Zur psychischen Situation ungewollt kinderloser Paare

Prof. Dr. Anke Rhode

 Arhode

 

 

Der Artikel erklärt, ab wann man von ungewollter Kinderlosigkeit spricht und zeigt statistische Untersuchungsergebnisse zum Thema auf.
Darüberhinaus wird auf die psychische Situation kinderloser Paare eingegangen. Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten werden ebenso dargestellt wie bestehende Vorurteile.

Von ungewollter Kinderlosigkeit spricht man, wenn nach ein bis zwei Jahren regelmäßigen, ungeschützen Geschlechtsverkehrs keine Schwangerschaft eingetreten ist. Dies betrifft ca. 15% der Paare, in Deutschland rund 2 Millionen Paare (etwa jede 6. bis 7. Ehe ist ungewollt kinderlos).

Neuere Behandlungstechniken der Reproduktionsmedizin, wie etwa IvF (In-vitro-Fertilisation) oder ICSI (Intra-zytoplasmatische Spermieninjektion), sind mittlerweile ein wesentlicher Bestandteil der Sterilitätsbehandlung geworden. Die individuelle Chance des Paares auf ein eigenes Kind hängt vom Schweregrad der Fruchtbarkeitsstörung und vor allem vom Alter der Frau ab. Eine Schwangerschaft bereits im ersten Zyklus zu erwarten, ist unrealistisch. Schließlich liegt auch bei einem gesunden, jungen Paar die Schwangerschaftsrate nicht höher als 20 bis 30% pro Zyklus. Nach Ausschöpfung aller therapeutischen Möglichkeiten kann etwa 60 bis 80% aller Paare, die wegen ungewollter Kinderlosigkeit den Arzt aufsuchen, zu einem eigenen Kind verholfen werden.

Aber nicht nur die ungewollte Kinderlosigkeit, sondern auch deren Behandlung geht mit einem erheblichen Maß an Belastungen einher. Die Bereitschaft der betroffenen Paare, diese Belastungen auf sich zu nehmen, reflektiert oftmals den erheblichen Leidensdruck, der durch die ungewollte Kinderlosigkeit entsteht. Psychische Begleiteffekte der Sterilität sind beispielsweise emotionale Reaktionen (Trauer, Depression, “emotionale Krisen”, Frustration, Schuldgefühle, Wut etc.), Erschütterung des Selbstbewußtseins (Identitätsprobleme, “Kontrollverlust” über Lebensplanung), Veränderungen in der Paarbeziehung und im Sexualleben sowie Veränderungen bei den sozialen Interaktionen (z.B. sozialer Rückzug, Vermeidung von Kontakten mit Schwangeren, mit jungen Familien etc.).

Seit den Anfängen der Sterilitätsbehandlung und besonders seitdem die Möglichkeit der extrakorporalen Befruchtung besteht, wurde den medizinischen bzw. “technischen” Aspekten der Behandlung sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die Untersuchung psychischer Aspekte stand jedoch von Beginn an im Hintergrund. Bis heute hat sich daran nichts wesentliches geändert.

In der Anfangszeit der Reproduktionsmedizin wurde von Seiten der Psychoanalytiker vor allem die Frage betrachtet, inwieweit es sich bei den Paaren, die “unbedingt” ein Kind haben wollten, um einen “pathologischen Kinderwunsch” handelt. Pathologische Persönlichkeiten bzw. neurotische Konflikte (z.B. ein ambivalentes Verhältnis zur eigenen Mutter, eine unbewußte Ablehnung der Schwangerschaft etc.) wurden nicht selten für die ungewollte Kinderlosigkeit verantwortlich gemacht, insbesondere für die sogenannte idiopathische Sterilität (also in den Fällen, in denen keine Ursachen für die Sterilität gefunden werden konnte). Auch in der Presse spiegelt sich diese Einstellung den Kinderwunschpatienten gegenüber häufig wider.

In den letzten Jahren wurde jedoch immer wieder gezeigt, daß Kinderwunschpatienten letztlich nichts anderes sind als ein Ausschnitt der “Normalbevölkerung”, daß zwar pathologische Abweichungen vorkommen, aber nicht häufiger als im allgemeinen. Auch eigene Untersuchungen von insgesamt 1.033 Kinderwunschpatienten (546 Frauen, 487 Männer) im Rahmen des Bonner Psychiatrisch-Psychologischen Projektes zu den Begleit- und Folgeerscheinungen der In-vitro-Fertilisation führten zu ähnlichen Ergebnissen.

Von Kinderlosigkeit betroffene Paare zeigen im allgemeinen keine relevanten Auffälligkeiten (z.B. bei Persönlichkeit, Partnerschaft, Einstellung zu Sexualität, Schwangerschaft und Geburt etc.). Auftretende Unterschiede (z.B. zu Frauen, die auf “normalem” Weg schwanger geworden sind, und ihren Ehemännern) sind am ehesten als Folge der Kinderlosigkeit zu werten (wie etwa die weniger unbefangene Einstellung zur Sexualität) bzw. als Selektionseffekt der Paare, die sich zu einer Kinderwunschbehandlung entschließen (z.B. höhere Leistungsorientierung, positivere Einstellung zum Schwangersein etc.).

