Rechenschwäche (Dyskalkulie): Therapie statt Üben
Ralf Augsburg
58-15=83; 171+200=235 oder 100:4=77
Drei Rechenaufgaben und drei Lösungen, die skurril anmuten. Wer zu solchen Ergebnissen kommt, der dürfte sich nicht nur mal eben so verrechnet haben. Wenn eine Schülerin oder ein Schüler ständig zu Lösungen kommt, die mathematisch nicht zu erklären sind, dann liegt der Verdacht nahe, dass sie oder er unter einer Rechenschwäche, der Dyskalkulie, leiden.
Dyskalkulie ist eine Teilleistungsschwäche. Solche Schwächen äußern sich als Defizite in sehr unterschiedlichen Bereichen, die dem übrigen Leistungsniveau oder Entwicklungsstand eines Kindes zuwiderlaufen. Rechenschwache Kinder – so genannte Arithmastheniker – sind normal bis überdurchschnittlich intelligent. Ihre Leistungen im mathematischen Bereich fallen dagegen wider Erwarten niedrig aus. Im engeren Sinne umschreibt die Dyskalkulie ein mangelhaftes bis unzureichendes oder grundlegend verkehrtes Verständnis von Mengen und Größen, von Zahlen und mathematischen Operationen. Das grundlegende mathematische Verständnis ist kaum oder überhaupt nicht vorhanden. Aufbauende mathematische Gedanken können bei Fehlen dieser Grundlagen nicht verstanden werden. Schülerinnen und Schüler mit Dyskalkulie kompensieren dieses Defizit durch ihre ganz eigenen Vorstellungen von Zahlen und eigene Rechenregeln.
Laut den klinisch-diagnostischen Leitlinien der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bildet sich die Dyskalkulie bereits bei den ersten Schritten der Beschäftigung mit Mathematik heraus. Sie verursacht in der Regel bei betroffenen Schülerinnen und Schülern Misserfolgserwartung und Schulversagen. Die WHO definiert: “Diese Störung beinhaltet eine Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie und Differential- sowie Integralrechnung benötigt werden.”
Sachaufgaben als unüberwindliches Hindernis
Verstetigt sich die Misserfolgserwartung, kann dies einen nachhaltigen Einfluss auf die Persönlichkeit des Kindes bedeuten. Als Folge drohen Übungsunlust, Konzentrationsschwäche, gestörtes Selbstwertgefühl und Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität oder Bettnässen.
Der Rat, den Eltern auf der Suche nach einer Lösung in der Schule meistens zu hören bekommen, lautet: Mehr üben! Meist wird zu Hause dann tatsächlich versucht, die Lernschwierigkeiten durch verstärktes Pauken zu überwinden, was zu noch mehr Frustration führt. Dass sich durch Üben nichts verbessert, stattdessen am folgenden Tag wieder alles vergessen ist, gehört zu den Symptomen für Dyskalkulie. Das Problem bei einer so gravierenden und grundlegenden Störung liegt gerade darin, dass sie sich eben nicht einfach “wegüben” lässt, weil etwa Menge, Stellenwertsystem und Zahlen vom Kind mit vollkommen falschen Vorstellungen besetzt sind. Solange das zugrunde liegende Mengen- und Zahlenverständnis unzureichend entwickelt ist, jongliert das Kind mit Größen, die es einfach nicht begreift.
Weitere Symptome, auf die Eltern achten sollten: Das Kind benutzt zum Rechnen heimlich oder offen die Finger oder andere Gegenstände zum Zählen; ihm fällt die falsche Größenordnung des Ergebnisses nicht auf; es produziert Zahlendreher und verdreht die Ziffern in Sprechrichtung, beispielsweise wird aus sechsundneunzig dann neunundsechzig. Einfache Kopfrechenaufgaben müssen die Schülerinnen und Schüler schriftlich durchführen. Darüber hinaus stellen Sachaufgaben ein unüberwindbares Hindernis dar: Die Situation wird nicht verstanden und kann nicht in mathematische Operationen übersetzt werden. Das Kind kombiniert Zahlen ganz willkürlich, so dass am Ende Frage, Rechnung und Antwort vollkommen zusammenhanglos nebeneinander stehen.
Probleme der Wahrnehmung mit Zeit und Raum
Besonders bei Sachaufgaben zeigt sich oft, dass ein rechenschwaches Kind die Aufgaben mit seiner ganz eigenen Logik angeht, die für mathematisch bewanderte Eltern, Pädagogen und Mitschüler teilweise absurde Züge annehmen kann. Denn für die unter Dyskalkulie leidenden Schülerinnen und Schüler geht es ab einem bestimmten Punkt in ihrem “Rechenprozess” darum, sich einen Halt zu verschaffen, um die Aufgabe irgendwie zu einem Ende zu bringen.
