Stillen – “Abspeisen” oder stärkendes Band?

Dr. Gabriele Haug-Schnabel
Haug-schnabel Gabriele
 

Nachfolgender Artikel beschäftigt sich mit dem Stillen und seiner möglichen Wirkung auf die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Dabei wird ein intensiver Blick auf kindliche Signale und die Interaktion zwischen Eltern und Kindern geworfen. Eine bedürfnisorientierte Ernährung durch das Stillen wird in den Fokus gerückt und anhand unterschiedlicher Argumente diskutiert.

Wird durch Stillen nur der Wunsch nach Nahrung und Sättigung befriedigt oder kann Stillen mehr? Nähe geben, Sicherheit vermitteln, Bindung stärken, dem Säugling signalisieren, dass auf seine Bedürfnisse eingegangen wird? Etwa die Hälfte aller Mund-Brust-Kontakte dient der Beruhigung. Das Stillen erleichtert den Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen Mutter und Kind, der ersten Beziehung, die das Kind eingeht. Diese erste Erfahrung nimmt Einfluss darauf, wie gut das Kind später im Leben Beziehungen eingehen und gestalten kann. Wenn die Mutter nach Bedarf stillt, ist ein erster Schritt für die Befriedigung der Bedürfnisse des Säuglings getan. Hier legen sowohl Mutter als auch Säugling den Bedarf fest, was eine gute Interaktion der beiden Beziehungspartner voraussetzt. Die Mutter bemerkt bald unterschiedliche Stillanlässe und reagiert differenziert, so dass sie dem Säugling hilft, einen Unterschied zwischen Hunger oder Aufregung wahrzunehmen.

Es ist wichtig, ein Kind sicher und dadurch stark zu machen. Es muss bereits im Säuglingsalter merken, dass es auf seine Bezugspersonen Einfluss nehmen, seine Umgebung mitgestalten kann, sich eben nicht ohnmächtig und ausgeliefert erlebt. Es muss die Erfahrung machen, dass es sein Befinden und seine Bedürfnisse äußern kann, dass diese verstanden und adäquat beantwortet werden. Denn nur dann kann es auch echte Befriedigungen erleben, eben keine Wohl-oder-übel-Ersatzbefriedigung, die angenommen werden muss, weil Besseres nicht kommt oder gar unbekannt ist.

Zusammenhänge wie diese lassen sich am besten mit einem Beispiel erklären:

Das Stillen, genauer noch das durch das Stillen unterstützte Beziehungsgeschehen zwischen Mutter und Kind, verdient in diesem Zusammenhang größte Aufmerksamkeit. Was muss in einem Säugling vorgehen, der bei jedem Schreien die Brust in den Mund gesteckt bekommt, mit der Aufforderung “trink” , um wieder still zu werden, auch wenn er mit seinem Schrei etwas ganz anderes melden und verändern wollte als Hunger und Magenfüllmenge, nämlich z. B. Einsamkeit, Zuwendungsdefizit, Lust sich zu unterhalten oder zu spielen, Unmut, Langeweile oder gar Angst? Deshalb ist die Frage, wie auf Gefühlsäußerungen von Säuglingen reagiert wird, so wichtig. Mit Aufmerksamkeit und differenzierter Zuwendung, je nach Schreigrund, oder immer mit Stillen, gedacht als Nahrungsangebot?

Um es vorweg zunehmen: durch diese Pauschalantwort kann gelernt werden, generell alle negativ besetzten Gefühlszustände mit Nahrungsaufnahme zu beantworten, weil andere Strategien, mit negativen Gefühlen umzugehen, nicht zur Verfügung stehen. Ein Lernprozess also, der dringend vermieden werden sollte.

Doch etwa die Hälfte aller Mund-Brust-Kontakte dient nicht der Nahrungsaufnahme, sondern der Beruhigung. Hier handelt es sich um eine angeborene, biologisch bedingte orale Beruhigungsmöglichkeit höchster Priorität.

Stillen

Es scheint sich also zu lohnen, das Stillen näher anzuschauen. Das Stillen ist die naturgemäße Ernährung eines Säuglings:

  • es steigert seine Abwehrkräfte,
  • ist eine anerkannte Vorbeugung gegen Allergien,
  • die Muttermilch ist in bezug auf Energie- und Nährstoffbedarf optimal zusammengesetzt
  • und direkt an die Nieren- und Darmfunktion eines Säuglings angepasst.

