Singen und Musizieren in der Familie – ungenutzte Potenziale?

Prof. Dr. Gunter Kreutz
Gkreutz 05 2015

Singen und Musizieren ist im Alltag vieler, aber längst nicht in allen Familien selbstverständlich. Geburtstage, Weihnachtsfeiern oder sonstige Feste bieten oftmals die nahezu einzigen Gelegenheiten für sporadische musikalische Aktivitäten. Doch was genau können regelmäßiges gemeinsames Singen und Musizieren für das Familienleben und besonders für die kindliche Entwicklung bewirken? Wie viel und welche Art von Musikalität brauchen Mütter und Väter, um ihren Kindern Freude an der Musik zu vermitteln? Wie schlimm ist es beispielsweise, falsche Töne zu singen oder den Takt nicht zu halten?

Wie auch immer die Antworten ausfallen, so hat jedes Phänomen seine zwei Seiten. Auf der einen profitieren Kinder von musikalischen Erfahrungen quasi vom Tage ihrer Geburt an: ans Kind gerichtetes Singen und Sprechen fördert die soziale Bindung von Müttern und mindert zugleich deren eigenen Ängste (Fancourt & Perkins, 2017, 2018); es vermag Säuglinge beruhigen oder zu aktivieren (Trehub & Nakata, 2001) und bietet sich als effektives Ritual nicht nur zur Schlafenszeit an, sondern über den gesamten Tagesablauf, um etwa die Emotionsregulation und letztlich auch die Schlafqualität von Kleinkindern zu verbessern (Hale, Berger, LeBourgeois, & Brooks-Gunn, 2011). Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass Kinder, die nicht so oft oder so regelmäßig singen oder die kein Musikinstrument erlernen, sich anders oder schlechter entwickeln im Vergleich zu jenen Altersgenossen, die frühe intensive musikalische Förderungen erfahren. Gleichwohl ist die Familie unbestritten die wichtigste Instanz der allgemeinen wie auch der musikalischen Sozialisation. Dabei zeigt es sich, dass sich im Rahmen der elterlichen musikalisch-erzieherischen Verantwortung weitaus größere Chancen als Herausforderungen gegenüberstehen.

Grundsätzlich gilt, dass musikalische Aktivitäten in den Familien, besonders wenn es kleinere Kinder, aber auch noch die älteren betrifft, vor allem darauf gerichtet sein sollten, Freude zu vermitteln. Zeit, Raum und eine positive Zuwendung sind dabei quasi die einzigen praktisch relevanten, zu erfüllenden Rahmenbedingungen. Einfache Lieder, Rhythmen und Bewegung zu Musik sind perfekte Alltagsbegleiter, da sie kaum Ressourcen von außen benötigen. Sie wirken effektiv gegen Langeweile, hellen Stimmungen auf und sie können helfen, Krisen und Stresssituationen zu überwinden. Zudem können regelmäßige musikalische Aktivitäten wichtige Entwicklungsprozesse anstoßen oder beschleunigen.  – Doch warum ist das so?

Musikalische Ursprungstheorien

Musikalische Ursprungstheorien sind aus mehreren Gründen hilfreich, um Hinweise auf die Bedeutung von Musik für die heutige Gesellschaft abzuleiten. Zum einen gilt es zu erklären, warum der moderne Mensch über ein so hohes Maß musikalischer Kompetenzen verfügt, die er weder zum Erhalt der Spezies noch zum Erhalt des eigenen Lebens notwendig braucht. Zum anderen steht die Frage im Raum, inwieweit musikalische Fähigkeiten vererbt werden oder ob eben Übung den Meister macht. Schließlich können Evolutionstheorien auch Hinweise liefern, welche Rolle musikalische Aktivitäten gerade im Hinblick auf Familie, Erziehung und kindliche Entwicklung spielen.

