Hochbegabung – “Wir raten zur Gelassenheit”

Ulrike Abel-Wanek

Hochbegabte gelten als Superhirne, denen ohne Anstrengung alles zufliegt. Oder aber als sozial inkompetente Problemkinder, deren Lebensweg alles andere als eine Erfolgsgeschichte ist. Die Meinungen über Hochbegabte sind so vielfältig wie diese Menschen selbst.

Acht, elf, sieben, neun: Als Sebastian drei Jahre alt war, fiel seinen Eltern auf, dass er alles zählte, was er in der U-Bahn auf dem Weg zur Kita sah: Türen, Leute, Handys oder Handtaschen. Zahlen waren die Leidenschaft des kleinen Jungen, ebenso wie Buchstaben. Vor allen Plakaten blieb er stehen und ließ sich erklären, was dort geschrieben stand. Ein Intelligenztest mit sechs Jahren ergab einen IQ von 134. Damit galt das aufgeweckte Kind als hochbegabt.

»Relativ gesichert feststellen kann man Hochbegabung erst mit Eintritt ins Grundschulalter, davor gibt ein Intelligenztest höchstens erste Hinweise«, sagt Professor Dr. Gerhard Büttner, wissenschaftlicher Leiter der von der Karg-Stiftung geförderten Beratungsstelle »Mainkind« in Frankfurt am Main. Die Mitarbeiter der zu Goethe-Universität gehörenden Einrichtung diagnos­tizieren Lernschwierigkeiten, ADHS und Hochbegabung bei Kindern und Jugendlichen und beraten betroffene Familien. Als hochbegabt bezeichnet man Menschen mit einem Intelligenzquotienten von 130 und mehr. Nur gut 2 Prozent der Bevölkerung erreichen diesen Wert, die meisten Menschen haben einen IQ von etwa 100. Auf einer Party mit 200 Gästen sind also vier bis fünf Personen hochbegabt.

Hochbegabung ist ein Thema geworden. Tritt sie heute häufiger auf als früher? »Diese Frage kann man eindeutig mit nein beantworten«, sagt Büttner. Was wächst, sei die Zahl der Eltern, die glauben, ihr Kind sei hochbegabt. Aber viele liegen falsch mit ihrer Einschätzung. Hochbegabte Kinder können beispielsweise früher sprechen, lesen und schreiben als ihre Altersgenossen. Sie haben ein gutes Gedächtnis und häufig großes Interesse an einer ganz speziellen Sache. Beispielsweise kennen sie schon als Kleinstkinder die lateinischen Namen ihrer Lieblings-Dino­saurier. Tatsächlich hochbegabt sind aber nur ein bis zwei Kinder von zehn, die bei »Mainkind« vorgestellt werden. »Das ist in anderen Beratungsstellen genauso«, weiß der fachliche Leiter von »Mainkind«, Dr. Thomas Dreisörner. Einen Grund für den anhaltend großen Andrang seit Gründung der Beratungsstelle vor drei Jahren sehen die Mitarbeiter unter anderem in dem Trend zur Ein-Kind-Familie. Dieses eine Kind sei in den Augen vieler Eltern mit ganz besonderen Talenten ausgestattet. Nur weil es Eltern wollen, wird aber nicht getestet. »Es muss ein konkreter Anlass vorliegen, zum Beispiel ein Antrag auf vorzeitige Einschulung«, so Büttner. Getestet werde die allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit. Dazu gehören unter anderem die Auffassungsgabe, das logische Denken, räumliches Vorstellungsvermögen oder das Gedächtnis. »Die intellektuelle Hochbegabung lässt sich mit den wissenschaftlich standardisierten Testverfahren gut messen, besser als beispielsweise die musisch-künstlerische Begabung oder das Sporttalent.« Die müsse man aber zu den gut 2 Prozent intellektueller Hochbegabung in der Bevölkerung noch dazuzählen.

Leistung fällt nicht vom Himmel

Sind Hochbegabte nun Sonntagskinder, mit besonderer Begabung beschenkt und besser ausgerüstet für das Leben als andere? Oder sind sie Sorgenkinder, gefährdet und anfällig für Proble­me in der Schule und im Kontakt mit Gleichaltrigen? Der Befragung einer Fachzeitschrift zufolge möchten 90 Prozent der befragten Eltern lieber kein hochbegabtes Kind haben, weil sie sich vor Schwierigkeiten fürchten, schreibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung in seiner Broschüre »Begabte Kinder finden und fördern«. Doch alles, was man bisher über das Thema weiß, kann diese Befürchtung nicht untermauern.

