Psychische Störungen nach der Entbindung

Prof. Dr. med. Anke Rohde
Arohde

Nicht immer sind Mütter nach der Geburt ihres Kindes überglücklich und freudestrahlend. Es können sich über die "normalen Heultage" oder "Wochenbettdepressionen" hinaus auch ernsthafte psychische Erkrankungen entwickeln. Ein enger Bezug zu Hebammen und Ärzten ist wichtig, um eventuelle depressive Symptome frühzeitig zu erkennen und gezielt behandeln zu können.

Häufigkeit

Die nach einer Entbindung auftretenden depressiven Störungen kann man grob in drei Kategorien einteilen: Die bei uns umgangssprachlich “Heultage” genannte Zeit stimmungsmäßiger Labilität und depressiver Verstimmung in den ersten drei bis fünf Tagen nach der Geburt wird im englischen Sprachraum “postnatal blues” oder “baby blues” genannt. Nach den Studien verschiedener Autoren sind solche Veränderungen nach etwa 50 bis 70% aller Entbindungen zu beobachten. Wesentlich seltener sind dagegen die sogenannten Wochenbettdepressionen bzw. postnatalen Depressionen mit einer Häufigkeit von etwa 1 bei 10 Geburten. Sie treten meist in den ersten Wochen nach der Entlassung aus der Entbindungsklinik auf und können in der Regel ambulant therapiert werden. Übergänge von Wochenbettdepressionen zu den insgesamt sehr seltenen Wochenbettpsychosen (nach etwa 1 bis 2 von 1.000 Geburten) kommen vor.

Symptomatik

Im Rahmen einer depressiven Verstimmung nach einer Geburt kann eine Vielzahl verschiedener Symptome auftreten, wie etwa depressive Verstimmung mit häufigem Weinen, Grübeln, Hoffnungslosigkeit, Minderwertigkeits- und Schuldgefühle, Angst, innere Unruhe, Interesselosigkeit, Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen, Denkhemmung, innere Leere sowie Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen oder auch Gefühle wie Liebe oder Sympathie zu empfinden (oft resultierend in dem Problem, gegenüber dem Kind noch keine “Muttergefühle” zu haben).

Auch das körperliche Befinden ist in der Regel gestört, z.B. durch Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Verstopfung, Kopfschmerzen, Herzbeschwerden, Engegefühl in der Brust, Kloßgefühl im Hals sowie eine Vielzahl anderer körperlicher Mißempfindungen und vermindertes sexuelles Interesse. Diese körperlichen Symptome können auch im Vordergrund der Symptomatik stehen und werden dann oft mit den Folgen der Entbindung, der Belastung durch das Kind, das Stillen, den Schlafmangel etc. erklärt. Depressionen nach einer Entbindung gehen in der Regel mit Schlafstörungen einher (Einschlaf- und Durchschlafstörungen und eventuell auch vorzeitiges Erwachen). Es kann zu typischen Schwankungen im Laufe des Tages kommen mit Stimmungstief am frühen Morgen und Stimmungsaufhellung im Laufe des Tages.

Sehr quälend kann für die betroffene Mutter das Auftreten von Zwangsgedanken und Zwangsimpulsen sein (wiederkehrende unangenehme Gedanken und Impulse, die in der Regel als unsinnig angesehen werden) – so etwa der Gedanke bzw. Impuls, dem Kind vielleicht etwas anzutun, es zu verletzen, zu töten etc. Solche Zwangsgedanken versetzen die Mutter meist in starke Angst; sie sieht darin einen Beweis, daß sie eine schlechte Mutter ist und ihr Kind nicht liebt, und lebt in Angst davor, daß sie eines Tages das Schreckliche umsetzen könnte. Schuldgefühle und Scham verhindern oftmals, daß Mütter über solche Gedanken berichten – sie sind der Überzeugung, “die einzige schlechte Mutter” auf der Welt zu sein.

Sehr ernstzunehmen ist das Symptom Suizidalität, das bei schweren Depressionen fast regelmäßig auftritt und dann zur stationären Behandlung führen muß (ca. 10 bis 15% der Depressiven sterben durch Suizid, bei jungen Müttern besteht dann auch das Risiko des erweiterten Suizids, siehe unten).

