Der Fluch der Schnürsenkel - Informationen über die Probleme ungeschickter Kinder und wie Eltern und Lehrer ihnen helfen können

Stiftung Kindergesundheit

Ungeschickte Kinder stehen sich selbst im Weg: Sie sind nicht krank, aber irgendwie auch nicht ganz in Ordnung. Sie sind tapsig, linkisch und ungelenk. Manche haben einfach nur „zwei linke Hände“, andere haben schon beim Spielen Schwierigkeiten oder fallen häufig hin. In der Schule werden sie gehänselt und gemobbt, für ihre unleserliche Schrift kassieren sie schlechte Noten. Mit der richtigen Unterstützung und viel Verständnis von Eltern und Lehrern können aber auch diese Kinder ihre Probleme weitgehend meistern, betont die Stiftung Kindergesundheit in ihrer aktuellen Stellungnahme.

„Manche Eltern merken schon früh, dass ihr Kind etwas anders ist“, erläutert Kinder- und Jugendarzt Professor Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. „Es ist ein bisschen langsamer als andere Kinder, staksig beim Laufen lernen, vielleicht besonders spät und auch sonst auffällig beim Sprechen lernen. Bei anderen Kindern dagegen fällt die Ungeschicklichkeit erst auf, wenn sie in die Schule kommen und mit Stift und Papier umgehen müssen“.

Wie bindet man bloß die Schuhe zu?

Ungeschickte Kinder haben oft Probleme beim Ankleiden oder beim Anziehen von Socken. Zu- oder Aufknöpfen oder das Bedienen von Reißverschlüssen fällt ihnen schwer, ebenso das Schuhanziehen oder das Binden der Schnürsenkel. Auch der Umgang mit Werkzeug wird zum Geduldsspiel: Das Essen mit Messer und Gabel macht ihnen ebenso Schwierigkeiten wie Zähne putzen. Sie bewegen ihre Hände plump und haben Schwierigkeiten beim Malen, Kleben, Kneten, Schneiden, Radieren oder Werfen. Das Fangen eines Balles stellt sie vor große Probleme.

In der Schule fällt das Kind oft durch langsames Schreiben, unsaubere Schrift und ungeschickten Umgang mit Schere oder Klebstoff auf. Es erweist sich als ungeschickt im Sport und Spiel, balanciert schlecht und zeigt Schwächen beim Klettern, Fahrradfahren und vor allem im Umgang mit Bällen.

Früher hat man bei diesen Kindern oft eine „minimale zerebrale Dysfunktion“ (MCD) vermutet, eine leichte Anomalie der Hirnfunktionen, berichtet die Stiftung Kindergesundheit. Heute heißt die ärztliche Diagnose: „Dyspraxie“ oder man benennt das Problem etwas umständlicher als „Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen“, abgekürzt UEMF. Die „Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ ICD-10 unterscheidet zwischen Umschriebenen Entwicklungsstörungen der Grobmotorik (F82.0) und der Grob- und Feinmotorik (F82.1).

Bei der UEMF handelt es sich um ein häufiges Problem, heißt es in einer Deutsch-Schweizerischen Leitlinie zur ärztlichen Diagnostik und Behandlung der Störung. Obwohl sie zu erheblichen Konsequenzen für das Kind und die Eltern führt und ihre Behandlung zudem mit erheblichen Kosten einhergeht, sei UEMF bei weiten Teilen des Gesundheitswesens und des pädagogischen Bereichs unbekannt oder wird verharmlost, heben die wissenschaftlichen Autoren der Leitlinie aus beiden Ländern hervor.

Der Tollpatsch ist meist ein Junge

Nach aktuellen Schätzungen sind fünf bis sechs Prozent der Kinder von einer Dyspraxie betroffen, Jungen bis zu sieben Mal häufiger als Mädchen, so die Stiftung Kindergesundheit. Frühgeborene sowie Kinder mit extrem niedrigem Geburtsgewicht scheinen ebenfalls ein höheres Risiko zu haben.

Die Probleme der Kinder sind oft nicht nur auf die Beweglichkeit und Geschicklichkeit begrenzt: Häufig kommt es auch zu Störungen der Sprachentwicklung, des Lesens und des Schreibens. Die UEMF tritt zudem oft gemeinsam mit einer Reihe von emotionalen, sozialen und Lernstörungen auf. Die Frage lässt sich indes meist nur schwer beantworten, ob diese Störungen Begleitumstände der Dyspraxie sind oder bereits als die Folgen der negativen Erfahrungen mit „Tollpatschigkeit“ im täglichen Leben anzusehen sind. Auch körperliche Folgen sind möglich: Das ungeschickte Kind wird häufiger übergewichtig, weil es ungern Sport treibt und insbesondere Mannschaftssportarten meidet.

Es ist verständlich, dass die Eltern eines tollpatschigen Kindes zunächst versuchen, ihr Kind mit liebevollen Worten, Erklärungen und Ermahnungen auf den richtigen Weg zu bringen. Doch Worte allein können die besonderen Gehirnstrukturen des Kindes nicht ordnen. Das Kind muss seine eigenen Erfahrungen machen mit verschiedenen Sinnesempfindungen. Es braucht dazu Hilfe und die Eltern brauchen viel Geduld.