Charles Darwins Idee, dass die Musik einst als ein Produkt der sexuellen Selektion und des Paarungsverhaltens aus dem Tierreich auf den Menschen übergetreten ist, findet heute zwar sehr entschiedene, jedoch vergleichsweise wenige Befürworter (Miller, 2000). Die meisten Evolutionstheoretiker sehen im synchronen Gruppenverhalten, also zeitgleichen Bewegungen des Stimm- und Bewegungsapparates auf der Grundlage eines gemeinsamen zeitlichen Pulses, einen wesentlichen Schlüssel für die ursprüngliche Bedeutung und kulturelle Verankerung gesanglicher und tänzerischer Praktiken von den Frühmenschen bis zu den heute noch existierenden menschlichen Kulturen (Brown, 2000). Zwar gehen die Ansichten wiederum auseinander, ob diese Formen der Gruppensynchronisation nach innen für mehr Zusammenhalt oder nach außen zu größerer Geschlossenheit und Signalisierung von Kampf- und Verteidigungsbereitschaft beitrug (Hagen & Bryant, 2003), in jedem Falle aber geht es darum, Individuen in Gemeinschaften einzubinden und damit Zugehörigkeitsgefühlen Raum zu bieten, die sich durch kaum ein anderes Mittel – einschließlich der Sprache – ähnlich einfach, zielsicher und effektiv vermitteln lassen (Dunbar, 2014).

Eine weitere Gruppe von musikalischen Ursprungstheorien befasst sich mit der Eltern-Kind-Bindung. Insbesondere das mütterliche Singen und das ans Kind gerichtete Sprechen in Vokalisen oder der so genannten Ammensprache verweist auf musikalische Wurzeln (Papousek, 1994). Dieser Singsang, den Babys schon während der ersten Lebenswochen mit Brabbeln und sonstigen Lautäußerungen beantworten oder selbst initiieren, dient offenbar verschiedenen Zwecken, etwa der Regulation von Aufmerksamkeit, Gefühlen und Affekten bis hin zur Sprachanbahnung, die zwingend auf eine enge Kopplung zwischen Hörerfahrungen und Lautproduktion angewiesen ist (Trehub, 2010).

Musikalische Talente im Sinne, ein Musikinstrument besonders schnell zu erlernen oder mit nur wenig Anleitung eine gute Gesangstechnik zu entwickeln, sind offenkundig von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es fragt sich, zu welchen Anteilen solche Fähigkeiten vererbt sind und wie sehr ihre Entfaltung auf ein zuträgliches familiäres Umfeld oder ein effizientes und gut angeleitetes Üben am Instrument angewiesen sind. Erkenntnisse der letzten Jahre aus Zwillingsstudien, die in größerem Umfang in Schweden durchgeführt wurden, sind sowohl die Befähigung als auch die Motivation zum Üben von Instrumenten zu einem großen Anteil genetisch bedingt (Mosing, Madison, Pedersen, Kuja-Halkola, & Ullen, 2014). Solche Beobachtungen bereichern vor allem die so genannte Expertise-Forschung. Denn letztlich geht es hier darum, einzuschätzen, welche Individuen mehr oder weniger wahrscheinlich dazu in der Lage sind, besonders große Leistungen zu erzielen. Gleichwohl bezeugen Millionen von LaienmusikerInnen, dass genetische Voraussetzungen allein für eine aktive Teilhabe im Musikleben nicht entscheidend sein können.

Zusammenfassend tragen Theorien und Befunde zu den musikalischen Ursprüngen in der menschlichen Frühgeschichte zum Grundverständnis jener intuitiven menschlichen Musikalität bei, die uns allen angeboren ist und die für sich genommen ausreicht, um wichtige musikalische Entwicklungsvorgänge bei unseren Kindern anzuregen. Die Neigung zum Üben auf Musikinstrumenten und auch der Übeerfolg unterliegt zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit genetischen Voraussetzungen. Viel entscheidender für die individuelle musikalisch-kulturelle Teilhabe bleiben jedoch die familialen musikalischen Aktivitäten und die Vermittlung entsprechender Erfahrungen zwischen den Generationen.