Hochbegabung ist zunächst nicht mehr als ein Potenzial. Das stellte schon Lewis Terman 1921 in einer viel beachteten Längsschnittuntersuchung zur Hochbegabung fest. Um aus überdurchschnittlicher Intelligenz auch überdurchschnittliche Leistung zu machen, brauchen Hochbegabte vor allem eine förderliche Umgebung. Denn Selbstvertrauen, Leistungsbereitschaft, Neugierde, Ausdauer und Motivation zum Lernen fallen auch bei sehr intelligenten Menschen nicht vom Himmel. Wird ihre Begabung erkannt – was bei vielen gar nicht der Fall ist – und von Eltern und Lehrern entsprechend gefördert, seien Hochbegabte leistungsbereit, psychisch stabil, kontaktfreudig und mit ähnlichen Vorzügen und Schwierigkeiten ausgerüstet wie andere Kinder auch. Zu diesem Schluss kommt das Marburger Hochbegabtenprojekt, eine Längsschnittstudie unter der Leitung des Psychologieprofessors Detlef Rost, der seit 1987 die Entwicklung und den Lebensweg von 151 hochbegabten Schülerinnen und Schülern wissenschaftlich verfolgt. Hochbegabte seien eigentlich Kinder wie andere auch, so Rost. Und so rät auch der Psychologe Dreisörner zur Gelassenheit im Umgang mit Hochbegabung. Einige Kurse oder Aktivitäten zusätzlich zur Schule seien für die meisten Kinder völlig ausreichend, es müsse nicht immer ein Schulwechsel sein. Manche aber brauchten auch Hilfe.

Gemeint sind die sogenannten Under­achiever oder Minderleister, hochbegabte Kinder mit schlechten Schulnoten, deren Leistungen deutlich hinter ihren herausragenden intellektuellen Fähigkeiten zurückbleiben. Ihr Anteil liegt bei etwas 15 bis 25 Prozent. Sie leiden unter dem langsamen Lerntempo, langweilen sich und werden anstren­gend und ärgerlich den Eltern, Lehrern und Mitschülern gegenüber.

Der sechsjährige Sebastian kam drei Wochen nach der Einschulung tief enttäuscht nach Hause und sagte: »Ich dachte, dort könnte man schneller lernen.« Es begann ein Teufelskreis, in dem der heute Zehnjährige immer noch feststeckt. Er gilt als »Störer«, wird von seinen Mitschülern abgelehnt und wegen seiner schlechten Noten gehänselt. Lehrer erwarten, dass er sich anpasst. Er sei ja intelligent genug, um sich selbst zu helfen.

Die Ursachen für die sogenannte Minderleistung sind vielfältig: Familienprobleme wie Trennung der Eltern beispielsweise, aber auch Angststörungen oder schlicht fehlende Arbeitsstrukturen eines Kindes. »Wenn ich denke, dass ich alles einfach so kann und keine Vokabeln lerne, dann kann ich sie nicht können, auch, wenn ich hochbegabt bin«, sagt Dreisörner. Die Vermittlung an einen Lerntherapeuten könne hier helfen. Manchmal gäbe es in einer Familie auch mehrere gut begabte Kinder, die miteinander konkurrierten. »Ist die Rolle des Überfliegers schon besetzt, gebe ich eben den Störenfried«, so der Psychologe.

In vielen Fällen werden hochbegabte Schüler von Lehrern nicht erkannt, weil sie unterdurchschnittliche Leistungen zeigen. Ein Schwerpunkt der zur Philipps-Universität gehörenden be­gabungs­diagnostischen Beratungs­stelle »Brain« in Marburg, die im Rahmen des Hochbegabtenprojekts entstand, ist deshalb die Weiterbildung von Lehrern, Ärzten und Erziehern. In Frankfurt werden angehende Lehrer, Psychologie- und Pädagogikstudenten in die Arbeit der Beratungsstelle »Mainkind« miteinbezogen. Diagnostik und Betreuung von Hochbegabten ist Teil ihrer universitären Ausbildung.

Dilemma im Job

Im Mittelpunkt der meisten Studien zum Thema Hochbegabung stehen Kinder und Jugendliche. Nicht immer leicht haben es aber auch Erwachsene im Job, die meistens gar nicht wissen, dass sie hochbegabt sind. Sie irritieren Kollegen und Chefs in Unternehmen beispielsweise mit ihrer schnellen Arbeits­weise und ungewöhnlichen Problem­lösungsstrategien. Konkurrenzangst, Neid, Misstrauen und Ablehnung schlägt ihnen als Folge häufig entgegen, weiß Diplom-Psychologe Heinz-Detlef Scheer, der sich auf das Coaching von Hochbegabten spezialisiert hat. Nicht selten würden auch hochbegabte Berufstätige so zu Minderleistern. Sie drosseln das Arbeitstempo und ziehen sich zurück, um im Team nicht anzuecken. Wer weiß, dass er hochbegabt ist und sich »outet« steht zudem vor einer Wand aus Vorurteilen. Hochbegabte seien sozial völlig inkompetent. Und wer hochbegabt sei, habe jede Menge Probleme – Vorurteile, die aus schlichtem Unwissen entstehen und dringend gebrauchte Ressourcen im Arbeitsleben unnötig binden. Da gäbe es nur eins, so Scheer: Miteinander statt übereinander zu reden und für Hoch- und Normalbegabte den passenden Platz im Unternehmen zu finden.

Quelle

Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe 11/2015 der Pharmazeutischen Zeitung online und wird hier mit freundlicher Genehmigung des Govi-Verlags Pharmazeutischer Verlag GmbH übernommen.

Erstellt am 17. März 2015