Freies Spiel von Säuglingen und Kleinkindern. Das Kind als Akteur seiner Entwicklung

Elisabeth Gründler
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Das Spielen von Kleinkindern ist mehr als bloßer Zeitvertreib. Es ist ein selbstgesteuerter, hochkomplexer Bildungsprozess, mit dem das Kind seine Hirnstrukturen entwickelt. „Begreifen“ hängt mit dem Greifen zusammen, „Verstand“ kann sich nur durch „Stehen“ entwickeln. Beides sind konkrete motorische Aktivitäten, mit denen ein Kleinkind viel Zeit verbringt. Der Zusammenhang zwischen kindlicher Spielaktivität und der Entwicklung des Gehirns wird im folgenden Artikel dargestellt.

Bettina, sechs Monate, liegt auf dem Rücken und kaut auf einem Ring mit vielen Holzschlüsseln. Sie unterbricht ihre Kautätigkeit, hält den Ring hoch, betrachtet ihn, lauscht dem Geräusch, das entsteht. Sie bewegt ihren Arm, scheint wieder dem Geräusch zu lauschen. Dann macht sie mit dem Arm eine rotierende Bewegung. Das Spielzeug streift ihr Gesicht und ihren Kopf. Die Bewegung endet an ihrem Mund und sie beginnt wieder zu kauen. Eine Weile liegt sie ganz still, das Kauen und Lutschen ist ihre einzige Tätigkeit. Dann beginnt Bettina das Spiel von neuem: hält den Ring vor das Gesicht, betrachtet ihn, lauscht dem Geräusch, fährt sich über den Kopf und durchs Gesicht, endet mit kauen und nuckeln.

Bettina

 

 

 

 

 

 

 

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Diese Tätigkeit macht den größten Teil von Bettinas wacher Zeit aus, wenn Hunger und Durst gestillt sind. Dabei benutzt sie alle Sinne: Schmecken, Sehen, Hören, Riechen, Tasten. Der Mund spielt als Ausgangspunkt des Forschens noch eine große Rolle. Mit dem Reflex des Saugens und der Suchbewegung, gesteuert vom Hirnstamm, ist sie, wie alle Säuger auf die Welt gekommen. Diese simple Verhaltensausstattung genügt, um zunächst das Überleben zu sichern, sofern die Nahrungsquelle in der Nähe ist. Doch das Menschenkind verfügt über viel mehr Möglichkeiten. Das Großhirn, der spezifisch menschliche Teil des Gehirns, den seine Vorfahren in Jahrmillionen der Evolution entwickelt haben, eröffnet den Aufbau einer differenzierten Handlungskompetenz.

Sinneseindrücke prägen das Gehirn

Mit seinen Sinnen orientiert sich der Mensch in der Welt. Unmittelbar nach der Geburt tritt dieses System bei allen Säugern in Funktion: Die Nervenbahnen, die die Sinnesreize weiterleiten, schließen sich. Dies geschieht, durch die Reize der Außenwelt selbst: Licht, Luft, Geräusche, Berührung. Alle Säuger lecken ihre Jungen in den ersten 24 Stunden ihres Lebens intensiv. Dies dient weniger der Reinigung, als vielmehr dem Schließen der Nervenbahnen und damit dem Öffnen der Sinne. Säugerjungen, so hat man in Versuchen festgestellt, denen die Erfahrung dieser Reize in den ersten 24 Stunden fehlt, überleben zwar, werden aber zu asozialen Wesen: Sie können nicht spielen, keinen Kontakt zu Artgenossen aufnehmen, und sich auch nicht fortpflanzen. Bei Aborigines und Eskimos haben Ethnologen dieses Lecken des Kinds unmittelbar nach Geburt vor wenigen Jahrzehnten noch beobachten können. In unserer Kultur ist dieses Verhalten aufgegeben worden: heutige Mütter und Väter sprechen mit dem Kind, streicheln, küssen, wiegen es.