Soziale Bedeutungen von Musikerfahrungen in den ersten Lebensjahren

Eine Forschungseinrichtung an der McMaster-Universität in Toronto, derzeit geleitet von der Neurowissenschaftlerin Laurel Trainor, widmet sich seit Jahrzehnten bereits in einem weltweit wohl einzigartigen Programm den Auswirkungen musikalischer Aktivitäten auf die (frühe) kindliche Entwicklung. Diesem Programm liegt die Annahme zugrunde, dass Kinder nicht grundlos mit vielfältigen musikalischen Potenzialen auf die Welt kommen. Denn bereits in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts stellte sich heraus, dass Babys über musikalische Hörkompetenzen verfügen, die denen von Erwachsenen nahezu ebenbürtig sind, diese sogar teilweise übertreffen (Trehub, 2010; Trehub & Hannon, 2006). Babys können von Geburt an musikalische Rhythmen (Winkler, Haden, Ladinig, Sziller, & Honing, 2009) und Intervalle (Abstände zwischen Tonhöhen) erfassen und unterscheiden (Stefanics et al., 2009) und schon nach wenigen Monaten Melodien wahrnehmen und erinnern (Trehub, 2010;  Trehub & Hannon, 2006). Schon in diesen früheren Studien deuteten sich nicht-musikalische Wirkungen an, etwa hinsichtlich der Regulation von Emotionen bei Säuglingen (Trehub & Nakata, 2001): ans Kind gerichtetes Singen reduziert Stress und aktiviert Babys gleichermaßen. Es lässt sich leicht vermuten, dass solche Wirkungen die Beziehungsqualität zwischen Müttern, Vätern und Kindern insgesamt einschließen.

Wozu die kindliche Musikalität wirklich nützlich ist, zeigen erst Studien der letzten Jahre. Die kanadischen Forscher richteten in einer dieser Untersuchungen Eltern-Kind-Gruppen mit Familien aus sozialschwachen Bevölkerungsschichten ein, in denen zum Zeitpunkt der Studie die teilnehmenden Babys etwa sechs Monate alt waren (Gerry, Unrau, & Trainor, 2012). Regelmäßige Treffen, in denen wiederkehrende Lieder zum aktiven Mitsingen und Mitbewegen animierten, führten dazu, dass sich die dem Spracherwerb vorausgehenden kommunikativen Gesten und das Sozialverhalten der Kinder positiver entwickelte im Vergleich zu Altersgenossen, die in ähnlichen Eltern-Kind-Gruppen von der Musik nur berieselt wurden und frei spielten. Die Studie legt nahe, dass einfaches Mitsingen, mitbewegen und die Wiederholung bereits bekannter Lieder schon im ersten Lebensjahr nachhaltige Wirkungen auf wichtige perzeptuelle, motorische und sozial-emotionale Entwicklungsprozesse entfalten kann. Weiterführende Studien mit etwas älteren Kindern im Alter von durchschnittlich 14 Monaten zeigten, dass musikalisch-unterstützte, synchronisierte Bewegungen zwischen Kindern und vertrauten Personen auch das Hilfe-Verhalten der kleinen Probandinnen und Probanden positiv beeinflusste (Cirelli, Wan, Spinelli, & Trainor, 2017). Das bedeutet, dass musikalische Kompetenzen für sich selbst genommen weniger Sinn ergeben als im Zusammenhang mit elterlicher Zuwendung und Lernprozessen, die mit dem Musikverhalten sehr wenig unmittelbar zu tun haben. Psychologen sprechen hier von Transfer-Lernen. Kurz gefasst treten bei solchen Effekten Wirkungszusammenhänge zwischen unterschiedlichen Domänen auf, die sonst kaum offenkundige Verbindungen vorweisen. Wenn wir sprechen, achten wir beispielsweise nicht auf die Melodien und zeitlichen Abstände, die sich zwischen den artikulierten Vokalen ergeben. Doch genau auf solche Merkmale, wie auch die Färbung der Stimme und die ausgedrückten Emotionen achten Babys und Kleinkinder sehr genau, um sich Lautmuster einprägen und später selbst wiedergeben zu können. Zunächst aber dienen Lieder und Melodien sozialen Zwecken, denn Säuglinge verbinden diese unmittelbar mit ihren Bezugspersonen (Mehr, Song, & Spelke, 2016). Die wichtige Botschaft all dieser Studien ist, dass intuitive musikalischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, über die quasi alle Eltern verfügen, ausschlaggebend sind. Eine formale musikalische Ausbildung benötigt grundsätzlich niemand, wenngleich Unterstützungen durch musik-betonte Eltern-Kind-Gruppen hilfreich sein können.