Das Stillen ist ein geeigneter Startimpuls zum Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen Mutter und Kind, da diese spezielle und einzigartige Art der Interaktion die Beziehungsaufnahme zwischen beiden erleichtert.

Selbstverständlich kann auch ein mit der Flasche genährtes Kind eine gute Bindung zu seiner Mutter aufbauen, genauso wie zu seinem Vater, dem die Starthilfe Stillen ja nie zur Verfügung steht. Hier kommt der Beziehungsaufbau ohne die erleichternden Voraussetzungen der Still-Interaktion zustande. Das emotionale Band zwischen Kind und Mutter ist die erste Beziehung, auf die ein Kind sich einlässt. Bei einem gestillten Kind sind auch die Erfahrungen beim Stillen daran beteiligt, Qualitätsstandards im Beziehungsgeschehen aufzustellen, mit denen alle späteren Beziehungen verglichen werden. Diese Erfahrungsbilanz entscheidet mit, wie leicht es einem Kind im weiteren Leben fallen wird, Beziehungen einzugehen und diese auch nach seinen Vorstellungen und Bedürfnissen mit zu gestalten.

So wichtige Aspekte wie gegenseitiges Kennenlernen, sich aufeinander abstimmen, Versuche gegenseitiger Einflussnahme und hierbei die Erfahrung, wirksam oder hilflos zu sein, spielen beim Stillen eine große Rolle und heben seine Bedeutung außerhalb des Bereichs der Nahrungsaufnahme nochmals deutlich hervor. Mit der Abkehr vom “Füttern nach Plan” und der erfreulich häufigen Hinwendung zum “Füttern nach Bedarf” , also auf Verlangen des Säuglings, war ein erster großer Schritt getan, der dem Aspekt Beziehungsgeschehen beim Stillen entgegen kam.

Das Nahrungsverlangen eines Kindes ist individuell sehr verschieden und hängt außerdem von der Milchproduktion der Mutter, Menge und Beschaffenheit der Milch betreffend, ab, die ebenfalls unterschiedlich ist.

Die tägliche Trinkmenge ist jedoch unabhängig vom Körpergewicht des Babys, sie steht in Beziehung zur individuellen Verdauung, der Stoffwechselrate und dem jeweiligen Wachstumstempo. Ein erzwungener Stundenplan von außen führt lediglich zu einem massiven Widerstand beim Baby. Das von außen gesteuerte Nahrungsangebot kann so z. B. zu einem Zeitpunkt erfolgen, an dem das Kind noch keinen Hunger hat oder sich bereits über den größten Hunger hinweggeschrieen hat.

Mit dem “Füttern nach Bedarf” ist eine weit günstigere Regelung für Mutter und Kind gefunden worden. Die Mütter müssen sich nicht mehr nach schematischen Vorgaben bei der Ernährung ihres Kindes richten und das Geschrei aushalten, bis die Uhr die nächste Mahlzeit erlaubt. Und der Säugling muss nicht mehr seine ganze Kraft aufbieten, um gegen den für ihn unverständlichen Nahrungsaufschub anzuschreien, um schließlich festzustellen, dass seine Bedürfnisse nur mit großer Anstrengung oder gar nicht befriedigt werden. Hier entsteht ein Gefühl der eigenen Machtlosigkeit verbunden mit physiologischem Unwohlsein, eine höchst unbefriedigende Situation.

Den Bedarf beim “Füttern nach Bedarf” legen jedoch mindestens zwei Personen fest: Die Mutter und das Kind. Das Baby signalisiert durch Schmatzen, suchende Bewegungen mit dem Kopf, Hungerlaute und notfalls Schreien seinen Appetit. Hält man ihm einen Finger oder ähnliches hin, beginnt es sofort daran zu saugen, wenn er hungrig ist. Aber es ist letztendlich die Mutter, die die kindlichen Signale interpretiert und entscheidet, ob sie bereit dazu ist, das Baby an ihre Brust zu lassen oder ihm eine Flasche zu machen.

Wie frei der Zugang des Kindes zur mütterlichen Brust ist, hängt von kulturellen Gewohnheiten, ideologischen Vorstellungen, Erziehungsleitsätzen und der Toleranz der Mutter gegenüber dem kindlichen Anspruch einer fast pausenlosen Verfügbarkeit über sie ab. Über all diese Punkte lohnen sich intensive Diskussionen auf der Basis neuer Forschungserkenntnisse.

