Kinderschutz hat Priorität: Werbung für Dickmacher jetzt stoppen!
Ärzteschaft, Fachgesellschaften und Wissenschaft sind sich einig: Werbung für ungesunde Kinderlebensmittel macht Kinder nachweisbar krank. „Die Studienlage ist glasklar“, betont Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Dr. Berthold Koletzko, Stoffwechselspezialist an der Universitätskinderklinik München und Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. „Die Exposition gegenüber Werbung ist unmittelbar mit vermehrter Adipositas verbunden. Besonders stark gefährdet sind Kinder und Jugendliche aus sozio-ökonomisch schwachen Familien. Die bisherigen freiwilligen Selbstbeschränkungen waren nicht wirksam. Deshalb ist eine gesetzliche Beschränkung von an Kinder gerichteter Werbung für ungesunde Lebensmittel sehr wichtig für ihren Gesundheitsschutz."
Die Stiftung Kindergesundheit unterstützt den von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir vorgelegten Gesetzentwurf zur Begrenzung der an Kinder gerichteten Werbung für Lebensmittel mit ungünstiger Zusammensetzung. „Ausdrücklich begrüßen wir den Einbezug aller Medien einschließlich der rapide zunehmenden Online-Vermarktung durch Influencer, der in den Tag und den Abendstunden ausgestrahlten Werbung, sowie der Werbemaßnahmen im Umkreis von KiTas, Schulen und von Kindern besuchten Freizeiteinrichtungen“, sagt Koletzko. Jetzt komme es darauf an, das Gesetz zügig zu verabschieden und eine Verwässerung durch die Lobbyarbeit von Kreisen mit starken wirtschaftlichen Interessen zu verhindern. Denn die Mehrheit der Bevölkerung und Eltern befürwortet eine solche Werbebegrenzung. „Die Politik muss hier konsequent vorgehen. Das im Kindesalter erlernte Essverhalten prägt die Gesundheit lebenslang. Der Staat trägt hier Verantwortung für das Kindeswohl und den Schutz des in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verbrieften Rechtes jedes Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“, so Koletzko.
20 Fakten und Studien zum Werbeverbot
- In Europa verursachen nicht-übertragbare Krankheiten (wie z. B. Adipositas, Diabetes, Herz- und Kreislaufkrankheiten, Krebs) nach Angaben des Regionalbüros Europa der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 90% der Todesfälle und 85% des Verlustes von Lebensjahren mit guter Lebensqualität. Ein wichtiger und beinflussbarer, ursächlicher Risikofaktor ist eine gesundheitsschädliche Ernährungsweise schon ab dem Kindes- und Jugendalter.
- Die Risiken einer ungesunden Ernährung beginnen in der Kindheit und nehmen im Laufe des Lebens zu. Zur Verringerung des Risikos für nicht-übertragbare Krankheiten sollten Kinder ein gesundes Gewicht halten und vorwiegend Lebensmittel verzehren, die wenig gesättigte Fette, Trans-Fettsäuren, freien Zucker und Salz enthalten. Sie sollten also auch zuckerhaltige Getränke weitgehend meiden.
- Für Kinder und Jugendliche ist eine ausgewogene Ernährung für Wachstum, Entwicklung, Leistungsfähigkeit und langfristige Gesundheit besonders wichtig. Im Kindesalter werden zudem Vorlieben und Gewohnheiten erlernt und gefestigt, welche die Speisen- und Getränkeauswahl im späteren Alter prägen. Der Kindergesundheitsbericht 2022 der Stiftung Kindergesundheit zeigt einen erheblichen Verbesserungsbedarf bei der Lebensmittel- und auch der Nährstoffzufuhr der Kinder und Jugendlichen. Heranwachsende verzehren zu wenig Obst, Gemüse und Getreideprodukte, aber hohe Mengen an Fleisch und Wurst, gesättigten Fetten und Salz. Besonders besorgniserregend ist ein weitaus zu hoher Zuckerverzehr aus Speisen und Getränken. Im Hinblick auf die hohe Krankheitslast durch Übergewicht, Adipositas und weitere ernährungsabhängige Krankheiten sind Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährungssituation von Kindern und Jugendlichen dringlich notwendig.
- Bei Kindern und Jugendlichen in den Industrieländern ist der Verzehr hochverarbeiteter Lebensmittel im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte deutlich angestiegen, von 61,4 auf 67% der Energiezufuhr, mit einem besonders starken Anstieg des Konsums von Fertigmahlzeiten (von 2,2 auf 21,2% der Energiezufuhr)
- Solche hochverarbeiteten Lebensmittel haben im Mittel eine deutlich schlechtere Nährstoffzusammensetzung als nicht oder wenig verarbeitete Lebensmittel. Sie enthalten mehr Kohlenhydrate insgesamt und mehr Kohlenhydrate schlechter Qualität, mehr Zucker, und weniger Ballaststoffe und Eiweiß als im Mittel mit wenig verarbeiteten Lebensmitteln zugeführt werden.