Eltern oder Elternteile, die ihre Kinder unter Bedingungen perzeptueller, motorischer, geistiger oder mentaler Einschränkungen aufgrund von Behinderungen oder chronischen Erkrankungen erziehen müssen, sind von diesen Potenzialen grundsätzlich nicht ausgenommen. Zum Teil komplementieren sich die Sinneskanäle gegenseitig und es sind synchrone Bewegungen im körperlichen Kontakt meistens möglich. Es gilt also, individuelle Voraussetzungen für musikalische, intuitive Aktivitäten auch und gerade in den Familien auszuloten, die auf positive psychosoziale Strategien zur Unterstützung von Entwicklungsprozessen im Alltag ganz besonders angewiesen sind.

Zusammengefasst spielen Familien eine zentrale Rolle für die musikalische Entwicklung der Kinder. Die meisten Familien erkennen die Bedeutung von Musik durchaus an, verweisen jedoch häufig auf einen generellen Zeitmangel und den Einsatz von Rezeptionsmedien, um das Familienleben musikalisch anzureichern (Reeves, 2015). Möglicherweise werden die positiven Potenziale regelmäßiger musikalischer Aktivitäten gerade in den ersten Lebensjahren im familiären Umfeld unterschätzt.

Kindergarten und Grundschule

Forschungsstudien deuten auf vielfältige Bedeutungen und Auswirkungen musikalischer Aktivitäten quasi über die gesamte frühe Kindheit und Adoleszenz. Es ist sogar wahrscheinlich, dass musikalische Erfahrungen im Laufe des Lebens sehr langfristig noch die mentale und geistige Gesundheit in höheren Lebensaltern mitbestimmen können (Verghese et al., 2006; Verghese, Lipton, & Katz, 2003). Wenngleich sehr viele Fragen noch unbeantwortet sind, so lohnt sich der Blick auf die musikalischen Bildungsprozesse in Kindergarten und Grundschule, da sie für die weiteren Entwicklungsverläufe in hohem Maße mitentscheiden.

Idealerweise knüpfen die musikalischen Lern- und Beschäftigungsangebote in Kindergarten und Grundschule an die familiäre musikalische Sozialisation unmittelbar an. Doch in der Realität offenbart sich ein völlig anderes Bild. Vielerorts fehlen schlicht das Personal und die Mittel zur nachhaltigen musikalischen Sozialisation der nächsten Generationen. Denn weder steht eine musikalische Ausbildung in den Stundenplänen der Erzieherinnen und Erzieher, die in den Kitas eine so wichtige, wie anspruchsvolle Tätigkeit leisten, noch sind Lehrerinnen und Lehrer, die das Fach Musik studiert haben, in den Grundschulen allgegenwärtig. Im Gegenteil: Zahlreichen Erhebungen zufolge fallen bis zu 50 Prozent des Musikunterrichts an Grundschulen aus oder werden fachfremd, also von Lehrerinnen und Lehrern ohne eigenständige Fachausbildung unterrichtet.

Eine systematische Vermittlung musikpädagogischer Konzepte und Kompetenzen, insbesondere vertiefte Kenntnisse über die kindliche Stimme und Singstimme, erscheint mehr als wünschenswert. Selbst die von unabhängigen Trägern oder Privatpersonen angebotene musikalische Früherziehung unterliegt in der Regel keinerlei Qualitätssicherung. Eltern sollten sich daher über die Konzepte, die Ausbildung und musikerzieherischen Kompetenzen von Anbietern selbständig informieren und sich darüber im Klaren sein, dass es keinerlei verbindliche Mindeststandards gibt, von denen in der frühkindlichen Musikvermittlung auszugehen ist.

