Entwicklung der kindlichen Selbstständigkeit durch eine sichere Bindung und Lernen aus eigenem Antrieb
Dr. Erika Butzmann
Kindheit findet heute bereits früh in einem an vorgegebenen Leistungszielen ausgerichteten Rahmen statt, zumeist unter direkter Anleitung von Erwachsenen. Selbstständigkeit als selbst zu organisierender Entwicklungsprozess könnte dabei aus dem Blick geraten. Deshalb ist es hilfreich zu wissen, dass Kinder nicht zur Selbstständigkeit erzogen werden können, sondern diese sich durch seine Bindungsbeziehungen und dem natürlichen Drang nach Selbstständigkeit entwickelt. Dem entsprechend kann Selbstständigkeit nur zugelassen und unterstützt werden. Mit den nachfolgenden Ausführungen wird gezeigt, wie sich die Selbstständigkeit in den ersten sechs Lebensjahren ausbildet, um Anhaltspunkte für eine angemessene Unterstützung der Kinder aufzuzeigen. Abweichung zum darzustellenden Entwicklungsverlauf gibt es bei besonders sensiblen, eher ängstlich veranlagten Kindern. Weil hier die Beachtung der Besonderheiten wesentlich für die Förderung der Selbstständigkeitsentwicklung ist, werden diese zum Schluss beschrieben.
Die sichere Bindung
Die unverzichtbare Basis für die Entwicklung zur Selbständigkeit ist die sichere Bindung des Kindes, naturgemäß an seine leibliche Mutter oder eine andere stets verfügbare Hauptbezugsperson. Diese Bindung beginnt im 2./3. Lebensmonat durch das Einheitsgefühl des Kindes mit seiner Mutter. In der Vorbindungsphase der ersten zwei Monate und darüber hinaus versucht der Säugling durch angeborene soziale Verhaltensweisen (umklammern, anschmiegen, horchen, anschauen, anlächeln, schreien) den Kontakt zu seiner Mutter herzustellen. Dabei spielt das Verhalten dieser primären Bindungsperson ein wichtige Rolle. Ihre bindungsfördernde Zugewandtheit drückt sich in vielen Gebärden und Handlungen aus: im Trösten und Beruhigen, im freundlichen Anblicken, im sicheren und zugleich liebevollen Halten und Bewegen, beim Stillen, Füttern und Baden und im Plaudern und fröhlichen Ansprechen des Kindes.
Zwischen dem 6. und 12. Monat ist die Bindungsentwicklung in einer kritischen Phase. Das Kind spürt durch seine Fortbewegungen nach und nach, dass es sich aus der Einheit mit der Mutter löst. Da es zu diesem Zeitpunkt noch keine durchgehende Erinnerungsfähigkeit hat, entstehen bei vielen Kindern existenzielle Trennungs- und Verlassenheitsängste, wenn sie die Mutter nicht sehen oder hören. Das führt zu heftigem Anklammern an der Mutter, wenn sie wieder auftaucht. Klammerverhalten ist Bindungsverhalten; darauf sollte zuverlässig eingegangen werden.
Zwischen dem 12. und 24. Monat festigt sich die Bindung, wenn sich das Kind bei Bedarf immer bei seiner primären Bindungsperson rückversichern konnte. Die Bindung an den Vater ist andersartig und entwickelt sich parallel, wenn er das Kind mit versorgt. Diese Bindung intensiviert sich über das gemeinsame Spiel und den häufig zelebrierten Spaß des Vaters mit dem Kind. Damit hat das Kind die Grundlage für alle weiteren Bindungsbeziehungen. Geschwister, Großeltern und Familienfreunde können die durch die Eltern erfahrene Sicherheit zusätzlich stärken, da sie während der ganzen Kindheit zur Verfügung stehen. Auf dieser Basis fällt es dem Kind leicht, im dritten und vierten Lebensjahr neue Bindungsbeziehungen außerhalb der Familie einzugehen.