- Der Verzehr hochverarbeitete Lebensmittel führt zu einer Zunahme von Kalorienzufuhr und Körpergewicht, verglichen mit dem Verzehr unverarbeiteter Lebensmittel.
- Eine von vielen Maßnahmen zur Unterstützung einer gesundheitsfördernden Ernährungsweise im Kindes- und Jugendalter ist die Einschränkung von Werbe- und Vermarktungsmaßnahmen von Lebensmitteln und alkoholfreien Getränken mit ungünstiger Zusammensetzung, welche die Weltgesundheitsversammlung der WHO am 12. Mai 2010 mit der Zustimmung von 192 Mitgliedsländern ausgesprochen hat (WHA63.14). Zum Schutz der Gesundheit wird zur wirksamen Begrenzung von Werbe- und Vermarktungsmaßnahmen von ungesunden Lebensmitteln mit hohem Gehalt an gesättigtem Fett, Zucker oder Salz aufgefordert. Die hier ausgesprochenen Empfehlungen werden nach Einschätzung der Weltgesundheitsversammlung durch eine überzeugende und umfangreiche wissenschaftliche Datenlage gestützt.
- Die Europäische Union hat in ihrer Richtlinie zu Audiovisuellen Medien 2018 und in ihrem Plan zur Bekämpfung der Krebserkrankungen 2021 die Mitgliedsstaaten aufgefordert, Produktplatzierungen in Nachrichtensendungen, Sendungen zum aktuellen Zeitgeschehen, Verbraucherschutzsendungen, religiösen Sendungen und Kindersendungen zu unterbinden. Betont wird die Wichtigkeit des Verbotes von Produktplatzierung in Kindersendungen, dass Produktplatzierung und eingebettete Werbung das Verhalten von Kindern beeinflussen können, und Kinder oft nicht in der Lage sind, den kommerziellen Inhalt zu erkennen.
- Seit langem ist die Wirksamkeit der an Kinder gerichteten Werbung gut belegt. Eine bereits 2006 veröffentlichte systematische Analyse der wissenschaftlichen Daten durch das amerikanische Institute of Medicine zeigte starke Evidenz für eine Erhöhung des Verzehrs beworbener Produkte bei 2-11-jährigen Kindern und eine Assoziation von Werbeexposition und Häufigkeit einer Adipositas bei 2-18- jährigen Kindern und Jugendlichen. Der Bericht folgerte zudem, dass Kinder bis zum Alter von etwa 4 Jahren nicht klar zwischen Programm und Werbung unterscheiden und bis zum Alter von etwa 8 Jahren den nicht-faktischen, verführenden Charakter von Werbung kaum verstehen können.
- Eine 2013 veröffentlichte erneute systematische Datenanalyse des amerikanischen Institute of Medicine untersuchte den Zusammenhang zwischen der Bewerbung von Lebensmitteln und Getränken und den Produktpräferenzen, Kaufwünschen und der Ernährungsweise von Kindern. Eingeschlossen wurden 123 wissenschaftliche Publikationen, von denen der größte Teil die Wirkung von Fernsehwerbung untersuchte. Die Kommission fand starke Evidenz für die Wirkung der Werbung auf die Lebensmittel- und Getränke-Präferenzen, Kaufwünsche und den kurzfristig eingetretenen Verzehr von 2-11-jährigen Kindern, und mäßig starke Evidenz für die Wirkung auf die Bewertung und den Verzehr von Lebensmitteln bei 2-5-jährigen Kindern. Es wurde eine Assoziation zwischen der Exposition gegenüber Fernsehwerbung und der Häufigkeit von Adipositas bei Kindern und Teenagern gefunden, aber die Datenlage wurde als unzureichend bewertet, um eine Kausalbeziehung zu beweisen, besonders im Teenager-Alter.
- Viele weitere Studien belegen einen nachteiligen Effekt der Bewerbung von ungesunden Lebensmitteln und Getränken an Kinder auf deren Ernährungsentscheidungen und -verhalten.
- Die Wirkung der Werbung auf die Verzehrmenge untersuchte eine kontrollierte Studie, in der 160 Kinder im Alter von 7-12 Jahren in zufälliger Folge eine Werbung entweder für ein Lebensmittel oder für ein anderes Produkt über ein Online-Spiel und einen Fernsehspot sahen. Nach der Lebensmittelwerbung mit beiden Medien nahm der Kalorienverzehr bei der nachfolgenden Zwischenmahlzeit zu, was nicht durch geringeren Verzehr bei anderen Mahlzeiten ausgeglichen wurde. Die mittlere gesamte Tagesenergiezufuhr nahm signifikant um 46,4 kcal zu (95% Vertrauensbereich 19,1.73,6 kcal, p = 0.0012). Die Autoren folgern, dass die Bewerbung ungesunder Lebensmittel die Entwicklung von Übergewicht fördert.