Musikalität zum Wohle der Kinder und Familien fördern – aber wie?

Musiklernen, ob es nun um das Singen von Liedern, die Aneignung von Rhythmen mit Perkussionsinstrumenten oder um Tänze geht, die mit Musik ausgeführt werden, ist keine Frage des Alters oder der Generation. Die einfachste Art, Lieder zu lernen, besteht darin, mitzusingen und damit zugleich Muskeln und Sehnen rund um den Kehlkopf und die Stimmbänder selbst zu trainieren. Sämtliche Muskeln im Körper entwickeln sich durch ihren Gebrauch – und auch das Gehirn ist über die gesamte Lebensspanne dazu in der Lage, neue Bewegungsmuster anzulegen und zu erinnern. Die Stimme und der Kehlkopf sind keine Ausnahmen. Folglich ist die Ausübung von Musik mehr eine Frage der Motivation und Intuition als eine des Talents. Solange Fachkräfte, wie oben angedeutet, in so hohem Maße fehlen, sind Familien quasi auf Selbsthilfe angewiesen. Musik- und Volkshochschulen, die spezialisierte Kurse im Bereich Elementar- und Frühpädagogik anbieten, können hier dazu beitragen, die bestehenden Lücken in den grundständigen Bildungseinrichtungen zu schließen.

Langfristige Auswirkungen des Singens und Musizierens in der Familie

Studien zeigen, dass jene Eltern die sich selbst für mehr oder weniger musikalisch halten, diese Selbsteinschätzung auf ihre Kinder übertragen (de Vries, 2009; Reeves, 2015). Das bedeutet, dass nicht die vermeintlichen oder tatsächlichen musikalischen Kompetenzen über den Umgang mit Musik in der Familie entscheiden, sondern die eigenen Erfahrungen und Einschätzungen. Musikalische Entwicklung unterliegt folglich starken Einflüssen innerhalb als auch zwischen den Generationen.

Kreutz und Feldhaus (2018) untersuchten Zusammenhänge zwischen Angaben der Eltern über die Häufigkeit von Singen und Musizieren im familiären Alltag und ihrer Sicht auf verschiedene Aspekte der Persönlichkeit ihrer Kinder und der Beziehungsqualität. Sie zogen dabei Vergleiche mit anderen Tätigkeiten wie Einkaufen und Vorlesen heran. Die Datengrundlage waren vier Erhebungen über einen Zeitraum von sechs Jahren, an denen insgesamt mehr als 800 Familien teilnahmen. Die Kinder waren zu Beginn ungefähr acht Jahre alt. Damit schloss der Zeitraum die späte Kindheit und den Übergang zur Pubertät mit ein. In dieser Phase nimmt die Selbständigkeit der Kinder zu und gemeinsame Aktivitäten mit den Eltern nehmen generell ab. Dennoch zeigte sich ein deutlicher positiver Zusammenhang zwischen der elterlichen Einschätzung über prosoziale Verhaltensweisen ihrer Kinder und der Häufigkeit des häuslichen Singens und Musizierens. Da nur ungefähr jede zehnte Familie angab, täglich zu singen oder zu musizieren, ist bereits in durchschnittlich geringeren Dosierungen musikalischer Aktivitäten ein Potenzial zu erkennen, die Beziehungsqualität positiv zu beeinflussen. Weitere Folgerungen sind augenblicklich noch nicht möglich, denn dazu wären wesentlich differenziertere Erhebungen über die Form und Qualität der familiären Musikaktivitäten notwendig.

