Elterliche Sorge - Teil 1: Rechtliche Definition von Familie
Prof. Dr. Hans Schleicher/ Prof. Dr. Susanne Nothhafft
Elterliche Sorge als Ausdruck des Verständnisses von Familie im Recht: Kein anderes Verhältnis spiegelt die gesellschaftliche Konstruktion von Familie und deren Veränderung so wieder wie die Regelung der elterlichen Sorge im Familienrecht. Deshalb sollen hier kurz die wesentlichen Dimensionen des rechtlichen Begriffs von Familie dargestellt werden.
Kein anderes Verhältnis spiegelt die Konstruktion von Familie und deren Veränderung so wieder wie die Regelung der elterlichen Sorge im Familienrecht. Deshalb seien ein paar grundsätzliche Überlegungen an der Anfang gestellt:
Familie und Recht
Das Verhältnis zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen Eltern und Kindern stellt ein zentrales kulturelles und sozialpolitisches Thema dar und hat sich im Lauf der Jahrhunderte, im Besonderen jedoch in den letzten drei Jahrzehnten grundlegend geändert.
Zur Zeit des In-Kraft-Tretens des BGB im Jahr 1900 – im wilhelminischem Kaiserreich – war der Mann und Vater eine fast uneingeschränkte Herrscherfigur in Ehe und Familie, während Frau und Kinder fast keine Mitsprache-Rechte hatten. Der Mann konnte der Frau z.B. die Berufstätigkeit untersagen und hatte die elterliche Gewalt über die Kinder. Erst in den 1950er Jahren begann der deutsche Gesetzgeber, die Rechte von Mann und Frau und ehelichen wie nichtehelichen Kindern schrittweise anzugleichen.
Folgende Erfahrungen prägen gegenwärtig den Diskurs um die Konstruktion von Familie:
- Grundlegende Veränderungen im Partnerschaftsverhältnis vor dem Hintergrund der Forderung nach einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf
- Auflösung traditioneller Haushaltsformen – Entstehen neuer Formen von Haushalts- und Lebensgemeinschaften
- Zunahme der Zahl der Scheidungen
- Steigenden Zahl von Alleinerziehenden
- Rückgang der Eheschließungen
- Anstieg der nichtehelichen Lebensgemeinschaften
- Absinken der Geburtenraten
Familie ist einerseits der privateste Raum der meisten Menschen, in den sich der Staat grundsätzlich nicht einmischen sollte: Anderseits ist Familie natürlich keine reine Privatsache, sondern eines der Fundamente von Staat und Gesellschaft, das Familienpolitik und Familienrecht fördern und stabilisieren soll.
Familienrecht und Grundgesetz
Die Familie steht unter dem besonderen Schutz des Staates. Dies ist verankert in der Verfassung des Bundes, dem Grundgesetz (GG) in Art. 6 GG, und in den Verfassungen der Länder, so z.B. in der Bayerischen Verfassung (BV) in Art. 124 BV.
Das Grundgesetz enthält im Wesentlichen fünf zentrale Bestimmungen, die für Familie wichtig sind:
- Art 6 Abs. 1 GG: Ehe und Familie (besonderer Schutz durch die staatliche Ordnung)
- Art. 3 Abs. 1 Satz1 GG: Gleichberechtigung von Mann und Frau
- Art. 6 Abs. 2: Pflege und Erziehung der Kinder (als Recht und Pflicht der Eltern – staatliches Wächteramt)
- Art. 6 Abs. 4 GG: Mutterschutz (Anspruch auf Schutz und Fürsorge)
- Art. 6 Abs. 5 GG: Gleichberechtigung ehelicher und nichtehelicher Kinder
Art. 6 Abs. 1 GG ist ein klassisches Freiheitsrecht im Sinne der im 18. und 19. Jahrhundert erkämpften Abwehrrechte gegen den – damals noch stark obrigkeitlichen – Staat. Danach war und ist die Privatsphäre von Familie grundsätzlich vor äußerem Zwang durch den Staat geschützt und der Staat ist verpflichtet, dies zu respektieren und zu fördern. Die Familie wird zudem als besondere Lebensordnung (Institution) geschützt und können sich auf eine sgn. Institutsgarantie berufen. Art. 6 Abs. 1 GG enthält im weiteren eine besonderen Gleichheitssatz: Dieser verbietet Familie als Lebensform gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsformen schlechter zu stellen (Diskriminierungsverbot). Schließlich enthält Art 6 Abs. 1 GG eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des öffentlichen und privaten Rechts: Ehe und Familie dürfen als Lebensform nicht geschädigt oder beeinträchtigt werden (Beeinträchtigungsverbot), sondern sollen vielmehr durch geeignete Maßnahmen gefördert werden (Förderungsgebot). Daraus lässt sich aber kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf eine direkte, konkrete Leistung ableiten.
