Kinder als Mädchen und Jungen ernst nehmen – Wertebildung durch Geschlechtersensibilität
Dr. Inés Brock
Die Diskussion über Jungen und Mädchen und ihre spezifischen Bedürfnisse wird im Folgenden vor dem Hintergrund diskutiert eine wertesensible Pädagogik zu entwickeln. Dazu werden geschlechtsspezifische Unterschiede der Kinder und die Verhaltensweisen von Eltern, Pädagog/innen und gesellschaftliche Phänomene beschrieben, die dazu beitragen können ein Bewusstsein für eine wertebildende Praxis zu schaffen.
1. Was hat geschlechtersensible Pädagogik mit Wertebildung zu tun?
Wir alle waren einmal Jungen und Mädchen – und das hatte einen bedeutsamen Einfluss auf unsere persönliche Entwicklung. Die jeweiligen Unterschiede zwischen Frauen und die Unterschiede zwischen Männern sind oft sehr groß, also nicht nur die Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Um jedoch das Anliegen einer geschlechtersensiblen Pädagogik, die hier im Mittelpunkt steht, zu verdeutlichen, erscheint eine Zuspitzung auf die Differenzen sinnvoll, die Männern und Frauen im Allgemeinen zugeschrieben werden.
Im Aufwachsen und Erwachsenwerden sind alle Menschen mit der Kategorie Geschlecht also mit dem Thema Weiblichkeit und Männlichkeit konfrontiert. Der aus der Geschlechtszugehörigkeit abgeleitete Habitus bzw. die Selbstinszenierung orientierte sich über Jahrhunderte an dieser Dualität. Aber erst in den letzten Jahrzehnten haben wir begonnen darüber nachzudenken, welche Unterschiede zwischen den Geschlechtern naturgegeben sind und welche anerzogen wurden, was also Natur und was Kultur ist. Pädagogische Fachkräfte nehmen – durch sozialwissenschaftliche, psychologische und auch physiologische Forschungsergebnisse unterstützt – eine persönliche Haltung dazu ein, inwieweit sie selbst bereit sind, Verschiedenheiten der Geschlechter anzuerkennen und damit konstruktiv umzugehen. Das betrifft jeden von uns, beispielsweise beim Umgang mit der Partnerin oder dem Partner bei der Erziehung der eigenen Kinder, ganz besonders jedoch Menschen, die in pädagogischen Kontexten arbeiten, da ihre tägliche Praxis durch das Geschlecht von Kindern und auch durch ihr eigenes Geschlecht beeinflusst wird.
Die Erkenntnis, dass Selbstreflexion und ständige Weiterbildung zum professionellen Selbstverständnis von pädagogischen Fachkräften gehören, und die Tatsache, dass gerade das Thema Geschlechtergerechtigkeit sich in den letzten Jahren erhöhter Aufmerksamkeit erfreut, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass in diesem Bereich viele Fachkräfte eher aus dem Bauch heraus agieren. Das bettet sich ein in den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs. Nach einer langen Phase der Reflexion über die Gleichberechtigung von Frauen und die Wahrnehmung der Benachteiligung von Mädchen in einer patriarchalen Gesellschaft gab es in den letzten Jahren eine verstärkte Auseinandersetzung mit Verhaltensauffälligkeiten und Benachteiligungen von Jungen im Bildungssystem. Davon zeugen zum Beispiel Unsicherheiten insbesondere bei der Besetzung und Aufgabenstellung von Gleichstellungsbeauftragten. Es wächst das Bewusstsein, dass eine bloße Gleichbehandlung von Mädchen und Jungen letztlich beiden Geschlechtern nicht wirklich gerecht wird. Mädchen und Jungen bringen Unterschiedliches mit, und gerade darin besteht die Herausforderung. Für Fachkräfte in der sozialen und pädagogischen Arbeit erfordert der adäquate Umgang mit Müttern und Vätern, Jungen und Mädchen eine hohe Sensibilität, um nicht in biografisch geprägte Muster zurückzufallen.