Im Rahmen des Bonner Projektes wurde unter anderem das Ausmaß von Depressivität und Ängstlichkeit bei den ungewollt kinderlosen Paaren untersucht. Je ein Viertel der männlichen und weiblichen Patienten zeigte überdurchschnittliche Depressionswerte.

Gerade bei dieser letztgenannten Gruppe von Patienten fand sich ein signifikanter Zusammenhang mit einer Vielzahl von meist negativen affektiven Reaktionsweisen in Zusammenhang mit der Sterilität sowie Erlebnisweisen, die die Bewältigung der ungewollten Kinderlosigkeit zusätzlich erschweren. So erlebten Patienten, bei denen sich hohe Depressionswerte fanden, häufiger schwere emotionale Krisen nach der Diagnose Sterilität sowie häufiger negative Veränderungen im Selbstwertgefühl und im Sexualleben, zogen sich häufiger aus Sozialkontakten zurück, erlebten aber auch häufiger negative Reaktionen im sozialen Umfeld. Es fanden sich häufiger Kinderwunschmotive, bei denen dem Kind eine wichtige Rolle für das eigene emotionale Erleben beigemessen wird (z.B. “um im Alter nicht allein zu sein”) bzw. normenbezogene Motive (“ein Kind gehört eben dazu”).

In dieser Gruppe fanden sich darüber hinaus häufiger Patienten, die selbst Verursacher der Kinderlosigkeit waren, sowie Personen, die bereits konkrete Vorbereitungen für das Kind getroffen hatten (z.B. Kinderzimmer eingerichtet). Sie sind insgesamt stärker belastet durch die aktuelle Situation, stehen stärker unter Druck (z.B. wegen des Alters), sind gleichzeitig pessimistischer bezüglich des Behandlungserfolgs und ängstlicher bezüglich der Geburt.

Alle Arbeitsgruppen, die sich mit Sterilität und ihrer Behandlung befassen, machen die Erfahrung, daß das Erleben ungewollter Kinderlosigkeit und die Bewältigung dieser Problematik bis hin zum Lösungsversuch in Form künstlicher Befruchtung eine erhebliche emotionale Belastung für Betroffene darstellen kann. Bei eigenen Untersuchungen zu diesem Thema zeigte sich, daß ein “erfolgloser” IvF-Zyklus von den meisten Frauen mit erheblichen negativen emotionalen Reaktionen erlebt wird, während nur eine Minderheit der befragten Frauen (23%) angab, es sei nicht so schlimm gewesen, sie hätten auch nicht mit einer Schwangerschaft gerechnet. Dennoch blieb für die Majorität der Frauen (77%) der Kinderwunsch gleich, in 3,4% war der Kinderwunsch sogar stärker geworden (“nachdem sich das Ei befruchtet hatte, habe ich das Gefühl, ich bin ganz nah dran”).

Ein erfolgloser Behandlungsversuch kann aber auch ein wesentlicher Schritt bei der Bewältigung einer “endgültigen” Kinderlosigkeit sein, immerhin geben ca. 14% der Frauen nach einem erfolglosen Behandlungszyklus eine beginnende Relativierung des Kinderwunsches an. Dazu paßt auch ein weiteres Befragungsergebenis, nämlich daß 74% von 180 Patienten, die mehrere Jahre nach Abschluß der Kinderwunschbehandlung dazu befragt wurden, angaben, daß sie denselben Weg noch einmal gehen würden (76% der Patienten mit Kind, 66% der Patienten ohne Kind, 58% der Patienten mit Adoptivkind).

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß gerade auch für die endgültige Bewältigung die Thematisierung des “Behandlungsendes” von Bedeutung ist, damit die betroffenen Paare die Möglichkeit haben, sich ganz konkret auf Lebensalternativen vorzubereiten.

Weitere wichtige Aspekte einer psychologischen bzw. psychotherapeutischen Begleitung von kinderlosen Paaren ist die Besprechung möglicher Ambivalenzen bezüglich des Kinderwunsches bereits zu Behandlungsbeginn und auch immer wieder während der Behandlung, die Antizipation einer erfolglosen Behandlung mit der Entwicklung alternativer Lebensperspektiven sowie die Betreuung mit dem Ziel der Minimierung von Begleit- und Folgeerscheinungen.

Im Einzelfall kann auch die konkrete Empfehlung einer “Therapiepause” sinnvoll sein – nämlich dann, wenn sich zeigt, daß die betroffene Frau immer mehr in einen Kreislauf von depressiver Reaktion, Belastung und Insuffizienzgefühlen hineingerät und daß die Fokussierung auf den Kinderwunsch für das Paar bereits zu einer längerfristigen Vernachlässigung anderer Interessen geführt hat.

Leider suchen nur wenige betroffene Patienten Unterstützung oder Hilfe bei Psychotherapeuten bzw. nehmen entsprechende Behandlungsangebote nur selten an. Einer der Gründe dafür ist sicherlich die zuvor erwähnte “Etikettierung” von Kinderwunschpatienten als “pathologisch” oder “egoistisch”. Optimal wäre die Institutionalisierung einer psychosomatischen Betreuung als selbstverständlicher Teil einer reproduktionsmedizinischen Behandlung.

Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch

Autorin

Prof. Dr. med. Anke Rohde
Universitätsklinikum Bonn
Gynäkologische Psychosomatik
Sigmund-Freud-Str. 25
53105 Bonn

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