Von ebenfalls fundamentaler praktischer Bedeutung ist das in Art. 6 Abs. 2 GG formulierte (Spannungs)Verhältnis zwischen Elternrechten und staatlichem Wächteramt - der zentralen Beauftragung für die Kinder- und Jugendhilfe.
Der Familienbergriff des Grundgesetzes
Der Begriff der Familie im Grundgesetz ist offen zu verstehen. Zweifelsfrei ist in erster Linie die Beziehung zwischen Eltern und den ihrer Sorge unterstehenden Kindern gemeint. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) versteht unter Familie jedenfalls die zwischen Eltern und Kindern bestehende Gemeinschaft einschließlich der Gemeinschaft mit Stief-, Adoptiv- und Pflegekindern. Einbezogen ist auch das Verhältnis der Mutter und des Vaters zu ihrem nichtehelichen Kind. Die neue Rechtsprechung des BVerfG stellt stark auf den sozialen Tatbestand ab: „Art. 6 I GG schützt die Familie als Gemeinschaft von Eltern und Kindern. Dabei ist nicht maßgeblich, ob die Kinder von den Eltern abstammen und ob sie ehelich oder nichtehelich geboren wurden. Familie ist die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Kindern und Eltern, die für diese Verantwortung tragen." Deshalb bildet auch der leibliche, rechtlich (noch) nicht anerkannte Vater mit dem Kind eine Familie im Sinne des Art. 6 I GG, wenn er tatsächlich Verantwortung für sein Kind trägt und daraus eine soziale Beziehung zwischen ihm und dem Kind entsteht.
Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) enthält keine Begriffsbestimmung der Familie. Es regelt in seinem 4. Buch (Familienrecht) nicht die Familie als Gemeinschaft, sondern Rechte und Pflichten und damit die Rechtsbeziehungen der einzelnen durch Ehe und Verwandtschaft verbundenen Personen (z. B. der Ehegatten untereinander; der Eltern zu den Kindern). Obwohl Teil des Privatrechts, ist das Familien- recht weitgehend zwingendes Recht, d. h. die Betroffenen können ihre Rechtsbeziehungen nur insoweit frei regeln, als das Gesetz es ausdrücklich gestattet. Z. B. können Ehegatten für die Zeit des Getrenntlebens oder nach der Scheidung abweichend von den gesetzlichen Regelungen Unterhaltsvereinbarungen treffen.
Europäischen Konvention zum Schütze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
Neben dem GG kommt auch der EMRK und ihrer Interpretation durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhebliche Bedeutung für die Entwicklung des Familienrechts zu. Die Konvention bildet einen völkerrechtlichen Vertrag, der von der Bundesrepublik ratifiziert und als innerstaatliches Gesetz unmittelbar anwendbar ist. Besondere Bedeutung hat Art. 8 der Konvention erlangt, wonach jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens hat. In die Ausübung dieses Rechts dürfen nationale Hoheitsträger nur unter eng umschriebenen Voraussetzungen eingreifen. Zu beachten ist ferner das Diskriminierungsverbot des Art. 14 der Konvention, das Ungleichbehandlungen aus Gründen des Geschlechts grundsätzlich ausschließt. Der EGMR hat ausgesprochen, dass das Recht auf Achtung des Familienlebens zwischen „ehelicher" und „nichtehelicher" Familie grundsätzlich keinen Unterschied.
Autoren
Erstversion: Prof. Dr. Hans Schleicher, München
Überarbeitung und Aktualisierung: Prof. Dr. Susanne Nothhafft, Professorin für Recht an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München.
Weitere Beiträge von Prof. Dr. Susanne Nothhafft in unserem Familienhandbuch:
- Elterliche Sorge - Teil 2: Was bedeutet und umfasst elterliche Sorge eigentlich?
- Elterliche Sorge - Teil 3: Elterliche Sorge nach Trennung und Scheidung
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erstellt am 22. April 2002, zuletzt geändert am 31.Oktober 2016