Der Stillverlauf wird aber noch durch einen anderen wichtigen Aspekt bestimmt: die Interaktionsfähigkeit der zwei Beziehungspartner. Was Eltern-Kind-Interaktionen zu besonders guten Eltern-Kind-Interaktionen macht, weiß man heute genau. Der Zauberschlüssel, um die kindliche Interaktionsfähigkeit zu starten und Missverständnisse im Kommunikationsverlauf gering zu halten, ist bekannt: Es ist die einfühlsame, passende, für die jeweilige erwachsene Person typische, also immer etwa gleichartige und prompte Antwortreaktion auf kindliche Verhaltenssignale. Der Sender, das Kind, richtet seine weiteren Mitteilungen an der Antwortqualität seines Empfängers, der Mutter oder des Vaters aus. Eine gelungene Interaktion zwischen Eltern und Säugling ist dadurch gekennzeichnet, dass die elterlichen Verhaltensweisen

  • zeitlich auf die des Säuglings bezogen sind,also “passen” und nicht endlos auf sich warten lassen. Eine schnelle Antwort macht das Baby zufrieden, denn sie erlöst es aus Unwohlsein oder Unsicherheit
  • zuverlässig erfolgen, so dass das Kind sich darauf verlassen kann, dass eine Reaktion kommen und zudem noch, wie diese vermutlich aussehen wird. Bald kann das Kind die Antworten treffsicher der Mutter oder dem Vater zuordnen, der Wiedererkennungswert erleichtert den Umgang mit verschiedenen Ansprechpartnern und macht die Unterhaltung spannender. Der Aspekt “soziale Erfahrung” kommt hinzu
  • auf den Entwicklungsstand des Kindes und sein momentanes Befinden abgestimmt sind, somit dem Alter des Kindes entsprechen, wie auch Zeiten der Hochform oder Momente des Unwohlseins oder gar besonderer Unruhe bei der Antwortwahl berücksichtigen. Hier spielt sich auch das Erkennen der wirklichen Bedürfnisse und ihrer “wirklichen” Befriedigung ab.

Eine hohe Antwortbereitschaft, haben Eltern, die wenig Zeit zwischen den kindlichen Signalen und ihren Reaktionen darauf vergehen lassen. Nicht nur anwesende, sondern ansprechbare, berührbare Eltern sind gefragt. Nur wenn kindliche Aktion und elterliche Reaktion zeitlich direkt aufeinander folgen, mit übrigens höchstens 200 – 800 Millisekunden Abstand dazwischen, kann das Kind beide Verhalten als zusammengehörig wahrnehmen. Und nur dann wird es sein gezeigtes Verhalten als beantwortet empfinden. Wissenschaftliche Analysen zeigen, dass engagierte, nicht zu sehr belastete Eltern mit ihren Reaktionen intuitiv tatsächlich das optimale Zeitfenster einhalten, das dem Säugling eine positiv verbuchte Wahrnehmung ermöglicht.

Keine Angst, Sie müssen jetzt nicht mit der Stoppuhr neben Ihrem Kind stehen und – auf die Plätze, fertig, los! – lächeln, sprechen oder streicheln. Sie brauchen gar nicht darüber nachzudenken, das würde alles sogar ins Stocken bringen. Es ist beruhigend zu wissen, dass es Ihnen sehr oft gelingt, die äußerst kurze Reaktionszeit während des Interaktionspingpongs einzuhalten, automatisch, auf Ihr Kind abgestimmt, da hat unsere Biologie vorgesorgt.

Leider kann es dennoch immer wieder zu Pannen kommen. Zu viel Einsamkeit, körperliche und psychische Überlastung, aus der eigenen Kindheit mitgeschleppte und immer noch auf Emotionen und Reaktionen einflussnehmende Angstgespenster können die intuitiven Fähigkeiten der Eltern behindern oder völlig blockieren. Die Aktionen und Bemühungen der Kinder, einen Kontakt anzubahnen, gehen ins Leere. Unter diesen Umständen verlernen Kinder ihre angeborenen Fähigkeiten zum gelungenen Dialog. Man kann nur hoffen, dass bevor dies passiert, genügend Ansprech- und Gefühlspartner für Mutter und Kind zur Verfügung stehen und ein soziales Netz die beiden “Interaktionspartner in Gefahr” auffangen kann. Oft braucht es dann auch professionelle Hilfe um nachzuholen, was die Natur beim ersten Anlauf allein nicht bewirken konnte.