Erst wenn eine sichere Eltern-Kind-Bindung im ersten Lebensjahr hergestellt wurde und sich im Laufe des zweiten und dritten Lebensjahres festigen konnte, ist das Kind in der Lage, sich den vielfältigen Lernprozessen zuzuwenden. Das sicher gebundene Kind hat für das weitere Leben alle Ressourcen verfügbar, um parallel zur kognitiven Entwicklung seine Emotionen wahrzunehmen und später seine Impulse zu steuern, um Selbstberuhigung zu erwerben, um feinsinnig Ursachen und Folgen eigenen Verhaltens zu erkennen, um die Intentionen und Motive anderer zu identifizieren und um Mitgefühl zu entwickeln. Solange keine sichere Bindung vorhanden ist, arbeitet das Bindungssystem auf Hochtouren, notfalls durch die ganze Kindheit und Jugend hindurch. Dann finden Überanpassungen statt – entweder zu leistungsorientiert, zu aufmerksamkeitsheischend, zu brav und leise oder auch zu widerwillig. Während andere sich noch um Bindung bemühen, kann das sicher gebundene Kind interessiert und mühelos alles lernen, was im späteren Leben wichtig wird. Seine Entwicklung zur Selbstständigkeit wird durch nichts behindert.
Beim Gewinnen der Selbständigkeit wird das Kind von Anfang an durch mehrere biologische Antriebe angeregt und geleitet, von denen die fünf folgenden besonders wichtig sind: Erkundungsverhalten, Wissbegierde, Spielen, Nachahmen und schöpferisches Erfinden. Das Lernen erfolgt dabei nicht durch materielle Belohnung oder äußeren Antrieb, sondern aus eigenem Antrieb in Verbindung mit den positiven Reaktionen der Erwachsenen.
Die biologischen Antriebe
Erkundungsverhalten zeigt das Kind nach dem reflexhaften Handeln der ersten Wochen, denn es ist ständig aktiv, so lange keine aktuellen biologischen Bedürfnisse (Hunger, Müdigkeit, Schmerzen oder Nähe-Suchen) bestehen. Das Baby schaut sich alles an, was in sein Blickfeld gerät, manipuliert erreichbare Gegenstände und steckt alles in den Mund. Das Kleinkind versucht alles mit seinen Sinnen zu erforschen. So werden die Eigenschaften der Dinge erfahren, es wird festgestellt, welche Geräusche Gegenstände beim Herunterfallen machen und was Eltern tun, wenn das absichtsvolle Herunterwerfen häufig wiederholt wird. Denn das Kind erwartet von den Eltern den Gegenstand zurück; es prüft im Alter zwischen 10 und 18 Monaten das spannende Ereignis, dass Dinge verschwinden und wieder auftauchen können. Zu dieser Zeit liebt das Kind auch Guck-Guck-Da-Spiele, die es häufig selbst initiiert. Im Laufe des zweiten Lebensjahres sorgt der Erkundungsantrieb durch das Laufenlernen für einen heftigen Entwicklungsschub, weil das Kind plötzlich viel mehr wahrnimmt und gleichzeitig von den Dingen wie ein Magnet angezogen wird. Gegen Ende des zweiten Lebensjahres entsteht daraus gezieltes Handeln, so dass die Dinge jetzt intensiv erforscht werden können. Das Kind lernt während dieser Erkundungsphase vornehmlich über seine Sinne und seine Bewegungen.
