anders?
  • Warum machen sich die Erwachsenen so wenig Gedanken darüber, dass wir zwar immer weniger Kinder haben aber immer mehr Kinder, denen es nicht gut geht?
  • Warum denken so wenig Erwachsen darüber nach, was wirklich wichtig ist im Leben?

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Klaus Fischer ist Dipl.Soz.päd., Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, Familientherapeut (DGSF) und Supervisor (DGSF)

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Erstellt am 23. Januar 2006, zuletzt geändert am 30. Juli 2013

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