Eine Dyskalkulie kann sich auch über das Rechnen hinaus äußern, beispielsweise durch eine optische Orientierungsstörung: Die Schülerin oder der Schüler wird bereits durch die räumliche Anordnung, die Farbgebung, die Größe und die Menge der Erklärungen und Aufgabenstellungen auf einer Buchseite irritiert. Der Faktor Zeit kann ebenso zu Verwirrung führen wie mangelndes Erfassen des Raumes: Entfernungen und Größenverhältnisse werden unrealistisch eingeschätzt.
Nicht jedes angeführte Merkmal deutet gleich auf eine Rechenschwäche hin. Wenn indes mehrere der angeführten Hinweise immer stärker das Schulleben bestimmen oder beeinträchtigen, sollten die Eltern Fachleute um Rat bitten. Denn je früher eine Rechenschwäche erkannt wird, desto leichter lässt sie sich voraussichtlich beheben, und dem Kind werden möglicherweise ständige Misserfolgserlebnisse erspart.
Überprüfung des Grundlagenwissens – ein zentraler Punkt
Jeder Fall von Dyskalkulie ist anders ausgeprägt. Rechenschwache Kinder benötigen daher vor allem individuelle Hilfe, die an ihre Lernausgangslage anknüpft. Schulunterricht, klassischer Förder- oder Nachhilfeunterricht mit standardisierten Verfahren können bei rechenschwachen Schülerinnen und Schülern umgekehrt nicht zum Erfolg führen. Stattdessen muss eine integrative Lernintervention gewählt werden, welche die spezifische Lernausgangslage des Kindes berücksichtigt. Die entsprechenden Lehr- und Lernformen werden je nach den individuell ausgeprägten Eigenarten und Störungen des Lernprozesses sowie der subjektiven Verarbeitung der Leistungsschwäche ausgewählt und variiert.
Die Dyskalkulie-Diagnostik ist eine Differential- und Förderdiagnostik, welche die konkreten Schwierigkeiten des Kindes im mathematischen Bereich, deren Ausmaß und Erscheinungsformen untersucht. Der zentrale Punkt dieser Diagnostik ist dabei die Überprüfung des unterstellten Grundlagenwissens. Falsche und richtige Ergebnisse werden durch Interviews und Verhaltensbeobachtung auf die individuellen Lösungsstrategien des Kindes hin analysiert. Dadurch können Psychotherapeuten für die betroffenen Kinder und Jugendlichen, für psychologische Psychotherapeuten, Diplom-Psychologen, Diplom-Pädagogen, Grundschullehrer, Schulpsychologen, Real- und Gymnasiallehrer oder Mathematiker die Denkwege der Mädchen und Jungen offenlegen.
Darauf aufbauend beginnt die Rechenschwächetherapie als Einzeltherapie. Hier wird während des gesamten Lehr- und Lernprozesses der Ablauf aller systematischen Lernschritte von den individuellen Schwierigkeiten des Kindes abhängig gemacht. Die Lernreihenfolge richtet sich nach den besonderen Problemen und antrainierten Gewohnheiten des Kindes, wobei der Therapeut gezielt die eigenen Rechenlogiken des Kindes thematisiert und ihm die Kontraproduktivität dieser eigenen Logik vermittelt. Dem Kind oder Jugendlichen wird die Unbrauchbarkeit seiner falschen Strategien verständlich gemacht und gleichzeitig die Einsicht vermittelt, dass man Mathematik auch ohne Pauken verstehen kann.
Jugendamt kann Lerntherapie finanzieren
Eine in die Lerntherapie integrierte Verlaufsdiagnostik sichert die Lernfortschritte, so dass durch angepasste Lernschritte systematisch die Defizite im Lernstoff aufgearbeitet werden können. Damit sorgt die Therapie von Beginn an für ein wachsendes Vertrauen der Schülerinnen und Schüler in ihr neu erworbenes Wissen und ihre Fähigkeiten. Der Therapeut geht dabei stets schrittweise vor: Permanente Verlaufsdiagnostik, Therapiedialog und Planung der nächsten Lernschritte bauen immer wieder aufeinander auf.
Durch den Umstand einer Einzeltherapie entfallen Leistungsvergleich und Konkurrenzsituationen, wie sie im Schulalltag gängig sind. Sie sind aber nicht völlig ausgeblendet, sondern werden vom Therapeuten thematisiert.
Eine Lerntherapie kann auf Antrag über das Jugendamt finanziert werden (§35a SGB VIII). Allerdings sind die Regelungen der Kostenübernahme von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Ihre Auslegung hängt zudem noch vom jeweiligen Jugendamt ab. Das bestimmt entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen, welche Untersuchungen zum Zweck der Antragsbearbeitung durchgeführt werden müssen, setzt vielerorts maximale Therapiestundensätze für die Behandlung fest und verweist die Eltern gegebenenfalls an Planstellen für pädagogische Hilfen. Die Krankenkassen haben pädagogische Maßnahmen wie Lerntherapien seit 1998 aus ihren Katalogen gestrichen.
Quelle
Dieser Artikel erschien zunächst auf »Bildung + Innovation« im Innovationsportal des Deutschen Bildungsservers.
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Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung.
Erstellt am und zuletzt geändert am 7. Oktober 2011