Wissbegierde zeigt sich, wenn Neues in den Gesichtskreis des Kindes gerät. Dies übt eine ganz besondere Anziehungskraft aus. Wenn z.B. ein Baby zur Mutter krabbelt und auf dem Weg dorthin ein Ball in sein Sichtfeld rollt, wendet es sich dem Ball zu und ‚vergisst‘ vorübergehend sein vorheriges Ziel. Seine Aufmerksamkeit ist von Anfang an unbewusst immer auf das Neue gerichtet. Dieser Antrieb bleibt das ganze Leben bestehen, wenn es den Kindern gut geht. Es ist ein Lernantrieb par excellence. Kann das Kind sprechen, äußert sich diese Wissbegierde im häufigen Fragenstellen. Die Frage-Form der Wissensaneignung beginnt, wenn der Säugling auf etwas zeigt, wo er eine Reaktion der Bezugsperson erwartet, dann folgt dem Zeigen das Wort „Da“ und dann kommt „Was?“, so dass mit der Vervollständigung der Sprache die Frage „Was ist das?“ möglich wird. Im vierten Lebensjahr kommt es dann zur Dauerfrage „Warum“.
Das Spielen ist ein biologisch verankertes Grundbedürfnis. Es ist Mittel zum Einüben neuer Fähigkeiten, zum Weltverständnis, zum selbst gesteuerten Lernen, da über das Handeln im Spiel die wahrgenommenen Dinge begriffen werden. Körper, Verstand und Persönlichkeit brauchen das Spiel (Sinnesorgane, Körperhaltung und Bewegung, Denken, Sprache, Sozialverhalten). Ungestört allein zu spielen fördert die Fähigkeit zur Konzentration, Bewegungsspiele üben Kraft und Geschicklichkeit und fördern das Selbstvertrauen des Kindes. Spielen mit Erwachsenen und anderen Kindern entwickelt die Fähigkeit, Handlungen zu planen, andere zu beobachten und soziales Verhalten einzuüben. Reizüberflutung (zu viele Spielsachen, zu viel fremd bestimmte Aktion) verhindert, dass Kinder spielen und lernen können. Spielen erfolgt nur in entspannten und angstfreien Situationen.
Die Nachahmung spielt eine besondere Rolle bei der Entwicklung des Kleinstkindes. Speziell über die Nachahmung entwickeln sich Vorstellungsfähigkeit, Sprache und das erste Wissen über sich selbst und die anderen. Von Anfang an lernt das Kind über Nachahmung. Nach der Geburt ahmt es reflexhaft Grimassen nach. Die absichtsvolle Nachahmung beginnt mit seinen eigenen Handlungen, dann ahmt es die bei den Bezugspersonen gesehenen Handlungen nach. Dafür sind die tagtäglichen Situationen, die das Kind in der Familie beobachtet, wesentlich. Zwischen dem 18. und 24. Monat kann es aus seinem Gedächtnis heraus etwas vorher Gesehenes nachahmen. Damit hat es die Fähigkeit zu inneren Bildern entwickelt, die in der Folge Sprache und Denken ermöglichen. Wie wichtig dieser biologische Antrieb für das Verständnis der anderen ist, zeigen die manchmal zu beobachtenden seltsamen Verhaltensweisen von Kindergarten-Kindern. Sie beginnen dann, negative Verhaltensweisen anderer nachzuahmen. Sie wissen, dass man das nicht darf (Spucken, Schimpfwörter benutzen, komische Geräusche machen usw.), wundern sich über die anderen Kinder und versuchen deren Verhalten zu verstehen, indem sie das anhaltend nachahmen.
Gegen Ende des zweiten Lebensjahres kommen beim Schöpferischen Erfinden die zuvor ausgebildeten Fähigkeiten zum Einsatz. Dabei wird dem Kind das Gefühl der Selbstwirksamkeit in ersten Ansätzen bewusst. Zuvor Erlerntes wird neu kombiniert: dies zeigt sich im fantasievollen Erzählen, im konstruktiven Bauen, im Erfinden von Spielen und in Wortschöpfungen.
All diese biologischen Antriebe lassen beim Kind erste Gefühle der Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit entstehen, wenn die Voraussetzungen einer sicheren Bindung und einer sicheren Umwelt gegeben sind.
