Welches Bewegungs- und Sportangebot benötigen Kinder?
Dr. Heinz Krombholz
Kinder brauchen für ihre gesunde Entwicklung ausreichende Bewegungsmöglichkeiten und geeignete Spiel- und Bewegungsräume. Der Beitrag zeigt, welche Bewegungsangebote für verschiedene Altersstufen geeignet sind und wie Kindergärten, Schulen und Sportvereine oder Freizeitgruppen, aber auch Eltern ein altersgemäßes Bewegungsangebot ermöglichen können. Daneben werden Empfehlungen zur Verbesserung der kindlichen Bewegungswelt vorgestellt.
Welche Folgerungen lassen sich aus dem derzeitigen Erkenntnisstand zur motorischen Entwicklung und zum Gesundheitszustand für die Frage: “Wie viel Bewegung brauchen Kinder?” ableiten, was bedeuten diese Erkenntnisse für die Gestaltung der Lebenswelt unserer Kinder und für das “gelenkte” Bewegungsangebot durch Kindergärten, Schulen und Sportvereine oder Freizeitgruppen, aber auch für Eltern?
Kinder brauchen für ihre gesunde Entwicklung ausreichende Spiel- und Bewegungsräume. In einer für sie idealen Welt bewegen sie sich entsprechend ihren Bedürfnissen, ohne besondere Anregungen und verschaffen sich die für ihre Entwicklung notwendige Bewegung. Allerdings sind in der realen Welt die Bewegungsmöglichkeiten der Kinder oft eingeschränkt, müssen sogar von verantwortungsbewussten Erwachsenen z.B. aus Sicherheitsgründen eingeschränkt werden. Auch viele für Kinder attraktive Angebote (wie Fernsehen, Video, Computerspiele) halten sie von ausreichenden motorischen Aktivitäten fern. Daher gewinnen die Fragen: “Wie viel Bewegung benötigen Kinder?”, “Was können wir tun, um der Einschränkung der kindlichen Bewegungsmöglichkeiten entgegenzuwirken?” und “Welche Bewegungs- und Sportangebote sind für Kinder und Jugendliche geeignet?” an Bedeutung. Hierzu einige Überlegungen, jeweils bezogen auf verschiedene Altersgruppen.
Frühes Kindesalter
Im frühen Kindesalter (etwa bis 3 Jahre) sollte die Erkenntnis im Vordergrund stehen, dass zwischen motorischem Verhalten, emotionalem Erleben und kognitiven Prozessen – also zwischen Bewegen, Fühlen und Denken – nur willkürlich unterschieden werden kann und dass jedes Verhalten motorische, emotionale und kognitive Aspekte umfasst. Entsprechend ist für Kinder die Bewegung ein wichtiges Mittel, Informationen über ihre Umwelt, aber auch über sich selbst, ihren Körper, ihre Fähigkeiten zu erfahren.
In diesem Alter bedeutet Bewegungsförderung Förderung der Gesamtpersönlichkeit, einschließlich der kognitiven Leistungen. Daher müssen Kinder Gelegenheit erhalten, möglichst vielfältige Bewegungserfahrungen zu sammeln; solche Erfahrungen betreffen die physikalische Umgebung, Objekte, die bewegt werden können, akustische und optische Reize, die vorgegeben oder selbst erzeugt werden können. Entsprechend müssen in der Wohnung, in der unmittelbaren Wohnumgebung, eventuell auch in Kindertagesstätten, ausreichende Gelegenheiten geschaffen werden.
Vorschulalter
Im Vorschulalter (3-6 Jahre) haben Bewegungserziehung, Turnen und Sport vor allem das Ziel, der natürlichen Lebensfreude des Kindes Raum zu geben und so das Wohlbefinden und den allgemeinen Gesundheitszustand zu fördern. Es ist angesichts des Gesundheitszustandes der Schulanfänger wichtig, bereits im Kindergartenalter die motorischen Fähigkeiten Kraft, Geschicklichkeit, Beweglichkeit und Ausdauer zu fördern, aber in spielerischer Form, durch entsprechende Angebote, die von den Kindern wahrgenommen werden können, nicht durch “Training”! Gleichzeitig können sich die Kinder in diesem Alter bereits spezielle Fertigkeiten, wie den Umgang mit Kleingeräten aneignen und grundlegende Spielformen erlernen. Hierbei sind Anregungen und das Vorbild der Eltern von entscheidender Bedeutung.