Vor diesem Hintergrund sollte konsequenterweise eine professionelle Strategie entstehen, sich mehr und tiefergehend mit geschlechtersensibel ausgerichteter Pädagogik zu befassen, und die Praxis daran ausgerichtet werden. Das gelingt am besten wenn man sich im pädagogischen Handeln einer wertschätzenden Haltung bedient. Um vorurteilsfrei mit Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen umzugehen, benötigen wir eine Sensibilisierung. Die Transmission von Werten in pädagogisch ausgerichteten Settings geschieht unbewusst und durch Vorbildwirkung (implizit) oder intendiert und zielgerichtet (explizit), durch Nachahmung und Übernahme der Werte (konform) oder durch Abwendung und Abkehr von den Werten der anderen (nonkonform). Sozialisation ist ein Prozess, der in komplexen Einflusssystemen stattfindet (vgl. Baier/Hadjar 2004). Auf der vertikalen Ebene beeinflussen innerfamiliär die Eltern und außerfamiliär andere erwachsene Sozialisationsagenten das Kind. Aber auch Geschwister und Gleichaltrige haben auf die Wertefindung eines Individuums eine große Wirkung. Wenn wir uns auf einen Weg der geschlechtersensiblen Förderung begeben wollen, sollten diese Wirkebenen bewusst gemacht werden.
Der folgende Beitrag setzt sich deshalb mit mehreren Dimensionen des Themas Geschlechtersensibilität auseinander. Zunächst werden biologische, soziale und mit einem besonderen Augenmerk auch sprachliche Unterschiede in der Kommunikation beschrieben. Dabei werden einige Aspekte herausgegriffen, die für die wertebildende Praxis relevant sind. Abschließend werden Schlüsselkompetenzen der Fachkräfte in der Praxis geschlechtersensibler Pädagogik zusammengefasst.
2. Welche Stärken bringen Mädchen und Jungen, Männer und Frauen mit?
Menschen haben im Mutterleib, als Säugling, Kind und auch als Erwachsener ähnliche Bedürfnisse. Neben diesen Grundbedürfnissen bilden sich jedoch auch geschlechtsspezifische Besonderheiten heraus. Die meisten Paare, die ein Kind erwarten, lassen sich das Geschlecht bereits während der Schwangerschaft mitteilen – damit beginnt nicht selten auch die Zuschreibung von Geschlechterstereotypen. Spätestens ab der Geburt werden Kinder dann auch unterschiedlich behandelt (vgl. Kasten 2003): zunächst von den Eltern, dann von weiteren Familienmitgliedern, später durch die Regeln in der Peergroup. Die gesellschaftliche Chancenverteilung und Medienwirkungen verstärken diesen Effekt. Ein Kind hat somit gar keine Möglichkeit, geschlechtsneutral aufzuwachsen.
Auf allen Ebenen der Entwicklung wirken geschlechtsspezifische Fähigkeiten und Bedürfnisse. Schon bei Säuglingen gibt es zwischen Mädchen und Jungen Unterschiede, die gut erforscht sind (vgl. Rendtorff 2006, 11-18; Kasten 2003, 15-34). Mädchen sind beispielsweise eher auditiv orientiert und gewinnen dadurch einen Vorsprung in verbaler Artikulationsfähigkeit. Sie haben ein größeres Gesichtsfeld, können dadurch mehr Details wahrnehmen. Ihr bereits nach der Geburt einsetzendes Interesse an Gesichtern fördert ihre Fähigkeit, Emotionen abzulesen, was ihre soziale Kompetenz und Empathie stärkt. Sie lassen sich leichter durch den Schnuller beruhigen und lernen eher, sich selbst zu beschäftigen. Jungen hingegen sind eher visuell orientiert, wodurch einerseits in den verbalen Fähigkeiten bis zur Schulzeit gegenüber den Mädchen ein Entwicklungsrückstand von ein bis zwei Jahren besteht. Andererseits ist dadurch aber ihr räumliches Vorstellungsvermögen höher, sie zeigen mehr Interesse an Formen und Bewegungen. Sie lassen sich leichter durch Schaukeln beruhigen. Jungen sind körperlich weniger widerstandsfähig als Mädchen (Kasten 2003, 57), sie sind häufiger krank und erscheinen bedürftiger in der frühen Kindheit. Umso verwunderlicher ist es, dass Eltern oft eher bereit sind, Mädchen zu trösten. Gerade von Jungen werden Stärke und Durchsetzungskraft erwartet. Kinder spüren das sehr genau und ordnen sich den vorgegebenen Regularien ihrer Umwelt unter.