Im Normalfall stößt ein Kind bei seinen Dialogversuchen auf die passende Resonanz seitens seiner Eltern. Bereits mit wenigen Wochen kann ein Säugling so eine Verbindung zwischen seinem Verhalten und den spannungsmildernden, beruhigenden Verhaltensweisen der Bezugspersonen herstellen. Wir dürfen sicher sein, dass genau diese Erfahrung unheimlich wichtig ist, zeigt sie doch nun zum ersten Mal dem Baby, und das in unterschiedlichen Situationen immer wieder, dass es selbst, so klein es ist, einen Effekt erzielen kann, sich also nicht ohnmächtig und hilflos erleben muss.

Untersuchungen zeigen, dass ein Drittel aller Interaktionen zwischen Mutter und Kind bereits sofort optimal koordiniert ablaufen, also auf Anhieb passen. Der Sender erreicht mit seiner Botschaft den Empfänger. Eigentlich genug Grund für beide Seiten stolz zu sein und Vertrauen zu sich selbst zu haben. Die Sensation geht aber noch weiter: 70% aller nicht sofort passenden Interaktionen, also 70% aller sich ereignenden Missverständnisse werden innerhalb von 2 Sekunden repariert, passend gemacht. Dass ein Drittel aller “Gespräche” zwischen Mutter und Kind sofort harmonisch koordiniert sind, ist toll, doch langfristig mindestens genauso bedeutungsvoll für die Erfahrung des Kindes sind die vielen schnurstracks nachgebesserten Interaktionen. Die elterlichen Bemühungen zeigen ihm, wie wichtig es seiner Mutter, seinem Vater, ist, es richtig zu verstehen. Diese Szenen melden ihm aber auch zurück, dass es durchaus über Fähigkeiten, sich klar auszudrücken, verfügt und es aktiv daran beteiligt ist, seine Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. Es ist mit Sicherheit ein gutes Gefühl, Spannungs- und Interaktionsregulierung als Ergebnis eigener Bemühungen zu erleben.

Schaut man Eltern und Kind bei ihren Interaktionen etwas länger zu, bemerkt man plötzlich, dass auch Eltern häufig dazu neigen, kindliche Verhaltensäußerungen nachzuahmen. Wie ein “biologischer Spiegel” formen die Eltern den Gesichtsausdruck, den das Baby gerade macht nach, das Lächeln, den Schmollmund, das Gähnen, immer unterstützt durch eine passende Gestik oder Lautäußerung, meist begleitet durch einen erklärenden Kommentar. Nicht selten übertreiben Eltern dabei ein bisschen, wiederholen die Sequenz immer wieder und machen unerwartet kleine Abwandlungen, die das Kind zum erneuten Nachmachen und zur Korrektur der bisherigen Mimik reizen.

Wir wissen heute: Eltern tragen durch das Widerspiegeln kindlicher Verhaltensäußerungen auch zur Entwicklung der kindlichen Selbstwahrnehmung bei: Sie ermöglichen dem Kind, in ihrem Gesicht sich selbst zu erblicken. Das heißt, ein anderer Mensch stellt mir seine Wahrnehmung und seine Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung, um dadurch ein Bild von mir selbst zu bekommen. Deckt sich dieses rückgemeldete Bild mit meinen Empfindungen?

Es braucht keineswegs alles optimal zu laufen, aber beide “Gesprächspartner” müssen dennoch insgesamt eine stimmige gegenseitige Bezogenheit erleben. Was heißt das? Die Spiegelung des Kindes durch die Mutter darf nicht zu weit vom kindlichen Selbsterleben abweichen. Sonst entstehen zwei unterschiedliche Versionen der Realität, die an der Echtheit der eigenen Gefühle zweifeln lassen. Kann ich mir und meinen Empfindungen denn vertrauen?

Prompt, zuverlässig und angemessen zu reagieren, haben wir bereits als ausschlaggebend für jede Interaktion kennen gelernt. Der Erwachsene muss bereit sein, das subjektive innere Erleben des Kindes zu teilen. Ungeheuer wichtig ist auch, das Wahrgenommene sprachlich zu bestätigen. Hierzu sind ausreichend gute Abstimmungsprozesse nötig, die eine gemeinsam gelebte Wirklichkeit entstehen lassen.

“Jetzt ist unsere Stefanie aber müde!”

“Warum musst Du Dich denn so aufregen?”

“Das ist toll, das macht Dir Spaß!”

“Nein, das findet Mama nicht gut!”