In diesem Alter sind kindgerechte Bewegungsräume in Wohnungsnähe und Spielplätze die gefahrlos erreichbar sind, wichtig. Vielfältige Bewegungsangebote sind auch im Kindergarten erforderlich, auch Sportvereine bieten bereits geeignete Bewegungsangebote für diese Altersgruppe an, oft als gemeinsames Angebot für Eltern und Kind. Zur weiteren qualitativen Verbesserung derartiger Angebote in Kindergärten und Sportvereinen sollte die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Erzieherinnen im Bereich Bewegungsförderung und von Übungsleiterinnen verbessert werden.
Schulalter
Kinder im Schulalter benötigen ein ausreichendes Angebot von bewegungsfreundlichen Spielräumen, Freiflächen, Bolzplätzen, Plätzen zum Rad-, Skateboardfahren und Rollschuhfahren bzw. Inline-Skaten. Leider ist der Schulsport keineswegs optimal. Veränderungsbedarf besteht bzgl. Inhalten und Ausmaß. Es sollten geeignete “neue” Sportangebote aufgenommen werden, vor allem müssen mehr Sportstunden angeboten werden (“tägliche Sportstunde”, insbesondere im Grundschulalter, die “bewegte Grundschule” ist ein begrüßenswerte Initiative), weniger Sportstunden, die im Lehrplan stehen, dürfen ausfallen. Sport sollte durch ausgebildete Sportlehrer unterrichtet werden, Weiterbildungsangebote für Lehrerinnen sind nötig. Schulsport sollte gerade für die wenig sportbegeisterten (“untalentierten”) Schüler attraktiver werden.
Sportvereinsangebote gibt es für Kinder, aber auch Jugendliche, evtl. auch als Wettkampfsport. Vereine müssen sich überlegen, wie dem “Schwund” bei Jugendlichen entgegengewirkt werden kann; Integration ausländischer Kinder, Möglichkeit der Gewalt- und Drogenprävention sollten genutzt werden.
Jugendliche
Das Sportangebot und der Bereich Gesundheitserziehung in Berufsschulen sollten verbessert werden. In diesem Alter können Jugendliche zwar unterschiedliche Angebote von Sportvereinen nutzen, auch als Leistungstraining, aber die Vereine müssen ihre Angebote für diese Altersgruppen attraktiver gestalten. Bei Jugendlichen gewinnt der Sport eine große Bedeutung zur Integration ausländischer Kinder und zur Gewalt- und Drogenprävention eine ganz besondere Bedeutung. Diese Möglichkeiten können noch besser als bisher genutzt werden.
Soziales Lernen bei Sport und Bewegung
Bewegungsförderung im Kindesalter dient in erster Linie der Gesundheit und dem Wohlbefinden, kann aber auch das Erlernen sozialer Verhaltensweisen positiv beeinflussen; vor allem Bewegungsspiele bieten die Möglichkeit, soziale Verhaltensweisen anzuregen und zu fördern, z.B. beim Anpassen an einen Partner, dem Respektieren bestimmter Regeln. Der Förderung sozialer Verhaltensweisen kommt eine besondere Bedeutung zu. Es ist bekannt, dass die Zahl der Kinder in der Bundesrepublik abnimmt und die Zahl der Einzelkinder, also der Kinder, die ohne Geschwister aufwachsen, zunimmt. Gleichzeitig bleiben Kinder heute eher zuhause als früher. Kontakte zu anderen Kindern außerhalb von formellen Gruppen (z.B. Kindergruppen im Kindergarten, Schulklassen) werden seltener. Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für die kindliche Entwicklung. Einerseits zeigen die Ergebnisse der Entwicklungspsychologie, dass Einzelkinder zumindest für ihre geistige Entwicklung keinerlei Nachteile zu befürchten haben, eher im Gegenteil. Andererseits ist zu befürchten, dass der fehlende Kontakt und die Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen zur Verkümmerung der sozialen Kompetenz führt. Kinder, die kaum mehr Gelegenheit haben, ohne Vorgabe durch Erwachsene innerhalb einer Gruppe von Gleichaltrigen das Zusammenleben zu üben, sich selbst Regeln zu geben, diese zu befolgen und gegebenenfalls auch abzuändern, solche Kinder werden kaum zu kooperativem Verhalten befähigt werden. Es wäre wünschenswert, wenn hier der Kindergarten, der Sportverein und auch der Sportunterricht in der Schule gegensteuern könnten.