Obwohl es auch innerhalb der Geschlechtsgruppen große Varianzen gibt, zeigt sich die Verschiedenheit zwischen den Geschlechtern in den Entwicklungstendenzen, und diese Phänomene müssen ernst genommen werden, weil sie eine soziale Realität abbilden. Hier beginnt die individuelle Förderung geschlechtsspezifisch zu werden. Der Einfluss der personalen Umwelt auf die Selbstbildentwicklung beginnt ja bereits vor der Geburt: Eltern bewerten es zum Beispiel unterschiedlich, wenn ein weiblicher oder männlicher Fötus sehr aktiv ist – Jungen wird es zugestanden, bei Mädchen eher kritisch gesehen. Deshalb ist es wichtig, sich in der Familienbildung damit auseinanderzusetzen wie auf Eltern diesbezüglich ausgleichend eingewirkt werden kann.
Sozialisation wirkt. Man kann nicht nicht sozialisiert werden. Der Mensch ist ein soziales und kulturell eingebettetes Wesen, das sich geschlechtsspezifischen Einflüssen kaum entziehen kann. Kinder suchen nach Orientierung und Vorbildern. Dabei wählen sie die Umweltanreize aus, die ihnen entsprechen.
„In viel stärkerem Maße als bisher angenommen strukturiert sich das Gehirn von Männern und Frauen anhand der sich für beide Geschlechter zwangsläufig ergebenden unterschiedlichen „Nutzungsbedingungen“. (Hüther 2008, 11)
Lehrkräfte bzw. Erzieherinnen und Erzieher tragen als familienexterne Sozialisationsagenten erheblich dazu bei. Jungen werden zwar häufiger gelobt und getadelt und erhalten insgesamt mehr Ansprache. Diese ist jedoch häufig eher instruktiv und instrumentell unterstützend, also auf Tätigkeitsabläufe gerichtet, und weniger auf emotionale Prozesse bezogen. Mädchen wiederum sprechen häufiger von sich aus mit pädagogischen Fachkräften und suchen den Kontakt. So werden Mädchen eher für Folgsamkeit gelobt, Jungen eher für richtige Antworten. Andersherum erfahren Mädchen Kritik eher für falsche Antworten, Jungen dagegen für schlechtes Benehmen (vgl. Klann-Delius 2005, 88–89). Das zeigt: Verhalten und Wissen werden geschlechtsspezifisch unterschiedlich bewertet. Kinder richten ihren Selbstwert daran aus. Eltern verhalten sich auch unterschiedlich gegenüber Söhnen und Töchtern (Rendtorff 2006, 166-174). So erfahren Jungen beispielsweise häufiger Handlungsreglementierungen, Restriktionen und weniger unterstützendes Verhalten, emotionale Zuwendung und Kooperation. Letztlich sind sogar Elternurteile über Jungen weniger valide als über Mädchen (vgl. Kasten 2003). Verständnis und belastbare Aufmerksamkeit erleben Jungen und Mädchen unterschiedlich – und das selbst als Kinder in einer Familie. Besonders deutlich zeigt sich das auch in der geschlechtsspezifischen Sprache und Kommunikation.