“O, nein, das ist doch kein Grund um Angst zu haben, schau, die Mama ist doch schon da!”

In welchen Dialogen erfährt das Kind am meisten über sich?

  • bei echten Spiegelungen,
  • wenn Gefühle und Wahrnehmungen des Kindes einfühlsam erfasst und sprachlich passend bestätigt werden,
  • wenn das ganze Repertoire von Erfahrungen und Emotionen ins zwischenmenschliche Erleben eingeschlossen wird. Es darf alles angesprochen werden, nichts wird ausgeklammert,
  • also in einer stimmig erlebten Beziehungsrealität.

Das ist ein günstiger Moment, nochmals auf das Beruhigungssaugen zurückzukommen. Eine für kindliche Signale sensible Mutter nimmt die Erregung des Kindes wahr und kann sie bald von Hunger unterscheiden. Vielleicht hat sie bereits die Auslösesituation für Weinen und Unruhe erkannt und legt das Kind nun zur Beruhigung an. Ist das Baby zum Trost und zum Erregungsabbau an der Brust, verhält sich die Mutter ganz speziell, sie spricht mit besänftigender Stimme, streichelt das Kind, hält ein Händchen, manche Mutter bewegt in dieser Situation ihren Oberkörper beim Stillen leicht rhythmisch hin und her. Ganz anders, als wenn eine Mutter ein hungriges Kind anlegt: nach Einnahme einer möglichst optimalen Stillposition, verhält diese sich ruhig, spricht wenig, streichelt und tätschelt nicht, um die Saugphasen nicht zu stören. In den kurzen Saugpausen, die zwischen dem intensiven Trinken liegen, suchen Mutter und Kind Blickkontakt, die Mutter spricht das Kind kurz an, streichelt es mitunter, aber nur bis das Kind wieder zu trinken beginnt, dann ist wieder Ruhe.

Das unterschiedliche mütterliche Verhalten bei der Nahrungsgabe und beim Beruhigen, erleichtert es dem Kind, auch zwischen seinen beiden unterschiedlichen Empfindungen Hunger und Aufregung zu unterscheiden. Ist anfangs die orale Befriedigung ausschlaggebend, den Erregungspegel zu dämpfen, so nehmen im Laufe der Zeit die das Anlegen begleitenden Beruhigungsmaßnahmen wie Sprechen, Streicheln, auf dem Arm gewiegt werden immer mehr an Bedeutung zu, bis sie das Trostsaugen vollständig ersetzen. So ist gewährleistet, dass die kindlichen Bedürfnisse alters- und situationsgemäß befriedigt werden.

“Nuckelflasche “- harmlos oder gefährlich?

Der Weg zur Befriedigung und ihr Ergebnis müssen stimmen, damit sie echt befriedigend ist, das heißt in der Lage, Bedürfnisse bedürfnisgerecht zu stillen. Eine Nahrungsgabe ist ein beliebter Versuch, unterschiedliche Bedürfnisse mit einer einzigen Sorte Befriedigungsangebot zu beantworten. Dass hier letztendlich unbefriedigend, höchstwahrscheinlich sogar gefährlich gearbeitet wird, muss erst verstanden werden.

Ein Beispiel: Beim Stadtbummel fallen viele Kinder im Alter zwischen 2 und 4 Jahren auf, die eine Flasche mit sich tragen. Sie haben” heiße “Techniken entwickelt, sie in allen Lebenslagen zu halten, um sie ja nicht zu verlieren. Beim Gehen, beide Hände voll, gelingt es ihnen, sie im Mund zu halten, mitunter sogar dabei zu sprechen. Die Flasche ist ihr ständiger Begleiter. Ab und zu dient sie dazu, mit einem kräftigen Schluck den Durst zu stillen, meist aber ist sie in völlig anderen Funktionen im Einsatz.

Dieser Dauernuckel ist in Verruf geraten. Zahnärzte warnen seit langem vor massivem Kariesbefall, besonders wenn Säfte oder gesüßte Tees in der Flasche sind. Doch auch bei Mineralwasser geben sie keine Entwarnung, da das Dauernuckeln am Tag oder in der Nacht die Speichelzusammensetzung verändert, was den Zahnschmelz für Bakterien angreifbarer macht. Kieferorthopäden befürchten zu Recht bei einem Nuckelflaschendauereinsatz Kieferdeformationen und veränderte Zahnstellungen, die aufwendige Korrekturen nötig machen werden.