Gelingt es dabei den Eltern, auf die Aktivitäten des Kindes meistens zu reagieren, fördern sie bereits im frühen Alter die Leistungsbereitschaft des Kindes. Die natürliche Suche nach Aufmerksamkeit steuert das kindliche Verhalten: es schaut Mutter oder Vater strahlend und erwartungsvoll an, wenn ihm etwas gelungen ist. Strahlen sie freudig zurück, macht das Kind unbefangen weiter. Es braucht in den ersten Jahren die Eltern als ‚Spiegel‘ für die eigenen positiven Gefühle.
Diese drei Dinge - die sichere Bindung an die Eltern, die biologischen Antriebe und die dabei entstehenden positiven Gefühle aus den ersten zwei Jahren führen im Laufe der nächsten zwei Jahre zum Bewusstwerden der eigenen Selbstständigkeit.
Der Beginn selbstständigen Handelns
Nach der Phase des reflexhaften Verhaltens der ersten Wochen zeigen Babys die genannten biologischen Antriebe, wenn sie feststellen, dass sie etwas bewirken können. Das wenige Wochen alte Kind stößt z.B. zufällig den vor seinen Augen baumelnden Gegenstand an, nimmt die Bewegung wahr und wiederholt das Anstoßen. Dann wiederholt es dies immer wieder, weil das ein gutes Gefühl bei ihm erzeugt (das zeigt es durch Lachen, Glucksen und Strampeln). Das sind die ersten Empfindungen, die das Lernen im ganzen weiteren Leben mit steuern: das Gefühl der Selbstwirksamkeit (es bemerkt, dass es etwas bewirkt) und das Selbstwertgefühl (es empfindet ein gutes Gefühl dabei). Diese Gefühle sind am Anfang noch nicht bewusst, d.h. es sind Empfindungen, die aktuell nur kurz registriert werden.
Die Nachahmung der Handlungen seiner Eltern entwickelt sich parallel; zuerst unbewusst als motorische Nachahmung und gegen Ende des zweiten Lebensjahres ahmt es aus der Erinnerung Szenen bewusst nach. Die Neugierde bzw. Wissbegierde steuert dabei alles, was das Kind wahrnimmt und tut: beim beginnenden Spiel, beim Erkunden seines Bewegungsraumes, beim Ausprobieren von Dingen und dem Schauen, was die Eltern, Geschwister und Spielkameraden machen.
Mit den über die ersten 18 bis 24 Monate angesammelten Handlungserfahrungen hat das Kind am Ende des zweiten Lebensjahres ein erstes Ich-Bewusstsein, Erinnerungsbilder (Vorstellungsgedächtnis), das Symbolspiel, Sprache und von der Handlung losgelöstes Denken entwickelt. Wenn diese neuen Fähigkeiten hervortreten, kann es bei vielen Kinder zu Störungen im Verhalten kommen. Denn sie erkennen gleichzeitig, dass sie eine eigenständige Person und von den anderen (insbesondere von der Mutter) getrennt sind. Der verstärkte Wunsch nach Geborgenheit und der Drang nach Selbstständigkeit sind in dieser Zeit sehr groß. Das Kind ist zwischen beiden Polen hin- und hergerissen. Es nennt sich nun nicht mehr beim Vorname, sondern sagt Ich zu sich selbst und glaubt, dass alles was es sieht, ihm gehört. Der eigene Wille kommt heftig zum Vorschein. Es möchte alles allein machen.