Bei Bettinas Geburt hat all das stattgefunden. Ihre Sinne sind geöffnet, sie liefern ihr Informationen über die Welt. Sie zu ordnen, zu einem Bild zu formen, ist Aufgabe des Großhirns, vergleichbar mit einem riesigen Computer, gegen den auch die besten Rechner simple, grobe Nachahmungen sind. Das Großhirn eines Babys könnte man mit einer Festplatte vergleichen, auf die die Programme erst noch aufgespielt werden müssen. Das Aufspielen der Programme besorgt das Kind in eigener Aktivität. Aus den Möglichkeiten der einfachen Hirnsysteme – reflexartige Bewegungen kombiniert mit Sinneseindrücken – ergeben sich zahllose neue Möglichkeiten. In der unendlichen Wiederholung und Variation entstehen neue Muster, die sich dem Großhirn einprägen. Durch das Spielen entstehen im Großhirn des Kindes die Begriffe, mit denen es die Welt strukturiert. Das Kind macht sich ein Bild von der Welt.

Grue1

 

 

 

 

 

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Wiederholung festigt Bewegungsmuster

Bettina hat ihr Spiel fünf mal wiederholt: kauen, schütteln, betrachten, lauschen, übers Gesicht fahren. Dabei hat sie nur Arme und Gesicht bewegt. Jetzt hält sie einen Moment lang völlig still. Dann bewegt sie ihr Bein, streckt es, spannt es an, wie um Schwung zu holen, dreht sich langsam auf den Bauch. Ihr Spielzeug hat sie dabei nicht losgelassen. Sie stützt sich auf, betrachtet es aus einer neuen Perspektive. Schlägt damit auf den Holzfußboden, lauscht dem neuen Geräusch. Steckt den Ring in den Mund: im Tasten und Schmecken ist das Ding vertraut. Dann läßt sie sich wieder auf den Rücken fallen und beginnt von neuem das vertraute Muster von Betrachten, Lauschen, Fühlen, Schmecken. In den nächsten drei Minuten spielt sie ihr Spiel im Wechsel der Perspektiven von Bauch- und Rückenlage. Dann verliert sie das Interesse und läßt den Ring einfach los. Nach einem Moment des Innehaltens – es scheint gar nichts zu passieren – rollt und dreht Bettina sich an den Punkt, wo weiteres Spielzeug liegt. Sie greift sich einen gelben Plastikbehälter, betrachtet ihn kurz, steckt ihn in den Mund.

Bettina ist, wie alle Babys, mit einem Greifreflex auf die Welt gekommen. Ein vom Stammhirn gesteuertes Bewegungsmuster, das sie, anders als ihre Stammesvorfahren nicht mehr braucht: ihre Mutter hat kein Fell mehr, an dem sie sich festklammern könnte. Dennoch hat die Evolution dieses Bewegungsmuster nicht aufgegeben. Es wird vielmehr moduliert. Das erste Greifen ist völlig sinnlos. Jeder Gegenstand wird umklammert und herangezogen. Dies sind vermutlich Reste von Kletterreflexen. Dabei ergeben sich zwangsläufig Sinneseindrücke, die verarbeitet werden. Hirnzellen vernetzen sich, Zusammenhänge werden deutlich: Nach und nach begreift sich das Kind als Urheber all seines Tuns. Es gelingt ihm, zunächst in winzigen Schritten, aber durch vielfache Wiederholung immer besser, die Bewegungen seiner Hand mit den Sinneseindrücken, z.B. der Augen oder Ohren, zu koordinieren. Diese Koordination von Muskeln und Sinnen wird immer vielfältiger und immer feiner. Die menschlichen Bewegungsmuster entstehen. Das Kind selbst baut sie auf, in eigenständiger, spielerischer Aktion. Das Kind ist der Akteur seiner Entwicklung.

