Schutz gegen Covid-19 an Schulen: Klassen intelligent aufteilen
Wie kann man Infektionsausbrüche in Schulklassen eindämmen? Soziologen der Universität Mannheim und der Columbia University empfehlen, Klassen entsprechend der Freundschaftsnetzwerke der Schülerinnen und Schüler zu unterteilen.
Es ist Ferienzeit – doch das dritte von der Pandemie beeinträchtigte Schuljahr will gut vorbereitet sein, um Covid-19 in Schach zu halten. Effektiv vermeiden oder zumindest abmildern lassen sich Infektionsausbrüche an Schulen, indem man bei steigenden Inzidenzen Klassen aufteilt und so mögliche Ansteckungskontakte reduziert. Die Aufteilung sollte dabei allerdings die Freundschaftsnetzwerke der Schülerinnen und Schüler und damit auch die Kontakte außerhalb der Schulen berücksichtigen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, an der die Soziologen David Kretschmer und Dr. Lars Leszczensky vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) beteiligt sind. Gemeinsam mit Erstautorin Anna Kaiser, Ph.D., von der Columbia University (USA) haben sie die erste unabhängig begutachtete wissenschaftliche Untersuchung zum Thema Gruppenaufteilung, Wechselunterricht und Covid-19 an europäischen Schulen veröffentlicht. Die Studie ist in der Fachzeitschrift „The Lancet Regional Health – Europe“ erschienen und als „Open Access“-Publikation frei verfügbar.
Kontakte in 507 Klassen analysiert: Vier Strategien, unterschiedlich wirksam
Basierend auf den tatsächlichen sozialen Beziehungen zwischen 14- bis 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in 507 Klassen an weiterführenden Schulen in England, den Niederlanden, Schweden und Deutschland hat das Forschungsteam die Verbreitung von SARS-CoV-2 im Schulkontext modelliert. Die Wissenschaftler simulierten dabei das Infektionsgeschehen nach Eintragung des Virus in die Klasse unter den folgenden Bedingungen:
1. Zufällige Aufteilung der Klassen in zwei Gruppen
2. Aufteilung in zwei Gruppen nach Geschlecht
3. Aufteilung in zwei Gruppen, basierend auf kompletten Netzwerkdaten
4. Selbstorganisierte Aufteilung in zwei Gruppen durch Schülerinnen und Schüler, die ihre Kontakte selbst angeben
Das Ergebnis: Alle vier Strategien dämmen das Infektionsgeschehen ein – allerdings in unterschiedlichem Ausmaß.
„Am schwächsten wirkt erwartungsgemäß die zufällige Aufteilung, also beispielsweise alphabetisch nach den Anfangsbuchstaben der Namen“, erklärt David Kretschmer. Die Aufteilung nach Geschlecht sei schon deutlich effektiver, da sich Kinder und Jugendliche im Schulalter eher mit Angehörigen des eigenen Geschlechts träfen, so der Soziologe. Zusätzliche Kontakte und damit Ansteckungen zwischen den Geschlechtergruppen seien daher nicht so häufig. Als besonders wirksam aber erwies sich im Modell die Aufteilung unter Berücksichtigung der tatsächlichen, von den Schülerinnen und Schülern in wissenschaftlichen Befragungen angegebenen Sozialkontakte. Erstautorin Anna Kaiser: „In den Daten sehen wir, wer mit wem ohnehin engen Kontakt hat, auch außerhalb der Schule. Wenn man die Klassen entsprechend aufteilt, vermindern sich sowohl die Infektionsgefahr als auch das Risiko für Quarantänezeiten – insbesondere, wenn das Infektionsgeschehen sehr dynamisch ist.“ Auch die Wahrscheinlichkeit für sogenanntes Superspreading – also relativ viele Ansteckungen, ausgehend von wenigen Infizierten – lasse sich mit dieser Form der Gruppenbildung verringern.
Selbstorganisierte Aufteilung als Ersatz für komplette Netzwerkdaten
Fast so gute Effekte wie mithilfe vollständiger Daten über das gesamte Kontaktnetzwerk aller Schülerinnen und Schüler lassen sich laut der Studie erzielen, wenn einzelne wechselseitig ihre Kontakte angeben: Also wenn beispielsweise eine Schülerin alle Mitschüler in der Klasse benennt, mit denen sie auch außerhalb der Schule häufig Kontakt hat. Eine der benannten Personen nennt dann ihrerseits alle Mitschülerinnen und Mitschüler, mit denen sie außerhalb der Schule in Kontakt steht, bis das Netzwerk die Hälfte der Klasse umfasst. Beide Klassenhälften bilden dann jeweils eine Unterrichtsgruppe. „Dieses Vorgehen ist im Schulalltag sehr einfach umsetzbar, da die Lehrkräfte nicht, wie es für die Daten unserer Studie gemacht wurde, erst alle Kontakte in der Klasse erheben müssen“, erläutert Lars Leszczensky.
Wechselunterricht wirkt
Außerdem konnte das Forschungsteam zeigen, dass der wechselnde Unterricht geteilter Schulklassen im wöchentlichen Turnus Infektionsketten im Modell besser unterbrechen kann als Unterrichtsformen, bei denen die Klassenhälften am selben Tag in der Schule präsent sind und beispielsweise unterschiedliche Räumen zu verschiedenen Zeiten nutzen. Wöchentlicher Wechsel wirke wie eine Art kurze Quarantäne, während der ein aufkeimendes Infektionsgeschehen abklingen könne, so die ein Ergebnis Studie.
Hintergrund: Die Langzeitstudie CILS4EU am MZES
Für ihre Untersuchung nutzten Kaiser, Kretschmer und Leszczensky Daten der internationalen Langzeiterhebung CILS4EU (Children of Immigrants Longitudinal Survey in Four European Countries). Die Erhebung vergleicht hauptsächlich die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland, England, den Niederlanden und Schweden. Neben vielen anderen für die Integration relevanten Daten, etwa zu Schulerfolg, familiärem Umfeld und Berufseinstieg, werden auch die sozialen Beziehungen der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler erhoben. Gefördert vom Europäischen Fördernetzwerk NORFACE und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wird das Projekt mit den jeweiligen Länderteams bereits seit über zehn Jahren vom MZES aus koordiniert.
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