3. Wie sprechen wir miteinander? Sprache als Kommunikationsmedium
Da Sprache ein wesentliches Medium für Wertetransmission ist, kann die Kenntnis der Unterschiede zwischen den Geschlechtern dazu beitragen, das Verständnis zu erhöhen und geschlechtersensible Förderung zu konzipieren. Im Folgenden werden Klann-Delius (2005) folgend deshalb einige aktuelle Befunde aus der Forschung zu Sprache und Geschlecht zusammengefasst.
In der Kommunikation bevorzugen Mädchen beispielsweise inklusive oder fragende Aufforderungen, etwa „Wollen wir das zusammen machen?“. Konflikte bewältigen sie dann auch eher indirekt über Dritte und praktizieren insgesamt eine eher gemeinschaftsstiftende Sprechweise. Dadurch erlangen sie einen Vorteil in den Bereichen Triebaufschub und Selbstregulation. Jungen verwenden im gemeinsamen Tun tendenziell mehr unabgeschwächte Imperative – also konkrete Aufforderungen an ihr Gegenüber. Sie tragen Konflikte auch direkter aus, was zwar schneller geht, aber weniger Rücksicht auf das Gegenüber bedeutet. Auch die Erzähleinheiten (Narrative) mit dem besten Freund sind eher kurz. Bereits im Alter von vier bis sieben Jahren sprechen Mädchen viel mehr miteinander. Sie erwerben bessere Dekodierleistungen für Emotionen, eben weil sie mehr über Gefühle reden. Jungen erhalten mehr intellektuelle Förderung, das zeigt sich auch im analysierten Elternverhalten. Teilweise wird dies damit erklärt, dass Jungen sich mehr für Zusammenhänge interessierten. So versuchen Väter eher über die Funktionsweise von Gegenständen mit ihren Söhnen ins Gespräch zu kommen und reden weniger, weil ihr Spiel eher ablauforientiert und explorierend ist (Guggenbühl 2006, 59-65).
Auch die Redemenge ist bei den beiden Geschlechtern verschieden. Jedoch hängt die Menge und Länge von Redebeiträgen von Thema, Status, Gruppengröße und Gesprächspartner ab. Mädchen sprechen länger im sozialen Kontakt wohingegen die Sprechmenge von Jungen im Kontext Schule höher ist. Das zeigt erneut, dass es eher die fachlichen Themen sind, die Jungen animieren, sich einzubringen. Außerdem spielt dabei ihre Neigung, miteinander in Wettbewerb zu treten, eine entscheidende Rolle.
Abschließend sei noch ein Blick auf die Schriftsprache geworfen. Lesen und Schreiben sind nicht wie das Sprechen ein angeborenes Bedürfnis, das sich das Kind selbst erfüllt, indem es Laute nachahmt, die Umgebungssprache verstehen und sich sprachlich ausdrücken will. Lesen ist die erste sogenannte Kulturtechnik für Kinder und fast alles weitere Lernen und viele Kommunikationsebenen sind davon abhängig, wie ein Kind es gelernt hat zu lesen und zu schreiben. Die seit 2000 durchgeführten PISA-Studien zeigen, dass sich in allen 22 industrialisierten Ländern zwischen den Geschlechtern wenig verändert hat, auch wenn die Werte an sich besser geworden sind: Mädchen bleiben besser im Lesen als Jungen. Beim Schreiben sind drei Viertel aller Mädchen besser als der Durchschnittsjunge.
Insbesondere diese Besonderheiten in der Kommunikation prägen das Miteinander und setzen sich im Lebensverlauf fort. Hier kann geschlechtersensible Pädagogik ansetzen und mit spezifischer Förderung bestimmte Fähigkeiten ausbauen. Wenn Jungen ermutigt werden, mehr und beziehungsorientierter zu sprechen, Mädchen unterstützt werden, Problemlösungen auf einer funktionalen Ebene zu konstruieren und darüber zu reden, dann können die wertenden Betrachtungen von Jungen und Mädchen über ihre Leistungsbereitschaft reduziert und damit implizit Unterschiede abgebaut werden.