Grue2

 

 

 

 

 

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Lernen aus innerem Antrieb

Niemand muß dem Kind beibringen wie es greift, krabbelt, läuft. All dies lernt es von allein, vorausgesetzt, man läßt es. Vorausgesetzt, seine Umgebung ist so vorbereitet, dass es Gegenstände zum Greifen findet und damit gefahrlos experimentieren kann. Vorausgesetzt, die Gegenstände können sein Interesse immer wieder wecken.

Robert, 10 Monate, liegt auf dem Rücken und hält in jeder Hand eine Messingschüssel. Eine der Schüsseln unterstützt er mit beiden Füßen, die in diesem Alter fast noch Greiforgane sind. Die Schüsseln sind unterschiedlich groß, Robert versucht, sie ineinander zu schieben. Seine Koordination von Augen, Hand und Fußbewegungen sind schon soweit entwickelt, dass dies auch ansatzweise gelingt. Das Spielmuster des Sammelns, Sortieren und Stapelns ist bei Robert schon erkennbar.

Etwa ein halbes Jahr später macht das Sammeln und Sortieren einen guten Teil der Spieltätigkeit des Kindes aus.

Die 15 Monate alte Diana hat zwei verschiedenfarbige Plastikkörbe, die sie ineinander schiebt. Dann beginnt sie mit dem Sammeln: hebt einen Plastikkubus auf und wirft ihn in den Korb, ebenso einen Würfel und einen weiteren Kubus. Dann greift sie nach einem Stoffhasen, betrachtet ihn, läßt ihn wieder fallen. Das gleiche geschieht mit einem Holzgreifling. Er kommt nicht in den Korb.

Es wird deutlich, dass Dianas selbstgestellte Aufgabe darin besteht, eine bestimmte Sorte Spielzeug in die gestapelten Körbe zu sammeln. Was dieser Vorstellung nicht entspricht, sammelt sie nicht ein. Sie läßt sich auch nicht davon abbringen, als ihr Spiel von dem wenig älteren Ricardo unterbrochen wird, der sich die Körbe greift und seinerseits damit ein Stapelspiel beginnen will. Diana folgt ihm, beobachtet ihn, und in einem Moment der Unsicherheit – Ricardo hat sich aufgestellt und ist in diesem neuen Bewegungsmuster noch nicht sehr sicher – greift Diana sich die Körbe wieder und bringt sich damit in einer Ecke des Spielbereichs in Sicherheit. Sie genießt einen Augenblick ihren Triumph, indem sie sich lächelnd umschaut, dann nimmt sie ihre Sammeltätigkeit wieder auf. Wieder unterscheidet sie genau, was in ihre gestapelten Körbe kommt und was nicht. Für diese Unterscheidung benutzt sie weniger die Augen. Sie braucht gar nicht genau hinzuschauen. Sie fühlt Oberfläche, Gewicht und Form des Gegenstandes, hört den Aufprall im Korb. Die Gegenstände müssen nicht erst in ihr Blickfeld kommen, damit sie weiß, ob einer dazu gehört oder nicht. Diana ist ihre selbstgestellte Aufgabe so wichtig, dass sie sich auch nach einer Unterbrechung fortsetzt. Sie ist zu einem Grad der Konzentration fähig, der oft Schulkindern noch abgesprochen wird.

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Erfolg als Ermutigung des experimentellen Spiels

Der 16 Monate alte Faris hat sich zum Spielen eine große Plastikflasche und drei Holzringe geholt. Er sitzt aufrecht, stellt die Flasche zwischen seine Beine, und beginnt, die Holzringe auf den Flaschenhals zu stecken. Er arbeitet konzentriert und mit großem Kraftaufwand. Beim dritten Ring fällt die Flasche um. Faris sammelt die Ringe wieder ein, stellt die Flasche erneut auf und beginnt sein Experiment von vorn. Diesmal gelingt es ihm. Er schaut hoch, wie wenn er Bestätigung suchte, dann greift er die Flasche mit den drei Ringen, führt sie zum Mund, beißt hinein, kaut drauf herum.