Hierbei wird deutlich, wie wichtig Kindern ihre Selbstständigkeit ist. Sie spüren einen starken Drang, selbstständig zu werden. Wenn das Alles-allein-machen-wollen beginnt, steckt jedoch noch keine Vorstellung von dem, was Selbstständigkeit ist, dahinter. Der natürlich Drang zur Selbstständigkeit lässt die Kinder einfach aus einem Impuls heraus handeln, ohne darüber nachdenken zu können. Sie haben die Erwachsenen bis zu diesem Zeitpunkt immer wieder nachgeahmt. Aus diesem Nachahmen entsteht jetzt - durch das von der Handlung losgelöste Denken und dem Erwachen des eigenen Willens - der starke Wunsch, alles allein zu machen. Dabei klappt vieles noch nicht und das Kind versucht alles mögliche, was wir Erwachsenen als nicht erfolgreich bezeichnen würden. Soweit kann das Kind aber noch nicht denken. Es ist dann oft nur auf das Alleine-machen fixiert und wehrt jede Hilfe ab, ist aber stocksauer, wenn es nicht klappt. An diesem Punkt spürt das Kind sein Selbstwertgefühl, jedoch im negativen Sinne, denn es wartet vergeblich auf das gute Gefühl, das es von Erfolgserlebnissen her kennt. Die Verzweiflung über das Nicht-gelingen führt dann zu Ausrastern. Das Kind steckt bis zum Alter von drei Jahren so stark in seiner ichbezogenen Denkweise fest, dass es nur mit Wutanfällen oder Weinen auf negative Gefühle reagieren kann. Impulskontrolle ist noch nicht ausgebildet, es ist seinen Gefühlen hilflos ausgeliefert. Deshalb kann es mit den Einwänden und Anforderungen von außen auch nicht umgehen. Es will alles, und zwar sofort, ohne darin etwas Falsches zu sehen. Dabei hilft dem Kind Trost und Verständnis der Bezugsperson, um sich selbst anzunehmen und seine Gefühle zu verstehen. Dann ist es motiviert, sich weiter zu erproben.
Versuche, dem Kindes zu helfen, werden dementsprechend meistens abgewehrt, denn das Kind will es um jeden Preis allein schaffen. Bei all diesen Aktionen müssen die Eltern jedoch schauen, was geht und was nicht geht; was zu gefährlich ist, zu viel Zeit in Anspruch nimmt oder das Kind deutlich überfordert. Ein liebevolles Grenzensetzen gehört dazu. Durch die Ichbezogenheit in den ersten drei Jahren kommen Erklärungen häufig nicht an, deshalb muss dann gehandelt und eine aussichtslose Sache beendet werden. Der dann folgende Wutanfall ist nicht zu vermeiden. Wenn das Kind wütend ist, sollte nicht weiter auf es eingeredet werden, weil Erklärungen und Argumente nicht ankommen. Hat sich das Kind beruhigt, ist es nach einer Weile wieder aufnahmefähig.
Grundsätzlich sollte das Kind jedoch die Chance erhalten, die Dinge auszuprobieren, solange seine Geduld ausreicht. Denn hier kommt ein natürlicher Lernprozess in Gang, der darin besteht, dass nach dem ersten Misserfolg ein neuer Versuch unternommen wird. Wenn dieser dann gelingt, wird besonders viel Dopamin ausgeschüttet. Ein solch überragendes Gefühl wird dann immer wieder gesucht durch das Dranbleiben an einem Problem.
Auf dem Weg des Alles-alleine-machens lernt das Kind bis zum dritten Geburtstag viele der Dinge, die es selbst betreffen, alleine zu machen. Trotzdem haben die Dreijährigen immer noch kein Gefühl für die eigene Selbstständigkeit. Das zwei- bis dreijährige Kind ist noch damit beschäftigt, sich als eigenständige Person zu begreifen und die Trennung von der Mutter zu verarbeiten. Wie sehr das Kind mit dieser Erkenntnis zu kämpfen hat, kann man am Verhalten der Kinder bei Ausfall der Aufmerksamkeit besonders durch die Mutter sehen. Zwischen zwei und drei Jahren reagieren die Kinder mit deutlichen Störungen, wenn die primäre Bindungssperson ihre volle Aufmerksamkeit anderen schenkt. Durch die instabilen Gefühle für sich selbst fühlen die Kinder sich dann allein gelassen.