Seit einigen Jahren beschäftigt sich auch die Suchtprävention mit den Nuckelflaschen. Wo setzen die Bedenken der Spezialisten an und wie begründen sie diese? Da gilt es zuerst die Frage zu klären, wie die Flasche in den Mund kam und zum Dauernuckel wurde. Ein Säugling bekommt die Brust oder Flasche, wenn er schreit, weil er hungrig oder unruhig ist. Wir nähren und beruhigen das Kind dadurch, wir” stillen “es. Es gelingt recht leicht, ein Kind mit Brust oder Flasche zufrieden zu stellen, zumindest ruhig zu stellen. Wie wichtig es für ein Kind ist, zu lernen zwischen Hunger und Erregung zu unterscheiden, wissen wir inzwischen. Der enge Kontakt beim Brustgeben erleichtert die Differenzierung, die leichte Handhabung der Flasche verleitet dazu, auf den Unterschied nicht mehr zu achten.

Für die Eltern wird das Kind mit Flasche pflegeleichter als ohne. Sie stellt recht zuverlässig das Schreien und Weinen ab, erspart lange Auseinandersetzungen und macht Aktionen, Besichtigungen, ausgedehnte Stadtgänge, endlose Einkaufsbummel etc., möglich, die ohne Flasche nicht möglich gewesen wären. Sie verleitet aber auch dazu, nicht mehr genau hinzuhören. Sie erlaubt Unaufmerksamkeit gegenüber kindlichen Signalen, denn das Ergebnis ist in den meisten Fällen einfach Ruhe. Somit besteht auch keine Notwendigkeit mehr, sich genauer nach Bedürfnissen und Wünschen zu erkundigen.

Die Flasche scheint anfangs auch für das Kind von Vorteil zu sein. Es beruhigt sich und muss offensichtlich nicht mehr nach etwas anderem suchen. Doch hat es tatsächlich das bekommen, was es wollte und brauchte?

Das Kind macht die Erfahrung, unangenehme Gefühle, Unruhe und Erregung gehen mit der Flasche weg. Sie hilft mir über schwierige Zeiten hinweg. Ich muss gar nichts tun, nur Flasche trinken. Etwas läuft mir die Kehle hinunter und schon wird es mir besser, ich werde wieder ruhiger. Zu welchem Zeitpunkt, in welchem Alter dieses Kind das erste Mal versteht, dass die Flasche nur ein Tröster, aber keine echte Lösung ist, wissen wir nicht genau, zumal es hierbei von Kind zu Kind erhebliche Unterschiede geben wird. Aber irgendwann wird es merken, dass sich an den Ursachen für sein Unwohlsein (falls es nicht Durst oder Hunger war) nichts geändert hat, kein primärer Wunsch durch die Flasche in Erfüllung ging. Das ist desillusionierend und entmutigend. Denn womöglich hat das Kind bis dahin schon oft feststellen müssen, dass es nicht in der Lage ist, am Unwohlsein selbst etwas zu verändern oder mitteilen zu können, was ihm wirklich fehlt, um auf diesem Weg an der Lösung beteiligt zu sein. Bis dahin kann es auch schon verinnerlicht haben, dass die orale Befriedigung unangefochten die Bedürfnisbefriedigung Nummer eins darstellt, bei Problemen zu essen oder zu trinken immer das Richtige ist. Spätestens jetzt befürchten Suchtspezialisten, dass Eß- und emotionale Wünsche nur noch schwer zu trennen sind.

Ein Einschub: Der Schnuller nimmt in diesem Gefüge zwar einen harmloseren, jedoch auch nicht ungefährlichen Platz ein; er bietet zwar dem falschen Lernprozess keine” Nahrung “, doch sollte auch er in den Kleinstkindjahren geeigneteren und vielseitigeren Strategien zur Eigenberuhigung Platz machen.

Bleiben wir bei der so wichtigen Flasche. Sie hat über diesen erlernten Weg (Unwohlsein – Flasche – Unwohlsein vergessen) eine gewaltige Bedeutung erhalten, deshalb ist es auch so schwer, sie wieder los zu werden. Den Eltern geht mit ihr ein schneller Allroundhelfer verloren, den Kindern noch viel mehr.