Das Kind braucht Verständnis und Unterstützung

Eine sichere Diagnosestellung durch den Kinder- und Jugendarzt ist ab dem Alter von fünf Jahren möglich und sinnvoll, sagt Professor Berthold Koletzko: „Wesentlich ist indes nicht nur die Aufklärung der Eltern, sondern auch der Erzieherinnen und Lehrpersonen über die Probleme des Kindes“, betont der Vorsitzende der Stiftung Kindergesundheit. Dabei sollten eine positive und unterstützende Haltung gefördert sowie mehr Sensibilität und Akzeptanz für die spezifischen Schwierigkeiten der Kinder geschaffen werden. Beim Umgang mit ungeschickten Kindern müssen sich Eltern (und Lehrer) etwas sehr Wichtiges klar machen: Mit Tadel und Ermahnungen ist dem kleinen Tollpatsch nicht geholfen. Generell gilt: Man sollte die Ungeschicklichkeit eines Kindes (so gut es geht) mit toleranter Heiterkeit ertragen,
aber jede Anstrengung und jeden Erfolg durch Streicheln und Umarmen, angemessene Bewunderung und Lob belohnen.

Genauso wichtig für ungeschickte Kinder: Viel Bewegung! Kleine Kinder kommen in Schwung mit großen Geräten wie Rutschen, Schaukeln, Wippen, Dreirad, Schubkarre, Kletterbäumen, Röhren oder Fässern. Ältere Kinder sollten viel Sport treiben: Besonders geeignet sind Schwimmen und Reiten, Radfahren, Judo und Yoga.

Ebenfalls wichtig ist das Erkennen und Verstärken der Vorlieben des Kindes, betont die Stiftung Kindergesundheit: Viele Kinder mit UEMF haben besondere Begabungen in anderen Bereichen, lesen gern, sind feinfühlig, kreativ, fantasievoll und ausgesprochen kommunikativ.

Eindeutige Richtlinien zur Behandlung von Dyspraxie gibt es nicht. Es sind vor allem Ergotherapie, Physiotherapie und heilpädagogische Ansätze, die in der Behandlung angewandt werden. Sie sollen bestimmte Körperfunktionen wie Wahrnehmung, sensorische Integration, Muskelkraft und Visuomotorik (die Koordination von Gesehenem mit Bewegungen) verbessern und dem Kind dabei helfen, seine alltäglichen Aufgaben erfolgreicher auszuführen. Die Behandlung wirkt dann am besten, wenn das Kind seine Handlungen selbst bestimmt. Es sollen ihm eine Fülle an Sinneserfahrungen angeboten werden, damit es Dinge tun kann, die es zu seiner Weiterentwicklung benötigt.

Psychotherapeutische Behandlungsansätze legen den Schwerpunkt mehr auf die emotionale Verfassung der Betroffenen: Sie zielen auf die Verbesserung des Selbstwertgefühls und helfen den Kindern und Jugendlichen, mit ihren alltäglichen Schwierigkeiten besser umzugehen.

Brauchen Kinder immer mehr Therapien?

In den letzten Jahren ist die Ergotherapie als „Modebehandlung“ in die Kritik geraten, erinnert die Stiftung Kindergesundheit. Kritiker warnen vor einem ausufernden Therapieboom: Schon wenn ein Kind in der Kita nicht so recht basteln oder kneten mag, werden viele Eltern von den Erzieherinnen mit dem vorschnellen Rat verunsichert, ihr Kind wegen vermeintlicher Entwicklungsrückständen mit Ergotherapie oder Krankengymnastik behandeln zu lassen.

Nach der Einschulung bekommen Eltern oft auch von den Lehrern die Empfehlung, dem Kind wegen seiner schlechten Leistungen im Schreiben oder beim Sport eine Ergotherapie verordnen zu lassen. Sehr zum Leidwesen der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte: Sie ärgern sich über die voreiligen Diagnosen von dafür nicht ausgebildeten Personen und fühlen sich zu nicht wirklich erforderlichen Verordnungen gedrängt, die ihr begrenztes Budget für Heilmittelverordnungen überlasten.
Physiotherapie und Ergotherapie sind Vertragsleistungen der gesetzlichen Krankenkassen, wenn sie vom behandelnden Arzt verordnet werden. Nach Angaben des Wissenschaftlichen Instituts der AOK nahmen 2016 gut 391.400 Kinder bis 14 Jahre mindestens eine Heilmittelleistung in Anspruch. Die Patientenrate liegt bei den Jungen bei 13,8 Prozent, bei den Mädchen bei 9,8 Prozent. Für mehr als die Hälfte der Kinder (229.000) waren Entwicklungsstörungen der Anlass der Verordnung.
Die Zahl von Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten wächst: Im letzten Jahr gab es 47.904 Beschäftigte im Bereich Ergotherapie in Deutschland, 8.580 mehr als fünf Jahre zuvor. Der Umsatz für die Versorgung der Kassenpatienten und ihrer Kinder mit ergotherapeutischen Maßnahmen summierte sich auf 968,7 Millionen Euro. Damit betrug der Anteil der Ergotherapie 14,7 Prozent des gesamten Heilmittelumsatzes von 6,6 Milliarden Euro. Die jährlichen Therapiekosten beliefen sich 2016 auf 1.056 Euro je ergotherapeutisch behandelten Patienten.

Zwei linke Hände ein Leben lang?

Obwohl die Dyspraxie oder UEMF als eine Entwicklungsstörung bezeichnet wird, muss in der Mehrzahl der Fälle damit gerechnet werden, dass sie sich auch im späteren Alter nicht „auswächst“, stellt die Stiftung Kindergesundheit fest. Laut Studien lassen sich die motorischen oder sprachlichen Defizite bei mehr als 50 Prozent der betroffenen Kinder noch im Erwachsenenalter nachweisen. Mit Hilfe der Förderung ihrer Fähigkeiten können die Kinder jedoch ihre Koordinationsschwierigkeiten kompensieren, ihre Handlungsfähigkeit im Alltag erweitern und so ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln.

Quelle

Stiftung Kindergesundheit

eingestellt am 16. Juli 2018