- Eine systematische Untersuchung und Metaanalyse zeigt, dass selbst eine kurze Exposition gegenüber ungesundem Lebensmittel- und Getränkemarketing, das auf Kinder abzielt, zu einer erhöhten Nahrungsaufnahme während und nach der Exposition führt. Jüngere Kinder und männliche Kinder sind tendenziell empfänglicher für das Lebensmittel- und Getränkemarketing.
- Eine systematische Datenauswertung aus 76 Untersuchungen belegte eindeutig stark schädliche Wirkungen der an Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren gerichteten Lebensmittelwerbung auf die Präferenz und den Verzehr beworbener Produkte, für einen breiten Bereich von Marketingmethoden (z. B. Fernsehwerbung und Verpackung). Die Autoren folgern, dass hier eine sehr starke wissenschaftliche Grundlage für eine Einschränkung der Lebensmittelwerbung an Kinder und Jugendliche besteht.
- Die Einbettung von Lebensmitteln und Getränken in Unterhaltungsmedien beeinflussen die Wahl des Essverhaltens von Kindern und auch den Konsum von Lebensmitteln während oder nach der Exposition.
- Auch eine aktuelle evidenzbasierte Leitlinie der American Academy of Paediatrics folgert, dass die Bewerbung ungesunder Lebensmittel an Kinder negative Folgen auf ihre Nahrungsmittelauswahl und ihr Essverhalten hat.
- Besondere Besorgnis erregt die rasche Proliferation der an Kinder und Jugendliche gerichteten digitalen Vermarktung von Lebensmitteln und Getränke u.a. über Internetseiten, soziale Medien und bezahlte Influencer. Die Europäische Vereinigung zu kindlicher Adipositas (European Childhood Obesity Group) fordert die Regierungen dazu auf, Maßnahmen einzuführen oder zu verstärken, welche die Exposition junger Menschen (einschließlich Jugendlicher) gegenüber der digitalen Vermarktung ungesunder Lebensmittel und Getränke begrenzen.
- Freiwillige Maßnahmen zur Begrenzung der an Kinder gerichteten Werbung wie der sogenannte „EU Pledge“ einige großer Lebensmittel- und Getränkehersteller zeigen keine ausreichende Wirkung. So zeigte eine von Foodwatch und der Stiftung Kindergesundheit im Jahr 2021 vorgestellte Untersuchung, dass von 283 in deutschen Fernsehsendern an Kinder beworbenen Produkten 85,5% ungesunde Lebensmittel und Getränke waren, basierend auf der Klassifizierung nach dem Nährwertprofil der WHO.
- Entsprechend fordern ebenso wie die Stiftung Kindergesundheit auch führende medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaften, die in der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten zusammenarbeiten, zum Schutz von Kindern ein Fernsehwerbeverbot für ungesunde Lebensmittel.
- Das große Potenzial von Werbebeschränkungen zeigt eine Studie über die Auswirkungen der 2019 eingeführten Beendigung der Werbung für fett-, salz- und zuckerreiche Lebensmittel im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs in London. Daten zum Lebensmittelverzehr wurden in 1970 Haushalten in London und in einer englischen Vergleichsregion ohne Werbebeschränkungen erhoben, und die gesundheitsökonomischen Auswirkungen berechnet. Die Untersucher folgerten, dass durch die Werbebeschränkung die Zahl der Menschen mit Adipositas um 95 000 sank, entsprechend einem Rückgang um 4,8%, und 2857 Fälle von Diabetes und 1915 Fälle von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindert wurden. Nach den Berechnungen wurden durch die Werbebeschränkungen 16 394 Lebensjahre mit guter Lebensqualität (quality adjusted life years) gewonnen und 218 Millionen Britische Pfund für Kosten der Gesundheitsversorgung und sozialen Unterstützung eingespart.
Die Stiftung Kindergesundheit
Als gemeinnützige Organisation mit direkter Anbindung zur Ludwig-Maximilians-Universität München und der dortigen Kinderklinik und Kinderpoliklinik agiert die Stiftung Kindergesundheit an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis. Sie vernetzt wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischer Anwendung innerhalb ihrer Programme und Projekte. Mit ihren evidenzbasierten Programmen gestaltet sie zielgruppengerechte Prävention - von der Schwangerschaft über den Kindergarten, von der Grundschule bis hin zum Jugendlichen. Ziel ist es, Erkenntnisse aus der Wissenschaft für die Praxis nutzbar zu machen. Gegründet wurde die Stiftung 1997 von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Berthold Koletzko, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit Tätigkeit am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist bis heute ihr Vorstandsvorsitzender.