Anfangs sind ihnen die elterlichen Versuche, sie” von der Flasche zu bekommen “, keineswegs einsichtig. Hatten sie früher geschrien und waren unruhig, war ihnen die Flasche mit den Worten:” Sei lieb, trink ein bisschen aus der Flasche “in den Mund gesteckt worden. Nuckelten sie dann, jetzt wieder ruhig, hieß es:” So ist es lieb “. Von einem Tag auf den anderen sind sie jetzt angeblich unter völlig neuen Voraussetzungen lieb, nämlich dann, wenn sie die Flasche hergeben und auf sie verzichten. Das ist schwer zu verstehen. Was kann die Lücke füllen, die die Flasche hinterlässt? Oder was bekommt eine Chance, wenn die Flasche ihren eroberten Platz räumen muss?

Die Mutter schiebt Nick durch die Stadt. Er liegt zusammengesunken im Wagen und weint vor sich hin:” Flasche, Flasche, meine Flasche “. Ein Gläschen Apfelsaft hat er erst vor kurzem getrunken. Aber er bettelt weiter nach der Flasche.” Schatz, ich glaub gar nicht, dass Du noch Durst hast, Du bist unheimlich müde und um uns herum ist alles so laut und unruhig. Jetzt fahren wir zu einem ruhigen Plätzchen. Ich setze mich neben den Buggy, streichle Dein Ärmchen und Du schläfst ein bisschen. Danach geht es Dir wieder besser und wir können vielleicht noch eine kleine Einkaufsrunde drehen. Sonst besorge ich den Rest, wenn Du morgen bei Oma spielst. “In einer ruhigeren Nebenstraße fallen Nick bereits die Augen zu. Als Mama in einem kleinen Passagencafé einen Espresso trinkt und sich ausruht, schläft Nick fest und entspannt.

Moritz ist mit Papa einkaufen im Supermarkt. Er sitzt erst wenige Minuten im Kindersitz des Einkaufswagens, wo er auch noch einige Zeit sitzen bleiben soll, da fängt er an zu wimmern.” Trinki, Trinki! “Der Vater betrachtet seinen Sohn und streichelt ihm die Wange.” Ist Dir vielleicht langweilig? Findest Du es doof, nichts machen zu können? Ich habe eine Idee. “Moritz schaut Papa mit erwartungsvollen Augen an. Dieser kramt in seiner Hosentasche und findet ein kleines Auto. Schnell schiebt er Moritz in die Obst- und Gemüseabteilung und reißt eine Plastiktüte von der Rolle. Das Auto wandert in die Tüte, dann das kleine Päckchen in Moritz Hand. Dieser ist begeistert und beginnt zu spielen. Der Einkauf und zwei Stimmungen sind gerettet.

Bedürfnisse ernst nehmen statt Ersatzbefriedigung

Aufmerksamkeit ist gefragt, besser hinsehen, genauer hinhören. Sich reindenken ins Kind, keine böse Absicht ins Quengeln hineininterpretieren. Das bedeutet aber auch, sich mit den kindlichen Bedürfnissen und Ansprüchen auseinander zusetzen, sie in die Planung des Tagesablaufs einzubeziehen. Zugegebenermaßen erscheint die Flaschenlösung zuerst einmal viel einfacher, bedeutend praktischer. Doch die Flasche ist eine Ruhigstell-Lösung, keine echte Lösung. Da sind weiterhin meine Bedürfnisse, da sind weiterhin deine Bedürfnisse, die nicht immer zueinander passen, da muss es Konflikte geben, die nicht immer dadurch gelöst werden können, dass einer mundtot gemacht und zeitweilig in eine Dämmerwelt versetzt wird, in der seine wirklichen Bedürfnisse verschluckt werden.

Dieser Punkt hat viel mit Ernstnehmen zu tun. Wer bei Entscheidungen berücksichtigt wird, am Lösungsprozess beteiligt wird, kann auch bald von sich aus aktiv werden. Es ist ein gutes Gefühl zu spüren, dass sich jemand dafür interessiert, was in mir vorgeht, was ich wirklich will und brauche. Und ich bekomme Hilfe bei der Suche, Mama und ich sind meinem echten Bedürfnis auf der Spur. Nach ein paar Mal weiß ich selbst, was es ist und bald kann ich es dann auch sagen. Dann wird es viel leichter, eine gute Lösung zu finden.

Ich weiß dann:

  • etwas bedrückt mich,
  • ich bin müde,
  • ich habe keine Lust,
  • mir ist langweilig,
  • alles ist zu viel
  • oder ich habe tatsächlich Durst
  • oder – auch das ist erlaubt – ich muss jetzt einfach mal ein bisschen weinen oder schreien, danach geht es dann wieder besser.