Grundgedanke einer geschlechtersensiblen Pädagogik sollte sein, dass spezifische Verhaltensweisen den Geschlechtern nicht mehr als Stereotype im Allgemeinen zugeordnet werden, sondern ein differenzierter aber dennoch differenzierender Umgang praktiziert wird. Im Folgenden werden zwei spezifische soziale Phänomene betrachtet die vergegenwärtigen, wie verstärkend Geschlechterstereotype auf Kinder einwirken.
4. Worauf sollte geschlechtersensible Praxis achten?
Kinder bedeuten die Zukunft einer Gesellschaft. Wie mit diesen Kindern im Einzelnen und mit und in ihren Peergroups umgegangen wird beeinflusst ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstbild. Das Selbstkonzept von Kindern entsteht über Identifikation mit Bezugspersonen des gleichen Geschlechts und De-Identifikation mit den Bezugspersonen des anderen Geschlechts. Die größte Rolle in der frühen Kindheit spielen Mutter und Vater, und auch Geschwister sind sehr wirkmächtig bei der Entwicklung der Geschlechtsidentität. Aber mit zunehmendem Alter gewinnen außerfamiliäre Bezugspersonen eine immer größere Rolle (vgl. Baier/Hadjar 2004). Hierbei erleben Mädchen und Jungen sehr unterschiedliche Prägungen. Noch immer führt der Gruppendruck unter Mädchen oder Jungen in der Kindheit dazu, Mädchen für ihr Äußeres und ihre Angepasstheit zu schätzen; Jungen dürfen alles, nur nicht „unmännlich“ sein, dürfen weniger Sanftheit und Gefühle zeigen und sollten besonders „cool“ wirken. Das führt zu einer Stigmatisierung und Entwertung von „geschlechtsuntypischen“ Eigenschaften und Verhaltensweisen.
Aktuell gibt es insbesondere in Amerika und Großbritannien eine sozialwissenschaftlich initiierte Debatte über den sogenannten Lolita-Effekt (vgl. Carey 2011; Durham 2009). Schon junge Mädchen werden mit sexuell besetzten Schönheitsmerkmalen wie Schminke oder hochhackigen Schuhen ausgestattet, während gleichzeitig eine Reduktion auf die äußere Erscheinung des Kindes stattfindet. Die Orientierung an einem Idealbild führt nicht nur bei vielen pubertierenden Mädchen zu psychischen Störungen und Minderwertigkeitsgefühlen, sondern hat einen Einfluss bereits auf die Selbstbildentwicklung junger Mädchen. Das Bedürfnis der Mädchen nach Orientierung und Zugehörigkeit verstärkt diesen Effekt (Hackmann 2003, 17). Pädagogische Fachkräfte und Eltern haben es in der Hand, ein ganzheitliches Körperbild und Selbstbewusstsein bei den Mädchen zu fördern (vgl. Matzner/Wyrobnik 2010, 399).
Die Verhaltensweisen und Reaktionen von Jungen vor allem im Kontext von pädagogischen Institutionen haben in den letzten zehn Jahren zu einem dramatischen Anstieg der Diagnosen von psychischen Verhaltensstörungen geführt.