Bei den sogenannten psychotischen Depressionen nach einer Entbindung kann die Patientin auch wahnhaft (d.h. absolut und unkorrigierbar) davon überzeugt sein, daß sie das Kind nicht richtig versorgt hat, daß sie eine schlechte Mutter ist und daß das Kind dadurch geschädigt wird etc. Folge solcher schweren psychotischen Depressionen ist in tragischen Einzelfällen die Tötung des Kindes (Infantizid, Häufigkeit insgesamt etwa 1:50.000 Geburten) im Rahmen eines sogenannten “erweiterten Suizids”. Dabei steht im Vordergrund die Suizidalität der Mutter, die aus ihrer depressiven Sicht heraus keinerlei Hoffnung für sich und ihr Kind mehr sieht oder das Kind von seinem vermeintlichen Leiden erlösen möchte und erst das Kind und dann sich tötet.

Im Rahmen solcher Wochenbettpsychosen können sich Depressionen auch mit anderen psychotischen Symptomen mischen, wie Störungen des formalen Gedankenganges, Verfolgungs- und Beeinträchtigungswahn, Halluzinationen(optische oder akustische Wahrnehmung ohne äußeren Reiz, z.B. Stimmen mit kommentierendem oder befehlendem Charakter) oder auch Ich-Erlebnis-Störungen (Überzeugung, daß die Gedanken oder Körperbewegungen von außen beeinflußt werden). Thema der Wahnsymptome ist bei diesen sogenannten schizodepressiven Wochenbettpsychosen sehr häufig die Überzeugung, verfolgt oder umgebracht zu werden, oder die Idee, das Kind sei vertauscht, das Kind sei ein Satan etc. Auch hieraus kann u.U. eine dramatische Entwicklung folgen.

Tritt die einer Depression entgegengesetzte manische Symptomatik auf, nämlich eine gehobene Stimmungslage mit Euphorie, Antriebssteigerung, Enthemmung, vermindertem Schlafbedürfnis, Größenideen etc., handelt es sich am ehesten um eine manische bzw. schizomanische Psychose nach der Entbindung. Eine Gefährdung resultiert in diesen Fällen durch falschen Umgang mit dem Kind bzw. eine Störung der allgemeinen Urteilsfähigkeit.

Beginn

In den ersten Tagen nach der Entbindung treten am ehesten die als “normal” anzusehenden Heultage mit Stimmungsschwankungen etc. auf. Innerhalb der ersten beiden Wochen ist die Gefahr für das Auftreten von Psychosen am größten; etwa 70% aller Psychosen nach einer Entbindung beginnen in dieser Zeit. Postnatale Depressionen dagegen können sowohl direkt nach einer Entbindung als auch noch Wochen und Monate später beginnen.

Wochenbettpsychosen und auch Depressionen treten am häufigsten nach der ersten Entbindung auf. Alter, Familienstand, Schulbildung, Beruf, Entbindungsmethode oder auch Geschlecht des Kindes haben keinen direkten Einfluß auf das Auftreten. Allerdings ist das Erkrankungsrisiko größer bei psychischen Störungen in der Vorgeschichte oder bei einer familiären Belastung, z.B. wenn bereits Frauen an einer postnatalen Depression oder Psychose erkrankt waren, oder auch wenn psychische Störungen insgesamt in der Familie vorgekommen sind.

Verursachung

In den ersten Wochen der Schwangerschaft sinken die Hormone Progesteron und Östrogen nicht wie üblicherweise in der zweiten Hälfte des Menstruationszyklus wieder ab, sondern steigen weiter an auf ein hohes Niveau und bleiben dort während der gesamten Schwangerschaft. Nach der Entbindung kommt es durch den Ausfall der in der Plazenta produzierten Hormone dann zu einem sehr abrupten Hormonabfall. Es liegt nahe, diese raschen hormonellen Veränderungen nach der Entbindung für dann auftretende psychische Störungen verantwortlich zu machen. Die intensive Erforschung dieser Thematik konnte aber keinen zwingenden Zusammenhang zeigen; am ehesten sind die hormonellen Veränderungen noch für die bereits erwähnte stimmungsmäßige Labilität nach der Entbindung (Heultage) verantwortlich.