Diese Zusammenhänge und Konsequenzen erfährt ein Kind bereits in der Stillzeit. Ist Stillen mit der unausgesprochenen Aufforderung” Trink “eine Pauschalantwort auf nahezu jede kindliche Lautäußerung, dann wird hier jemandem der Mund gestopft ohne Angebot einer Alternative. Die Folgen dieses” Abspeisens “werden mit der sich entwickelnden Gewohnheit” bei Stress essen “in Verbindung gebracht, um durch die sich beruhigend auswirkenden physiologischen Folgen der Nahrungsaufnahme kurzfristig negative Gefühle wie Einsamkeit, Frustration und Langeweile” wegzuzaubern “. Lernt man beim Stillen, in Mamas Arm werde ich ruhig und kann einschlafen oder wieder genussvoll aktiv werden, reichen bald Beruhigungen ohne Brust-Mund-Kontakt und unterstützen so den Weg der kindlichen Selbstregulation.

Wird das Befinden eines Kindes an Hand seiner Signale richtig eingeschätzt, sich darum bemüht, sie immer enger einzukreisen, und so auf verschiedene Schreianlässe höchst unterschiedlich mit Blicken, Worten und Taten reagiert, erfährt und verinnerlicht das Kind, dass mit unterschiedlichen Befindlichkeiten sehr unterschiedlich umgegangen werden muss, um sie treffend, befriedigend regulieren zu können. Zuerst ist es wichtig, seine Bedürfnisse geregelt zu bekommen, denn dann erlebt man sich selbstwirksam, und schon steht der nächste Schritt an, die Vorbereitung der Selbstregulation, die ein Kind sich zu stark erleben lässt, um bei der ersten Hürde schwach zu werden. Jede mit Bravour genommene Hürde macht die Stärke stabiler und weitere Hürden überwindbar. Genau diese Prozesse steuert zeitgemäße Suchtprävention an.

Literatur

  • Haug-Schnabel, G., Schmid-Steinbrunner, B. (2000) Suchtprävention im Kindergarten. So helfen Sie Kindern stark zu werden. Freiburg, Herder.
  • Haug-Schnabel, G., Schmid-Steinbrunner, B. (2002) Wie man Kinder stark macht. So können Sie Ihr Kind erfolgreich schützen – vor der Flucht in Angst, Gewalt und Sucht. Ratingen, Oberstebrink Verlag.
  • Bensel, J. (2003) Was sagt mir mein Baby, wenn es schreit? Wie Sie Ihr Kind auch ohne Worte verstehen und beruhigen können. Ratingen, Oberstebrink Verlag.

Quelle

  • Aus: S. Springer, 3. Deutscher Still- und Laktationskongress, Bonn-Bad Godesberg, 18.-20. Mai 2001 (zugleich Stillmanagement und Laktation Bd. 4), Leipzig, Leipziger Universitätsverlag, 2001, S. 109-114.

Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch

Autorin

  • PD Dr. rer. nat. Gabriele Haug-Schnabel, Humanethologin, Leiterin der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM), Privatdozentin an der Universität Freiburg, Beteiligung an interdisziplinären Forschungsprojekten zur Beobachtung und Analyse kindlichen Verhaltens.
  • Autorin von Rundfunksendungen, zahlreicher Fachbücher zum kindlichen Verhalten, Referentin in Aus- und Fortbildungseinrichtungen für Erzieher, Pädiater, Kinder- und Jugendpsychiater, klinische Verhaltenstherapeuten und Sozialpädagogen.
  • Angebote der FVM
    Die FVM ist eine private Forschungsgesellschaft, die praxisrelevante Problemstellungen der menschlichen Verhaltensentwicklung unter psychobiologischen Gesichtspunkten bearbeitet und Lösungsansätze erprobt.
    Die wissenschaftlichen Erkenntnisse werden im Auftrag von Universitäten, Wohlfahrtsverbänden, Ausbildungsinstituten, staatlichen Einrichtungen sowie Wirtschaftsunternehmen in Form von Gutachten, Projektplanungen und -begleitungen, Multiplikatorfortbildungen, Medieninformationen und Publikationen anwendungsbereit zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus wird eine Spezialberatung für Entwicklungs- und Erziehungsfragen angeboten.

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Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Gabriele Haug-Schnabel
Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM)
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79400 Kandern

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Erstellt am 13. Oktober 2003, zuletzt geändert am 12. März 2015