Das Selbstbewusstsein ist zu dieser Zeit noch ein Körperbewusstsein. Dies zeigt sich, wenn die Kinder für jede kleine Verletzung ein großes Pflaster brauchen, wenn sie sich nicht die Nägel oder Haare schneiden lassen wollen und wenn sie mit den ersten Doktorspielen beginnen.
Für die Dreijährigen werden nun die Dinge, die sie über das Alleinmachen mühsam gelernt haben, unwichtig. Sie kümmern sich nicht mehr um das An- und Ausziehen und wollen, dass die Eltern das wieder machen. Da ein Empfinden für die eigene Selbstständigkeit noch nicht vorhanden ist, sind die alltäglichen Dinge wie Zähneputzen, Waschen, An- und Ausziehen nicht mehr interessant. Hinzu kommt, dass sie das Kümmern der Eltern immer wieder brauchen, solange ihr Selbstbewusstsein instabil ist.
Die Erzählung einer Mutter über ihre dreijährige Tochter zeigt das Hin- und Hergerissensein der Dreijährigen zwischen Baby- und Großsein: „Manchmal habe ich bei Klara das Gefühl, eine Alte vor mir zu haben, wie sie mich anguckt oder mit mir so weise spricht und wie sie Zwischentöne wahrnimmt. Manchmal habe ich ein eifersüchtiges kleines Mädchen vor mir, das ganz viel Liebe und Aufmerksamkeit braucht und wenn sie die erhält, kommt die große Klara schnell wieder hervor“.
Durch die noch instablile Persönlichkeit braucht das Kind in diesen ersten drei Jahren die schützende Sicherheit durch diejenigen Erwachsenen, an die es innerlich gebunden ist, um all seine Fertigkeiten und Kenntnisse, soziales Verhalten und seine spätere Selbständigkeit zu entwickeln. Die dabei empfundene äußere Sicherheit durch die Bezugspersonen führt in der Folgezeit zur inneren Sicherheit beim Kind, die notwendige Grundlage für die ganze weitere Entwicklung ist.
Die Vorbildfunktion der Eltern ist in dieser Zeit besonders wichtig. Bei Nachahmung ihrer Handlungen durch die Kinder wird ihnen manchmal peinlich bewusst, wie sehr sie Vorbild sind. Die kindliche Nachahmung ist Bindungsverhalten und sie fördert gleichzeitig die Entwicklung zur Selbstständigkeit. Spielkameraden werden jetzt immer wichtiger, sie sind ebenfalls Vorbilder und werden auch nachgeahmt.
Die Selbstständigkeit wird in den ersten zwei bis drei Jahren nicht gefördert, wenn den Kindern häufig Entscheidungen abverlangt werden. Das kann die Kinder irritieren, weil sie zwei gleich gute Ereignisse oder Dinge noch nicht gegeneinander abwägen können. Sie bedenken immer nur eine Sache. Ihre Aufmerksamkeit ist zu diesem Zeitpunkt eindimensional. Das führt manchmal dazu, dass sie irgendeine Entscheidung treffen und diese kurze Zeit später wieder verändern wollen. Wenn Kinder in solchen Situationen negativ reagieren, sollten die Entscheidungsfälle verringert werden.
Ein erstes Bewusstsein der eigenen Selbstständigkeit bildet sich mit ungefähr vier Jahren aus. Alle bisher vorbewusst und eher gefühlsmäßig gesammelten Erfahrungen über sich selbst und die anderen schießen jetzt ins Bewusstsein des Kindes.