“Wert” und “Nutzen” des Sports für Kinder
Bewegung, Sport und Spiel gehören zum Menschen, sie stellen einen Wert an sich dar und bedürfen keiner weiterer Begründung für ihre Berücksichtigung in der Erziehung und im Leben der Kinder. Es sollte daher vermieden werden, die Bewegungserziehung mit “sekundären” Lernzielen aufwerten zu wollen (z.B. Förderung der Sprachentwicklung, Förderung der kognitiven Entwicklung), auch wenn solch übergreifende Wirkungen durchaus, gewisser Weise als Nebenprodukt, anfallen werden. Wichtig ist, dass Kinder die Freude, die sie unmittelbar bei Sport und Spiel erleben, erhalten bleibt und nicht inadäquaten Lehrmethoden und Inhalten zum Opfer fällt, dies gilt ganz besonders für den Schulsport. Die vorhandene Bereitschaft der Kinder zu motorischer Aktivität sollte aufgegriffen und ermutigt und keinesfalls abgeblockt werden. Wichtig hierfür ist vor allem das Vorbild der Bezugspersonen, Eltern, Erzieher, Übungsleiter, Lehrer, aber auch eine Umwelt, in der diese Bereitschaft nicht aus Sicherheitsgründen, z.B. wegen der Gefährdung durch den Straßenverkehr, unterdrückt werden muss. Nur dann wird die Grundlage für eine lebenslang freudig betriebene sportliche Betätigung gelegt werden.
Einige Anmerkungen zur kindlichen Bewegungswelt
Dass Kinder Bewegung brauchen – für eine gesunde Entwicklung -, das bestreitet niemand (zumindest öffentlich). Problematisch wird es erst dann, wenn andere Interessen mit dem Recht des Kindes auf Bewegung kollidieren. Hierzu einige Anmerkungen:
- Das Ruhe- bzw. Ordnungsbedürfnis in Wohnanlagen steht offenbar höher als die Rechte der Kinder (hierzu gibt es eindeutige Gerichtsurteile).
- Immer wieder ist es der Sportunterricht, der von Kürzungen betroffen ist, indem Stunden gestrichen werden bzw. ausfallen, ohne dass Eltern auf die Barrikaden gehen (Was passierte, wenn die Mathematikstunde regelmäßig ausfiele?).
- Es werden nicht nur die “natürlichen” kindlichen Bewegungs-, Spiel und Lebensräume abgeschafft, sondern auch andere Freiräume.
- Wo bleiben Spielanlagen, Freiräume (wo Kinder sich ohne Aufsicht frei bewegen können, spielen, Sport treiben können)?
- Grundsätzlich ist die Kommerzialisierung von öffentlichen Räumen nicht nur für Kinder und Jugendliche problematisch (Wollen wir das wirklich?).
- Wo bleiben Radwege, die wirklich kindgerecht sind?
- Hinsichtlich Geschwindigkeitsbegrenzung und Verkehrsberuhigung hat sich ja einiges getan, warum halten sich aber (erwachsene) Autofahrer oft nicht an diese Vorgaben?
- Wer bewilligt Geld für Ausbildung/Bezahlung von Fachkräften (Erziehern, Lehrer, Hausmeister (!))?
- Die Ausstattung mit Sportanlagen ist ja so schlecht nicht (hier ist wohl kaum noch ein zusätzlicher Ausbau zu erwarten). Was verbessert werden kann und sollte, ist die Nutzung/Auslastung der bestehenden Anlagen (Öffnungszeiten, Ferien, Reinigung). Hier ist Fantasie gefragt!
- Vordringen von Medien (Jetzt beklagen die Politiker, die nicht schnell genug das Privatfernsehen einführen konnten, wie schädlich die dort bevorzugten Inhalte gerade für Kinder und Jugendlichen sind, und wie ungünstig das lange Sitzen vor dem TV für die kindliche Entwicklung ist – als habe das niemand vorhersehen können!).
- Auch das Vordringen der Computer in die Schulen (“Internetzugang für alle”), ja sogar Kindergärten ist unter dem Bewegungs- und Gesundheitsaspekt keineswegs unbedenklich!
- Warum werden noch vorhandene Gesundheitsvorsorgeprogramme (z.B. Schuleingangsuntersuchung) abgebaut?