Eine Geste der Aneignung: “Meins” , “Das hab ich gemacht” . Faris hat die Welt nach seinem Bilde geformt. Die Flasche trägt nun drei Ringe. Faris ist der “Macher” , der Erfolg ist ihm Bestätigung genug. Er hört auf, auf seinem Produkt zu kauen, schlägt mit der Flasche auf den Boden, freut sich, löst das ganze Arrangement auf und beginnt wieder von vorn. Wieder löst er die selbstgestellte Aufgabe. Er beginnt eine vierte Spielsequenz, wieder hat er Erfolg. Mit dieser Wiederholung schafft sich Faris die Bestätigung, dass er es ist, der die Ringe auf den Flaschenhals stapelt. Er versichert sich seiner Rolle als Akteur. In der Wiederholung prägen sich die Bewegungs- und Koordinationsmuster ein, sowohl im Körpergedächtnis als auch im Gehirn. Dort “myelinisieren” sich Dendritenverbindungen zwischen den Hirnzellen, d.h. sie ummanteln sich mit der Substanz Myelin und stabilisieren dadurch ihre Verbindungen. Das bedeutet, dass einfache Spiel- und Handlungsmuster sich automatisieren und dann zu komplexeren zusammengesetzt werden können. In der Wiederholung verfeinert sich außerdem die Koordination. Nach und nach entdeckt Faris, dass er gar nicht viel Kraft braucht, um die Ringe auf den Flaschenhals zu stecken. Im vierten Versuch ist deutlich zu beobachten, dass er die Ringe sehr viel vorsichtiger plaziert. Er hat durch wiederholtes Ausprobieren begriffen, dass er nur wenig Kraft einsetzen muß, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen.

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Jedes Kind beginnt mit dem freien Spiel im Alter von wenigen Wochen. Wenn seine elementaren Bedürfnisse nach Nahrung und Liebe befriedigt sind, wird es in seiner wachen Zeit die Umgebung beobachten, seinen Körper wahrnehmen, und aus zunächst reflexhaften Bewegungen zunehmend gezielte entwickeln. Das Kind beginnt, seine Umwelt zu erforschen. Im Spiel entwickelt es seine Motorik, seine Imagination und schließlich sein bildhaftes und symbolisches Denken. Grundbedingung ist, dass es sich sicher fühlt durch die Nähe der Eltern oder einer vertrauten Bezugsperson, z.B. der Krippenerzieherin. Grundbedingung ist ferner, dass die Umgebung gefahrlos ist und das Kind seine selbstgestellten Aufgaben ohne regulierende oder störende Eingriffe zuende führen kann, bis es von selbst das Interesse verliert. Sehr früh, bereits im dritten Lebensvierteljahr, tauchen soziale Elemente im Spiel mit Gleichaltrigen auf. Sind die genannten Bedingungen gegeben, bedarf es keiner weiteren Stimulation oder Förderung. Das Kind bringt von Geburt alles mit, was es zum Erwerb aller seiner Fähigkeiten braucht. Das freie Spiel ist Methode, Medium, Antrieb und Belohnung zugleich. In ihm wird das Kind zum Akteur seiner Entwicklung.

Auswahl an Büchern und Medien

  • Emmi Pikler (2013): Friedliche Babys, zufriedene Mütter, Herder, 4. Auflage.
  • Elisabeth C. Gründler (2008): Rohstoff Intelligenz, Cornelsen.
  • Éva Kálló, Györgyi Balog: Von den Anfängen des freien Spiels
  • Monika Aly (2011): Mein Baby entdeckt sich und die Welt, Kösel.
  • Liese Eliot (1999): Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren, Berlin.
  • Anna Tardos, Geneviève Appell, Die Aufmerksamkeit des Säuglings während des Spiels, DVD mit Textheft, ISBN 3-931428-18-1

Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch

Autorin

Elisabeth C. Gründler

Freie Journalistin

Prinzregentenstr. 69a

10715 Berlin

Erstellt am 10. April 2002, zuletzt geändert am 6. November 2013