Da postnatale Depressionen nicht bei allen, sondern nur etwa bei einer von 10 Frauen nach der Entbindung auftreten und Wochenbettpsychosen noch seltener sind, ist die hormonelle Umstellung nach der Geburt wahrscheinlich nur ein Faktor in einem multifaktoriellen Geschehen. Verschiedene weitere Faktoren können bei den Depressionen und Psychosen post partum eine Rolle spielen: die bereits erwähnte familiäre Belastung mit psychischen Störungen, die körperliche Belastung einer Geburt im allgemeinen, evtl. verstärkt durch Kaiserschnitt oder auftretende Infekte etc., soziobiographische Parameter wie etwa eine ungewollte Schwangerschaft oder ansonsten schwierige soziale Situation, Beziehungsprobleme, die von der jungen Mutter geforderte Einstellung auf ihre veränderte Rolle, oftmals verbunden mit dem Rückzug aus dem Berufsleben, und schließlich die psychologischen Belastungen, die mit einer Entbindung einhergehen können, wie etwa Krankheit oder Tod des Kindes oder andere zusätzlich auftretende relevante Lebensereignisse. Es muß allerdings auch gesagt werden, daß bei einer Reihe von erkrankten Frauen keinerlei Belastungsfaktoren erkennbar sind.

Therapie

Die Behandlung der psychischen Störungen nach einer Entbindung ist abhängig von Ausprägung und Schweregrad: Die “Heultage” sind in der Regel nicht behandlungsbedürftig und gehen von selbst vorbei. Wochenbettdepressionen dagegen werden zu selten erkannt und behandelt, oftmals auch deshalb, weil auftretende Beschwerden als “normal” für eine junge Mutter angesehen werden oder diese sich schämt, über ihre Beschwerden und Ängste zu berichten. In Abhängigkeit von der Symptomatik bietet sich eine kombinierte psychotherapeutische/ pharmakotherapeutische Behandlung an. Dabei ist für schwere Depressionen der Einsatz von Medikamenten (Antidepressiva) meist unerläßlich, was allerdings erschwert wird, wenn die Mutter weiter stillen möchte (die meisten Medikamente treten in die Muttermilch über).

Ziel der psychotherapeutischen Maßnahmen ist die Bewältigung der Krankheitssymptome, Aufklärung über die Erkrankung unter Einbeziehung des Ehemannes, Erlernen des Umgangs mit Symptomen (besonders wichtig beim Auftreten von Ängsten und Zwangsgedanken), aber auch die Einstellung auf die neue Situation in Familie und Beruf.

Bei psychotischen Depressionen bzw. schizodepressiven Wochenbettpsychosen ist eine stationäre Behandlung unbedingt erforderlich (z.B. wegen des Suizidrisikos); hier steht die medikamentöse Behandlung an erster Stelle. Das gleiche gilt für Psychosen mit manischer Symptomatik – eine stationäre Behandlung ist unbedingt erforderlich, auch wenn die betroffene Mutter selbst keinerlei Krankheitsgefühl hat. Nach Abklingen der psychotischen Symptomatik muß auch in diesen Fällen die Behandlung durch psychotherapeutische Maßnahmen ergänzt werden, da die Betroffenen und ihre Angehörigen oftmals große Schwierigkeiten haben, mit der Erfahrung dieser Erkrankung fertig zu werden. Hilfreich dabei kann auch der Kontakt zu anderen Betroffenen sein, z.B. im Rahmen von Selbsthilfegruppen.

Literatur

  • Ann Dunnewold, Diane G. Sanford: “Ich würde mich so gerne freuen!” Verstimmungen und Depressionen nach der Geburt. Hilfen für Mütter und Väter. Trias Verlag 1996
  • Elisabeth Geisel: “Tränen nach der Geburt”. Kösel Verlag 1997
  • Petra Nispel: “Mutterglück und Tränen. Depression nach der Geburt verstehen und überwinden”. Herder Verlag 1996

Weitere Beiträge der Autorin in unserem Familienhandbuch

Autorin

Prof. Dr. med. Anke Rohde

Universitätsklinikum Bonn
Gynäkologische Psychosomatik
Sigmund-Freud-Str. 25
53105 Bonn

Tel.: 0228/287-4737

E-Mail

Studie zur psychosozialen Beratung von Schwangeren im Rahmen von Pränataldiagnostik

Selbsthilfegruppe “Schatten & Licht” e.V.

Erstellt am 22. Juni 2001, zuletzt geändert am 19. Februar 2010

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