- Für Kinder und Jugendliche stellen ungünstige soziale Faktoren und Armut eine große Belastung dar, mit negativen Auswirkungen auf ihre späteren Lebenschancen, aber auch auf ihre Gesundheit und die Möglichkeit ihrer Teilnahme am Sport. Gerade Kinder sind bei uns – in zunehmendem Maße – von Armut betroffen. Diese Kinder nehmen seltener an Vorsorgeuntersuchungen teil, leiden unter schlechten Wohnbedingungen, einem ungünstigen sozialen Umfeld, zeigen mehr Bewegungsstörungen, Sprachauffälligkeiten, Verhaltensstörungen. Bekämpfung der Armut bedeutet daher Förderung der Gesundheit dieser Kinder!
Was kann und sollte getan werden, um das Bewegungsangebot für Kinder zu verbessern?
Um die Bewegungs- und Spiel- und Entwicklungsmöglichkeiten unserer Kinder verbessern zu können, sind folgende Grundsätze anzuerkennen und entsprechende Maßnahmen zu ihrer Verwirklichung notwendig:
- Kinder brauchen Wohnräume, Straßenräume, Freiflächen und Spielplätze, die ihren Bewegungsbedürfnissen entgegenkommen und die für sie ohne Gefahr erreichbar und nutzbar sind.
Kinder sollen:
- Im Straßenraum Platz zum (sicheren) Spielen und Toben haben.
- Freunde und Treffpunkte, aber auch Schulen und Kindergärten sicher erreichen können.
- Sich gefahrloser auf öffentlichen Wegen und Straßen bewegen können.
- Ihre Wohnumwelt mitgestalten dürfen.
Um die Unfallgefahr – nicht nur für Kinder – aber auch die Umweltbelastung durch Lärm und Abgase zu senken, sind folgende Maßnahmen notwendig:
- Abkehr vom Fetisch Auto.
- Ausbau und Förderung des Nahverkehrs.
- Generelle Einführung von Tempo 30 in Wohngebieten, wo notwendig, Einrichtung von Spielstraßen.
- Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Landstraßen und Autobahnen.
In Kindergärten und Schulen:
- Das Bewegungsangebot in Kindergärten muss quantitativ und qualitativ verbessert werden, soweit noch nicht geschehen muss der “Sitzkindergarten” zum “Bewegungskindergarten” werden und Räume und Freiflächen sollten bewegungsanregender und bewegungsfreundlicher gestaltet werden (hierfür sind keineswegs immer Umbaumaßnahmen erforderlich – siehe Modellversuch “Bewegungsförderung” der Landeshauptstadt München und des IFP).
- Der Schulsport muss dringend verbessert werden, mehr Sportstunden, weniger Stundenausfälle; Sportunterricht sollte durch ausgebildete Sportlehrer erfolgen!
Literatur
- H. Krombholz: Sportliche und kognitive Leistungen im Grundschulalter – Eine Längsschnittuntersuchung. Frankfurt, Bern, New York, Paris: Lang 1988
- H. Krombholz & D. Breithecker: Die Bedeutung der Bewegung für die Entwicklung des Kleinkindes – Sportmotorische Gesichtspunkte. In: Bundesverband Neue Erziehung (Hrsg.): Teddybärs Bewegungskiste. Bewegungsprogramm für 2- bis 3jährige Kinder und deren Eltern. Frankfurt a.M.: 1994, WDV 1994, 8-13
- H. Krombholz: Spaß an Bewegung. Spiele mit Anleitung für Kinder von 3 bis 8.
- München: Don Bosco 1996
- H. Krombholz: Körperliche, sensorische und motorische Entwicklung im 1. und 2. Lebensjahr. In: Deutscher Familienverband (Hrsg.): Handbuch Elternbildung. Band 1: Wenn aus Partnern Eltern werden. Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 533-557
- H. Krombholz & A. Richter: Bewegungsförderung im Kindergarten.
- In: Bildung, Erziehung, Betreuung von Kindern in Bayern, 1999, 4 (1), 29-30
- H. Krombholz: Störungen der motorischen Fertigkeiten. In: Lauth, G.W., Brack, U. & Linderkamp, F. (Hrsg.): Praxishandbuch: Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim: PVU 2001, S. 399-407
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Autor
Dr. Heinz Krombholz, Dipl.-Psychologe
Staatsinstitut für Frühpädagogik
Erstellt am 24. Juni 2002, zuletzt geändert am 2. Dezember 2014