„Schon kleine Jungen tendieren – wenn sie nicht genug Halt, Geborgenheit und Liebe finden – eher zu extrovertierten Störungen, zu Defiziten der Impulskontrolle und damit einhergehender Hyperaktivität, Störungen des Sozialverhaltens und erhöhter Gewaltbereitschaft.“ (Hüther 2008, 11)
Im sozialen Miteinander und durch Gruppennormen, die von erwachsenen Sozialisationsagenten festgelegt werden, zeigen sich Jungen unangepasster und werden demzufolge als auffälliger wahrgenommen. Dieses männlich konnotierte Verhalten wird eher bestraft und oft nicht als Hilferuf verstanden (vgl. Guggenbühl 2006). Die psychische Reifung von Geschlechtsidentität müssen Jungen über eine doppelte Negation gewinnen: Der Junge begreift sehr schnell, dass er ein anderes Geschlecht hat als seine Mutter und dass er auf keinen Fall „weiblich“ sein oder handeln darf, aber auch nicht nichtweiblich (vgl. Mertens 1997). Kleinere Jungen sehen in ihrer Umgebung kaum einen Platz für Männer, der nicht schon von einer Frau besetzt ist. Somit fällt es ihnen schwer, authentische männliche Vorbilder zu finden, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Väter häufig noch immer nicht gleichermaßen im Erziehungsalltag präsent und pädagogische Fachkräfte (in der frühen und mittleren Kindheit) überwiegend weiblich sind. Jungen zeigen häufig größere Probleme bei der Anpassung an neue Kontexte. Angstreaktionen kommen zum Beispiel in der Eingewöhnungsphase in Kindertagesstätte oder Schule bei Jungen häufiger vor. Sie lachen seltener und suchen weniger Kontakt (vgl. Matzner/Wyrobnik 2010). Also benötigen sie besondere Zuwendung und Unterstützung. Jungen kommen auch schlechter mit einer Trennung der Eltern zurecht und reagieren auf die Geburt von jüngeren Geschwistern eher verunsichert als Mädchen. Bei Mädchen sind die Bewältigungsstrategien introvertierter und kommunikativer ausgerichtet. Jungen reagieren eher mit Verhaltensstörungen, brauchen insofern besondere Begleitung in diesen kritischen Lebensphasen. Es ist typisch für die Mehrzahl von Jungen, dass sie einander provozieren und in Wettbewerb treten. Im Miteinander sind die Rollen oft klar und transparent ausgehandelt, wechselseitige Anerkennung im Spiel entsteht durch klare Hierarchien, aber aus diesen Konfliktsituationen heraus entsteht oft auch etwas Neues. Probehandeln und Experimentieren stehen im Vordergrund.
Dittrich/Dörfler/Schneider (2001) kamen in ihrer Beobachtungsstudie zu einem ermutigenden Ergebnis: Jungen und Mädchen können ihre Fähigkeiten gut verknüpfen, wenn sie dabei unterstützt werden.
„Die Jungen und Mädchen erfüllten diese hohen Anforderungen, nämlich ihre Ideen und Pläne mit […] anderen Kindern zu koordinieren und miteinander zu kooperieren. Dabei hatte die neue Spielidee […] eine gemeinschaftsstiftende Wirkung.“ (Dittrich/Dörfler/Schneider 2001, 189)
Es geht demzufolge um unterschiedliche Strategien, nicht um gut oder schlecht, richtig oder falsch. Die Handlungen und Körper der Jungen und Mädchen sprechen oft nur eine andere Sprache.
Es gibt aber noch eine andere Dimension, die es Jungen erschwert, positiv wahrgenommen zu werden. Kinder lehnen es tendenziell ab, mit einem Kind zu spielen, das sich geschlechtsuntypisch verhält, dabei nimmt die Ablehnung mit steigendem Alter noch zu (Smetana, 2004). Wenn Kinder Geschlechterrollenvorschriften einhalten, dann deshalb weil sie sozialen Regeln gerecht werden wollen und dadurch ihre Rollenidentität zu stabilisieren versuchen. „Bei Jungen erwartet man, dass sie sich strikt an die gesellschaftlichen Erwartungen halten, dagegen wird den Mädchen mehr Spielraum zugestanden.“ (Smetana, 2004, 281) Wenn männliche Personen wider die Geschlechtsrollenerwartungen handeln, wird das als Verstoß gegen Konventionen und als Gefährdung der Geschlechtsidentität bewertet. Bei weiblichen Personen wird eine Abweichung eher auf persönliche Vorlieben zurückgeführt. Bei Mädchen wird also eher als bei Jungen toleriert, dass sie sich ihre Geschlechtergrenzen selbst konstruieren.