Familiäres Singen und Musizieren birgt viele Facetten. Studien legen nahe, dass das Musiklernen oder die Schaffung von Voraussetzungen für spezifisch musikalische Bildungskarrieren zwar auch mit in den Händen der Familien liegt. Wichtiger aber scheint, dass musikalische Aktivitäten innerhalb der Familie viel wichtigere Aufgaben erfüllen können. Sie beeinflussen etwa die Beziehungen, die Wahrnehmung und die Wertschätzung der Familienmitglieder untereinander. Darüber hinaus können Wissensbestände über Lieder und Musiken mit Bezügen zur familiären Biographie in einzelnen Fällen auch therapeutischen Nutzen in sich tragen. Biographische Musik wird etwa bei Demenzerkrankungen (Hanser, Butterfield-Whitcomb, Kawata, & Collins, 2011) sowie bei Menschen mit tiefgreifenden Bewusstseinsstörungen (Grimm & Kreutz, 2018) bevorzugt eingesetzt, um die individuelle Lebensqualität und das Wohlbefinden zu verbessern.

Zusammenfassung und Ausblick

Aus den eher fragmentarischen Erkenntnissen sticht zumindest eine Beobachtung immer wieder hervor, dass nämlich produktive musikalische Aktivitäten, ganz besonders in den ersten Lebensjahren, durch eine konsumorientierte Musikrezeption kaum zu ersetzen sind. Und selbst in der späteren Kindheit und Adoleszenz, in denen sich allmählich individuelle Vorlieben entwickeln, sollte sich kulturelle Teilhabe keineswegs in Musikkonsum erschöpfen. Beispielsweise können Chorerfahrungen in der Schule dazu beitragen, langfristige Bindungen an Singgemeinschaften zu initiieren (Kreutz & Brünger, 2012). Ein beachtlicher Vorteil von Singen und Musizieren liegt darin, dass diese im Lichte der Intensität und des Umfangs solcher Aktivitäten für den gesamten Laienbereich gesundheitlich als nahezu risikolos zu beurteilen sind. Beachtlich erscheint, dass frühe musikalische Aktivitäten auch auf die allgemeine Hörentwicklung positiv zurückwirken (Kraus & Chandrasekaran, 2010) und damit auch den Spracherwerb begünstigen können (Kraus et al., 2014; Strait, Parbery-Clark, O’Connell, & Kraus, 2013).

Musikmedien können als Ressource zum Mitsingen oder zur freien Aneignung von Liedern durchaus unterstützend wirken. Doch bergen personalisierte Tonträger, besonders wenn sie mit Innenohrkopfhörern betrieben werden, latente Gefahren für die Hörgesundheit, wenn diese Geräte hohe Schallpegel emittieren (Beach, Gilliver, & Williams, 2013; Zhao, Manchaiah, French, & Price, 2010).

Ohnehin werden die Anforderungen an musikalischen Fähigkeiten und Fertigkeiten tendenziell überschätzt, während Stigmata, Hemmungen und Vorurteile gegenüber der eigenen Musikalität entsprechende Aktivitäten schon im Keim ersticken können. Mit Blick auf andere Musikkulturen der Welt, insbesondere in afrikanischen oder südamerikanischen Ländern lässt sich nur vermuten, dass spezifisch kulturelle Faktoren ein breiteres musikalisches Engagement in der Gesellschaft und ein entsprechendes individuelles Selbstbewusstsein einschränken.

Die Integration von Familien mit Fluchterfahrungen sowie die Inklusion von Familien, in denen einzelne Mitglieder unter chronischen Erkrankungen oder Behinderungen leiden, bieten gleichermaßen Chancen und Herausforderungen hinsichtlich der berechtigten Ansprüche dieser Gruppen auf kulturelle Teilhabe, im Allgemeinen, und die Verwirklichung musikalischer Akkulturation im Besonderen. Gemeinsames Singen, Tanzen und Musizieren können wichtige Bausteine der Lebensqualität sein, wobei pädagogische und therapeutische Potenziale nicht notwendig im Vordergrund stehen müssen (Kreutz, G. & von Georgi, R., 2017). Es genügt völlig, wenn sie von Familien und Kindern als positiv, bereichernd und motivierend empfunden sowie zur Stärkung der sozialen und emotionalen Bindungen in der Familie genutzt werden.

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Prof. Dr. Gunter Kreutz

Institut für Musik

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

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eingestellt am 26. September 2018

 

 

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