Zehn Jahre PISA-Test – eine Bilanz

Armin Himmelrath

Als „lehrreiches Desaster“ bezeichnete die Wochenzeitung „Die Zeit“ die Ergebnisse der ersten PISA-Studie: Deutsche Schüler waren nur Mittelmaß, dem Schulsystem attestierte der internationale Leistungsvergleich eklatante Schwächen. Doch wie lehrreich waren die Ergebnisse tatsächlich? Eine Bilanz nach zehn Jahren PISA-Studien.

Hinterher sprachen alle von einem Schock. Als im Dezember 2001 zum ersten Mal die Daten der Studie Programme for International Student Assessment, kurz: PISA, veröffentlicht wurden, hatte wohl niemand damit gerechnet, dass Deutschland dermaßen schlecht abschneiden würde.

Im Vergleich mit anderen OECD-Ländern nur unteres Mittelmaß, dazu eine fatale Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft: Das alles entsprach so gar nicht dem damaligen Selbstbild. „Alle dachten: Das deutsche System ist das beste Schulsystem der Welt“, erinnert sich Wolfgang Edelstein, Gründungsdirektor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und so etwas wie der Nestor der deutschen Bildungsforschung. „Die Schulen waren praktisch immun gegen Kritik.“ Damit war es seit dem 4. Dezember 2001 schlagartig vorbei. „Wir wurden aus einem Zustand der Schlaffheit und Starre herausgerissen“, sagt der Bildungsforscher.

Die Suche nach dem Königsweg

Dass mittelmäßige Leistungen zu wenig für das deutsche Schulsystem sind, darüber herrschte schnell Einigkeit. Doch welcher Weg zu besseren Schulen und damit auch zu besserer Leistung führt, darüber gab es sofort Streit. Zwar einigten sich die Kultusminister der Länder zügig auf sieben Handlungsfelder und führten beispielsweise vergleichende Leistungsstandards in bestimmten Fächern und Altersstufen für ganz Deutschland ein. Doch sobald strukturelle Probleme des deutschen Schulsystems angesprochen wurden, ging es heftig zur Sache.

So attestierte der deutsche OECD-Bildungskoordinator Andreas Schleicher seinen Landsleuten „großen Nachholbedarf beim Thema Chancengerechtigkeit“ und verwies darauf, „dass andere, erfolgreichere Länder kein so stark gegliedertes Schulsystem wie Deutschland haben“. Abschaffung der frühen Selektion nach der vierten Klasse, dafür längeres gemeinsames Lernen: Das, so Schleicher, sei der richtige Weg zu besseren Leistungen und mehr sozialer Durchlässigkeit.

„Soziale Undurchlässigkeit“ – Ja oder Nein?

Mit seiner Einschätzung provozierte Schleicher heftigen Protest. Die Debatte um das dreigliedrige Schulsystem und die Schulstruktur sei „wenig hilfreich“, konstatierte etwa Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands (DL): „Die Auslegung der PISA-Studie als Beleg für die angebliche Überlegenheit integrierter Gesamt- oder Gemeinschaftsschulmodelle war und bleibt abwegig. Abwegig ist es auch, aus PISA die angebliche soziale Undurchlässigkeit des Schulwesens abzuleiten.“

Aus Lehrersicht widerspricht ihm Marianne Demmer, stellvertretende Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW: „Mangelnde Chancengleichheit ist die offene Wunde des deutschen Schulsystems, die immer noch eitert“, sagt Demmer mit Blick auf zehn Jahre PISA: „Es ist in Deutschland nicht gelungen, die enge Kopplung von sozialer Herkunft und Schulerfolg aufzulösen. Gut 20 Prozent der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler können nicht ausreichend lesen und rechnen, um in Beruf und Alltag zu bestehen. Das PISA-Trauma wirkt fort, ein Ende ist nicht abzusehen.“

„Debatte tiefer hängen“

Josef Kraus hingegen plädiert für ein Ende der Diskussionen: „Der Politik ist dringend zu empfehlen, dass sie die Debatte um PISA tieferhängt, die Schulen sich nach zahlreichen Reformen konsolidieren lässt, die Schulen zur Vermeidung von Unterrichtsausfall endlich mit 105 Prozent Lehrerstunden ausstattet und für den Erwerb eines mittleren Schulabschlusses eine zentrale Abschlussprüfung installiert.“

Solch ein Rundumschlag sei zwar aus Lehrersicht wünschenswert, reiche jedoch nicht aus, um die Probleme an den Schulen wirklich zu lösen, mahnen viele Bildungsexperten. Es gebe tatsächlich strukturelle Probleme, um die sich die Bildungspolitik kümmern müsse, sagt etwa Jürgen Baumert, der die erste PISA-Studie in Deutschland geleitet hatte. „Wir investieren in der Grundschule am wenigsten – am wenigsten Geld, am wenigsten Personal, am wenigsten Zeit“. Hier gebe es den größten Verbesserungsbedarf, denn Bildungskarrieren würden bereits in der frühen Kindheit geprägt. Auch OECD-Koordinator Andreas Schleicher plädiert dafür, mehr Ressourcen in den Grundschulbereich zu verlagern.

Der Weg zur Bildungsrepublik

Dem Ziel einer „Bildungsrepublik Deutschland“ sei man im letzten Jahrzehnt „ein großes Stück nähergekommen“, findet dagegen Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU): „Der Schock 2001 war heilsam und hat dem deutschen Bildungssystem gutgetan.“ Die Bildungspolitik habe damals konsequent gehandelt: „Frühkindliche Sprachförderung ist inzwischen anerkannter Standard. Verstärkte Ganztagsangebote haben nicht nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern auch den Zugang zu Bildungschancen verbessert.“

All dies sind Fortschritte, die auch Bildungsforscher Eckhard Klieme vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) bestätigt: Deutschland habe sich in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich verbessert. Diese Entwicklung ist für Schavan jedoch keinerlei Grund, sich zurückzulehnen. Wichtig sei es, dass die zurückgehenden Schülerzahlen nicht zu einer Kürzung der Bildungsausgaben führen: Die sogenannte „demographische Rendite“ müsse in voller Höhe im Bildungssystem bleiben.

Nicht für PISA, sondern fürs Leben lernen

Letztlich aber, darin sind sich fast alle PISA-Experten einig, können die Daten der Leistungsvergleiche ohnehin nur ein Indiz für gelungenen oder weniger gelungenen Unterricht sein. „Es geht in der Schule nicht darum, gute PISA-Leistungen zu bringen“, sagt Wolfgang Edelstein. „Gute PISA-Leistungen sind nur sinnvoll als Indikatoren für ein gutes Schulsystem. Und ein Schulsystem, das gute Matheleistungen und gute Leseleistungen erbringt und 50 Prozent depressive Kinder und 30 Prozent Ritalin essende Kinder, ist kein gutes Schulsystem – das sagt uns auch eine gute PISA-Leistung nicht.“

Autor

Armin Himmelrath arbeitet als freier Journalist und Publizist für Bildungs- und Wissenschaftsthemen (Westdeutscher Rundfunk, Deutschlandfunk, Spiegel etc.) in Köln. Dem Autor auf Twitter folgen: AHimmelrath

Copyright: Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion

Der Artikel erschien zunächst auf der Internetseite des Goethe Instituts und wird hier mit freundlicher Genehmigung übernommen.

Links zu diesem Thema:

Informationen der OECD zur PISA-Vergleichsstudie

Erstellt am 29. März 2012, zuletzt geändert am 29. März 2012

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