5. Wie gelingt die Praxis geschlechtersensibler Pädagogik und Familienbildung?
Alle Herausforderungen, die in der weiterbildenden Erziehung und einfühlsamen Begleitung von Kindern entstehen, sind letztlich auch durch die Kategorie Geschlecht beeinflusst. Auch eine Erziehung, die versucht, moralische Grundorientierungen und die individuellen Bewertungskategorien von Heranwachsenden zu beeinflussen, ist davon geprägt, dass die Akteure weiblich bzw. männlich sind. Das pädagogische Personal und Fachkräfte der Familienbildung benötigen spezifische Kompetenzen, um Eltern und Kindern dabei gerecht zu werden. Diese leiten sich aus den Perspektiven einer akzeptierenden, anerkennenden und dialogisch-partizipativen Haltung ab. Erziehende brauchen dazu die Fähigkeit, personale, soziale und fachliche Schlüsselkompetenzen zu verbinden und ihr Handeln daran auszurichten. Gerade im Bereich geschlechtersensibler Pädagogik gibt es einen großen Orientierungsbedarf. Konzepte für die Förderung der psychosexuellen Entwicklung von Mädchen und Jungen brauchen das Bewusstsein für emotionale Regulationspraktiken und fundiertes Wissen über Geschlechterdifferenzen. Um Kindern individuell gerecht zu werden, ist zudem ein Klima der Selbstreflexion durch die Fachkräfte nötig. Eigene Vorannahmen müssen überprüft und idealerweise auch im Team diskutiert werden.
Elternbildung erscheint dabei als wichtiger Bereich. Eltern versuchen ihren Kindern ganz bewusst bestimmte Werte zu vermitteln, machen dabei aber nach wie vor Unterschiede in Bezug auf das Geschlecht.
„Dabei ist den Vätern sowohl bei Söhnen als auch bei Töchtern als Eigenschaft das Selbstbewusstsein am wichtigsten und den [sic!] Gehorsam am wenigsten wichtig. […] Auffällig ist, dass die Eigenschaften generell im Durchschnitt bei Töchtern geringer ausgeprägt sein sollen.“ (hessenstiftung – familie hat Zukunft, 2011, 2)
Auch die Eltern selbst unterscheiden sich in Abhängigkeit von ihrem Geschlecht. Daraus kann man für eine mittelfristig wirkende geschlechtersensible Wertebildung aus Sicht der agierenden Fachkräfte ableiten, dass erstens den Eltern diese Unterschiede bewusst gemacht werden können, zweitens die Reflexion darüber zu einem Umdenken führen sollte und drittens die Fachkräfte selbst ausgleichend wirken können, indem sie den Jungen und Mädchen gleiche Werte vermitteln – implizit durch ihr Vorbild und explizit durch ihr pädagogisches Handeln. Dies bedeutet, Jungen und Mädchen zu zeigen, dass sie nicht aufgrund ihres Geschlechts unterschiedlich bewertet werden. Es meint aber auch, dass alle Kinder in unserer Gesellschaft zum Beispiel selbstbewusst und solidarisch sein sollten. Wie diese Wertetransmission gelingen kann, hängt eben auch davon ab, sich die beschriebenen Unterschiede zu vergegenwärtigen. Niesel gibt folgenden Rat für die pädagogische Praxis:
„Die Strategien, die Jungen und Mädchen im Rahmen der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität zeigen […], werden als entwicklungsabhängig erkannt. In der pädagogischen Arbeit wird aber darauf geachtet, dieses Verhalten nicht zu verstärken, sondern durch ein breites Spektrum von Möglichkeiten eine Einengung der sich entwickelnden Selbstbilder zu vermeiden.“ (Niesel 2008, 13)
Daraus kann eine geschlechtersensible Perspektive für Familienbildungsangebote abgeleitet werden. Eltern – Mütter wie Väter – brauchen unterschiedliche Ansprache, um zur Teilnahme an Angeboten motiviert zu werden. Langfristig können wir Geschlechtergrenzen nur dann flexibler gestalten, wenn wir heute bei den uns anvertrauten Kindern beginnen.
