Bildung für Nachhaltige Entwicklung bereits im Kindergartenalter?

Für das Interview standen Ingrid Dreier, zuständig für die Fortbildung „Heute das Morgen gestalten“ und für frühe naturwissenschaftliche Bildung, sowie Prof. Markus Rehm, Fachliche Leitung in der Forscherstation und Professor für Didaktik der Naturwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, zur Verfügung.

Wie kann man das Thema Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) in wenigen Sätzen erklären?

Ingrid Dreier:

„Es geht um ein Bildungskonzept, das nachhaltige Entwicklung befördert. Das heißt, Menschen sollen durch Bildung, aber auch durch den Aufbau von Werten und Kompetenzen befähigt werden, den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen und ins Handeln zu kommen. Dabei richten wir in der Forscherstation das Augenmerk vor allem auf die vier Dimensionen nachhaltiger Entwicklung ökonomisch, ökologisch, sozial und kulturell."

Prof. Markus Rehm:

„Eine Grundlage waren und sind die 17 „Sustainable Development Goals“ der UNESCO, also die Ziele für nachhaltige Entwicklung."

Warum ist das Thema wichtig?

Prof. Markus Rehm:

„Weil sich das Zeitfenster des nicht nachhaltigen Handelns schließt. Und weil Bildung die Kraft hat, Selbst- und Weltbilder zu verändern."

Ingrid Dreier:

„Die meisten Menschen wissen, was man tun kann, um Ressourcen zu sparen, und sie wissen, wie soziale Gerechtigkeit aussieht. Aber sie setzen es nicht um. Warum? Eine Antwort könnte sein, dass unser bisheriges Bildungskonzept nicht innovativ genug ist. Es geht dort eher darum, Inhalte wiederzugeben, und weniger darum, sie zu erneuern oder zu hinterfragen. BNE hingegen beinhaltet innovative Bildung. Und das brauchen wir."

Prof. Markus Rehm:

„Das Konzept dazu kennt man schon relativ lange: die transformative Bildung. Die Forschung weiß heute, dass es dafür Irritationen braucht. Nun geht es darum, diese zu nutzen, ohne die Leute zu verformen. Im Moment fehlt aber oft noch der Anreiz. Was für Vorteile habe ich, mich in Richtung nachhaltiges Handeln zu bewegen?"

Ingrid Dreier:

„Es geht darum, etwas zu ermöglichen, nicht darum, etwas vorgesetzt zu bekommen, mit der Ansage: „Das musst Du so tun“. Die Schlussfolgerung, was kann ich tun, muss jeder und jede für sich selbst finden."

Prof. Markus Rehm:

„Entscheidend ist zu merken, dass es mir mit nachhaltigem Handeln besser geht als ohne. Dann ist auch die Erkenntnis nachhaltig."

Gemeinsam ins Handeln kommen

Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist das eine Haltung, die sich durchzieht, kein zusätzlicher Lernstoff?

Ingrid Dreier:

„Genau. Es geht darum, Kindern zu ermöglichen, sich und andere zu motivieren. Sich zu beteiligen an Prozessen."

Prof. Markus Rehm:

„Wir wissen aus vielen Studien, dass diese Bildungsprozesse über Irritationen ablaufen, die einschneidend sind. Nun kommt die spannende Frage, wie viel davon darf ich Kindern in der Kita oder Grundschule zumuten? Hier geht es um Widersprüche, die eine Fachkraft aufgreifen muss. Und am Ende gilt es, gemeinsam ins Handeln zu kommen. Der schützende Mantel, um diese Irritation verkraften zu können, ist vor allem bei kleinen Kindern die Neugier und das Staunen. Das könnten wir Großen uns öfter als Vorbild nehmen."

Markus Rehm, Sie haben mit Ihrer Forschungsgruppe einen „Donut mit Biss“ als Modell für die planetaren und sozialen Grenzen beschrieben. Was heißt das?

Prof. Markus Rehm:

