„Kinder sollten alle Emotionen zeigen dürfen“ - Interview über die Gefühlsregulation von Kindern
Ob Trauer, Freude oder Liebe – jeder Mensch zeigt täglich Emotionen. Manchmal empfinden wir sie als positiv, in anderen Situationen führen sie zu Konflikten. Insbesondere für Kinder und Jugendliche ist es eine zentrale Entwicklungsaufgabe, Emotionen angemessen zu regulieren. Dieses Phänomen hat die Psychologin Dr. Judith Silkenbeumer in ihrer Dissertation untersucht. Im Interview mit Linus Peikenkamp erklärt sie, wie Emotionen entstehen und wie Fachkräfte und Eltern jüngere Kinder im Umgang mit Emotionen unterstützen können.
Emotion – ein Begriff, den wir alle kennen und häufig nutzen. Wie wird er in der Forschung definiert?
In der Psychologie betrachten wir den Begriff aus einer funktionalistischen Perspektive. Das bedeutet, dass eine Emotion immer mit einem Ziel verbunden ist. Sie entsteht, wenn ein Anlass dahingehend bewertet wird, ob er gut oder schlecht für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse ist. Damit gehen ein inneres subjektives Erleben und ein Ausdrucksverhalten einher, die zu einer Folgehandlung führen.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Stellen Sie sich zwei Kinder vor, die miteinander spielen. Ein Kind hat ein Spielzeug, mit dem das andere ebenfalls spielen möchte – das ist der Anlass für eine Emotion. Eine Bewertung könnte sein: ‚Das finde ich ungerecht‘. Das geht mit einem Ausdruck von Ärger einher, und in einer beispielhaften Folgehandlung nähme das eine Kind dem anderen das Spielzeug weg.
Es gibt eine Spannbreite an Emotionen: Mal sind wir wütend, mal fröhlich. Gibt es per se gute und schlechte Emotionen?
Wir unterscheiden zwischen Emotionsintensität und -qualität. Die von Ihnen angesprochenen Ausprägungen, also Trauer, Freude oder Wut, bezeichnen wir als Emotionsqualitäten. Die Emotionsintensität misst die Stärke der Emotion. Eine Kategorisierung in gut oder schlecht halte ich für falsch und irreführend. Emotionen wie Freude sind zwar gerne gesehen. Insbesondere für Kinder und Jugendliche ist es aber wichtig, viele verschiedene Emotionen erleben und zeigen zu dürfen, andernfalls können junge Menschen nicht lernen, mit ihnen umzugehen. Jede Emotion sollte erlaubt sein, aber natürlich nicht jedes Verhalten, das damit verbunden ist.
Das war auch Thema Ihrer Dissertation. Was konkret haben Sie untersucht?
Wir haben Videoaufnahmen von Alltagssituationen aus Kitas ausgewertet. Im Fokus standen die Fragen, in welchen Situationen Kinder Emotionen zeigen, wann pädagogische Fachkräfte intervenieren und mithilfe welcher Strategien sie die Kinder in ihrer Emotionsregulation unterstützen. Daraus haben wir ein Drei-Stufen-Modell der Emotionsregulation entwickelt.
Das müssen Sie erklären ...
Kinder können ihre Emotionen nicht von Anfang an selbst regulieren, sie erlernen es erst mit der Zeit. Demnach müssen zunächst erwachsene Bezugspersonen die Emotionen des Kindes regulieren, beispielsweise, indem sie es bei Trauer trösten oder bei Wut beruhigen. Das Kind muss noch keinen eigenen Beitrag zu seiner Emotionsregulation liefern. Im zweiten Schritt machen Bezugspersonen konkrete Vorschläge zur Regulation einer Emotion, die das Kind umsetzt. Um auf mein anfängliches Beispiel zurückzukommen, schlagen sie etwa eine Neubewertung vor: ‚Vielleicht ist es gar nicht ungerecht, dass das andere Kind das Spielzeug hat, weil es auch damit spielen möchte‘. Im letzten Schritt, der metakognitiven Koregulation, unterstützen Bezugspersonen das Kind nur noch darin, es an eine bereits bekannte Strategie zu erinnern. In diesem Fall übernimmt das Kind einen großen Teil der Emotionsregulation selbst. Dieses Stufenmodell wurde auch im Rahmen eines Fortbildungskonzepts für angehende Fachkräfte etabliert, das wir derzeit evaluieren.
Welche Faktoren sind für eine erfolgreiche Koregulation entscheidend?
Es kommt auf ein gesundes Mittelmaß an. Unterstützen Fachkräfte zu viel, lernt das Kind nichts Neues dazu, bei zu geringer Unterstützung kann es zu einer Überforderung kommen. Idealerweise passen sich Bezugspersonen an den aktuellen Entwicklungsstand des Kindes an. Zudem erhöht ein emotionales Bewusstsein des Kindes die Chance, dass es die Regulationsstrategien übernimmt.
Wie entwickeln Kinder ein emotionales Bewusstsein?
Kinder müssen sich einer Emotion bewusstwerden, bevor sie diese regulieren können. Dafür hilft gezieltes Emotionscoaching. Konkret heißt das, die Emotion des Kindes im eigenen Ausdruck zu spiegeln und zu benennen, also beispielsweise: ‚Du siehst traurig aus‘. Zudem kann es helfen, Verständnis zu zeigen und die Ursache der Emotion gemeinsam mit dem Kind zu besprechen.
Zurück zu Ihrer Studie: Was ist Ihnen bei der Auswertung der Videodateien hinsichtlich Emotionscoaching und -regulation aufgefallen?
In vielen Situationen sind die Fachkräfte sehr gut mit den Emotionen umgegangen. Allerdings haben sie die Emotionen der Kinder selten konkret gespiegelt oder benannt. Stattdessen haben einige versucht, das situative Verhalten der Kinder zu steuern. Das kann für den Moment helfen, unterstützt jedoch weniger die nachhaltige Entwicklung des Kindes.
Vermutlich fragen sich viele Eltern nun: Mit welcher Strategie kann ich meinen Kindern helfen?
Für Eltern gilt dasselbe wie für Fachkräfte. Emotionscoaching und Koregulation, die an die Entwicklung des Kindes angepasst sind, scheinen nach aktuellem Forschungsstand auch in der alltäglichen Erziehung einen positiven Einfluss auf den kindlichen Umgang mit Emotionen zu haben. Auch das Bewusstsein über eigene Emotionen scheint sich positiv auf den Umgang mit Emotionen der Kinder auszuwirken.
Dr. Judith Silkenbeumer arbeitet am Institut für Psychologie der Universität Münster. Zudem ist sie Geschäftsführerin der neu gegründeten Psychotherapieambulanz für Kinder und Jugendliche der Universität.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 11. Dezember 2024