Literatur
- Baier, Dirk/Hadjar, Andreas (2004): Wie wird Leistungsorientierung von den Eltern auf die Kinder übertragen? Ergebnisse einer Längsschnittstudie. In: Zeitschrift für Familienforschung, 15 (2), S. 156–177.
- Carey, Tanith (2011): Where Has My Little Girl Gone? Oxford.
- Dittrich, Gisela/Dörfler, Mechthild/Schneider, Kornelia (2001): Wenn Kinder in Konflikt geraten. Eine Beobachtungsstudie in Kindertagesstätten. Neuwied.
- Durham, M. Gigi (2009): The Lolita Effect. The Media Sexualization of Young Girls and What We Can Do About It. London/New York.
- Smetana, Judith (2004) Grenzüberschreitungen in Bezug auf die Geschlechterrollen aus der Sicht von Vorschulkindern. In: Fried, Lilian/Büttner, Gerhard (Hrsg.) (2004): Weltwissen von Kindern. Zum Forschungsstand über die Aneignung sozialen Wissens bei Krippen- und Kindergartenkindern. Weinheim/München.
- Guggenbühl, Allan (2006): Kleine Machos in der Krise. Wie Eltern und Lehrer Jungen besser verstehen. Freiburg i. Br.
- Hackmann, Kristina (2003): Adoleszenz, Geschlecht und sexuelle Orientierungen. Eine empirische Studie mit Schülerinnen. Opladen.
- hessenstiftung – familie hat Zukunft/IGS Organisationsberatung GmbH: „Wertvolle Väter“. Ergebnisse einer Online-Befragung unter Vätern. Köln.
- Hüther, Gerald (2008): Angeboren oder erworben? In: TPS – Leben, Lernen und Arbeiten in der Kita, 2/2008, S. 8–11.
- Kasten, Hartmut (2003): Weiblich – Männlich. Geschlechterrollen durchschauen. München/Basel.
- Klann-Delius, Gisela (2005): Sprache und Geschlecht. Stuttgart.
- Matzner, Michael/Tischner, Wolfgang (Hrsg.) (2008): Handbuch Jungen-Pädagogik. Weinheim/Basel.
- Matzner, Michael/Wyrobnik, Irit (Hrsg.) (2010): Handbuch Mädchen-Pädagogik. Weinheim/Basel.
- Mertens, Wolfgang (1997): Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität. Bd. 1: Geburt bis 4. Lebensjahr. Stuttgart.
- Niesel, Renate (2008): Kinder sind niemals geschlechtsneutral. In: TPS – Leben, Lernen und Arbeiten in der Kita, 2/2008, S. 12–14.
- Rendtorff, Barbara (2006): Erziehung und Geschlecht. Eine Einführung. Stuttgart.
- Schweizer, Katinka/Richter-Appelt, Hertha (2010): Dimensionen von Geschlecht. In: Frühe Kindheit, 6/2010, S. 13–22.
Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch
Autorin
Dr. Inés Brock, geb. 1964, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Erziehungswissenschaftlerin, Dozentin im Nathusius-Institut für Psychologie, Bildung und Beratung (Halle/Saale), arbeitet u.a. für das MAPP-Institut der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH) und für die Bundesarbeitsgemeinschaft Familienbildung und Beratung e.V.; Autorin fachwissenschaftlicher Schriften; vier erwachsene Söhne
Erstellt am 4. September 2013, zuletzt geändert am 4. September 2013