„Nachhaltigkeit vereint immer mehrere Aspekte in sich, Themen der Nachhaltigkeit, wie zum Beispiel der Klimawandel, Migration und Armut, Biodiversität, … sind immer gleichzeitig komplex und kontrovers, sowohl was die faktischen Inhalte als auch, was die ethischen Dimensionen dieser Themen anbelangt. Die 17 Ziele der UNESCO sind dafür das beste Beispiel. Wir wissen heute, dass es nicht möglich ist, diese bis zum Jahr 2030 alle zu erreichen. Dazu kam, dass unsere „Bezugswissenschaft“, die Nachhaltigkeitswissenschaft, bislang noch gar kein Modell der Grenzen hatte, in denen sich nachhaltiges Leben abspielt. Das Donut-Modell löst die Frage, wie sich Ökonomie, Ökologie und Soziales in ihren Widersprüchen arrangieren können. Unser „Donut mit Biss“ beschreibt im Ring des Donuts die planetaren und sozialen Grenzen als Ausgangspunkt für unser Handeln. Es geht also um den Bereich, in dem wir leben können. Die planetaren Grenzen wie fruchtbarer Boden oder Trinkwasser sind außerhalb des Donuts, die sozialen Grenzen wie Nahrung oder Gesundheit innerhalb. Der Biss zeigt auf, dass es bereits unwiederbringlich genutzte Ressourcen gibt. Für uns als Menschheit gilt es nun, innerhalb des Donuts den Handlungsspielraum auszuloten."

Ingrid Dreier:

„Dabei wird klar: Bildung für Nachhaltige Entwicklung ist ein Prozess. Ich übersetze das für die praktische Arbeit immer so: Heute nicht auf Kosten von morgen leben und hier nicht auf Kosten von woanders. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg, zu verstehen und darauf aufbauend zu handeln."

BNE in Kita und Grundschule bringen

Wie sieht das alles konkret in der Fortbildung für Fach- und Lehrkräfte aus?

Ingrid Dreier:

„Da wir aus den Naturwissenschaften kommen, konzentrieren wir uns auf die Felder, in denen die ganz stark vertreten sind wie Energie, Boden, Wasser, Klima und Konsum."

Prof. Markus Rehm:

„Und jedes dieser Felder ragt in unserem Donut-Modell sowohl in die planetaren wie auch in die sozialen Grenzen hinein."

Ein Beispiel?

Ingrid Dreier:

„Die Kinder haben Kartoffeln in ihrem Hochbeet gepflanzt, und im Herbst ist Erntezeit. Das kann ich mir anschauen in der ökologischen Dimension: Was braucht die Pflanze zum Wachsen? Oder wo wächst die Kartoffel besonders gut? Die kulturelle Dimension sind Fragen wie: Wo kommt die Kartoffel her? Gab es die schon immer bei uns? Das ergibt einen Blick in andere Kulturen, und wir erfahren, dass es in Südamerika 2000 verschiedene Sorten davon gibt, oder wir lernen Mythen kennen, in denen die Knolle eine Rolle spielt. In der ökonomischen Dimension schauen wir uns an, welche Berufe es rund um die Kartoffel gibt und wer eigentlich wo wie viel Geld daran verdient. Die soziale Dimension wäre dann, ob sich eigentlich alle Menschen hier bei uns Kartoffeln leisten können. Es war mal ein Arme-Leute-Essen, ist das noch immer so? Und dann würden wir vielleicht erfahren, dass Kolumbus die Kartoffel als absolutes Luxusgut eingeführt hat und sich adlige Damen die Blüten als Schmuck ins Haar steckten. Wir betrachten das Thema also ganzheitlich, mit allen Sinnen."

Was ist denn anders in der Kita oder in der Grundschule, wenn BNE der rote Faden ist?

Ingrid Dreier:

„Ich als Fachkraft fühle mich in meinem pädagogischen Handeln gestärkt. Da ich über meine Haltung zu Nachhaltigkeit reflektiere, erlebe ich Aha-Effekte und Perspektivwechsel, die ich mit vielen Ideen und neuer Motivation vermitteln kann."

Prof. Markus Rehm:

„Wenn es ein Konzept gibt, das gelebt und den Kindern vorgelebt wird, bringt das viel Selbstsicherheit für den pädagogischen Alltag. Insbesondere wenn ein wissenschaftlich fundiertes Modell dahintersteht."

Ein Prozess für die Zukunft

Warum wurde BNE zum Jahresthema der Forscherstation?

Prof. Markus Rehm:

„BNE ist nicht nur ein Jahres- sondern ein Lebensthema. Das war in der Forscherstation ein fruchtbarer Prozess, der in verschiedene Weiterbildungen und Arbeitsgemeinschaften eingeflossen ist. Und wir bleiben dran."

Ingrid Dreier:

„Wir sind zuversichtlich, dass sich mehr und mehr Einrichtungen damit beschäftigen, weil auch die Orientierungspläne und Bildungspläne das in Zukunft fordern. Wir unterstützen da also jetzt schon nachhaltig im wahrsten Sinne des Wortes."

Ein Interview der Klaus Tschira Stiftung.

Quelle

Bundesverband Deutscher Stiftungen, Fachkräfteportal der Kinder-und Jugendhilfe