Das erste Bewusstwerden der eigenen Selbstständigkeit
Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeitsempfinden und Aufmerksamkeitssteuerung, die sich vorbewusst parallel entwickelt haben, führen mit vier Jahren zur Fähigkeit, sich seiner selbst deutlicher bewusst zu werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich nun auf die eigenen Emotionen, Handlungen und Gedanken. Das Kind vergleicht sich vermehrt mit den anderen. Was können die und was kann ich? Warum verhalten die sich anders als ich? Darüber erfährt das Kind nach und nach, was die anderen denken und fühlen. Es beschäftigt sich zunehmend mit seinen Gedanken im Kopf, es denkt über die Gedanken in seinem Kopf nach. Ein Beispiel soll das illustrieren: Ein vierjähriges Mädchen antwortet auf die Frage einer Erzieherin, wann man schlau ist „Wenn man mit dem Kopf denkt“. Die Erzieherin fragt „Wie geht das?“ Das Kind antwortet „Ganz einfach, wenn man mit dem Finger neben das Auge an den Kopf drückt“!
Das Wissen über die Gedanken im Kopf beschränkt sich auf die Feststellung, dass die Gedanken im Kopf sind, die Frage der Erzieherin wird synkretistisch (willkürliche Beziehungen herstellend) beantwortet. In der Entwicklung der Kinderzeichnung zeigen sich die dazu passenden Bilder der Kopffüßler!
Im Hinblick auf die Selbstständigkeitsentwicklung stellt das drei- bis vierjährige Kind noch keinen Zusammenhang zu Alltagsfertigkeiten wie Selbst-anziehen her. Es interessiert sich jetzt dafür, was es im Vergleich zu den anderen besser kann. Es ist noch weitgehend ichbezogenen, deshalb vorwiegend mit seinem eigenen Können und Wissen beschäftigt. Es will ständig gelobt werden und weist immer darauf hin, was es schon alles kann. Es kann klettern, springen, rennen, hüpfen, werfen, balancieren, Fahrrad fahren. Das wird jetzt besonders wichtig für sein Selbstbewusstsein, sein Selbstvertrauen und sein Selbstwertgefühl. Es lernt über den Vergleich mit anderen seine Fähigkeiten immer besser kennen. Es sammelt aktiv Welt-Wissen an, denn es ist in der Phase der Warum-Fragen. Sein Wortschatz nimmt rapide zu und sein Wissensdurst ist groß. Es weiß schon viel über das Funktionieren von Dingen, von Verhaltensregeln und von dem, was Mama und Papa gern mögen und was nicht.
All diese Fähigkeiten entwickeln sich bis zu diesem Zeitpunkt innerhalb eines Reifungsprozesses, der nicht vermittelt oder beschleunigt werden kann, sondern vom Kind selbst gesteuert wird, wenn die Umwelt das zulässt. Der natürliche Drang des Kindes, selbstständig zu werden, hilft ihm bei allem Neuen, sein Ziel zu erreichen. Wenn die Erwachsenen dem Kind die Zeit lassen, Dinge selbst zu tun und nur bei Bedarf helfen, wird das Gefühl des Selbstwerts, des Selbstbewusstseins und der Selbstständigkeit für das Kind immer deutlicher.
Die zunehmende Interaktionsfähigkeit mit der Umwelt im vierten Lebensjahr ist eine ideale Gelegenheit, Kinder in die alltäglichen Abläufe zu integrieren. Auch wenn sie noch keine wirkliche Hilfe im Haushalt sind, sind sie motiviert, Erwachsene mit kleinen Handgriffen zu unterstützen. Sie können helfen, die passenden Strümpfe aus der Wäsche zu suchen, die Bettdecke gerade zu ziehen oder beim Backen den Zucker zu reichen. Auch bei kleinen Aufräumarbeiten können Eltern ihre Kinder mit einbeziehen. Derartige Tätigkeiten unterstützen die Entwicklung der Motorik, der Sprache, der Konzentrationsfähigkeit und der Selbstständigkeit. Außerdem lieben die Kinder solches gemeinsame Tun und wenn sie in die täglichen Abläufe einbezogen werden, erkennen sie sich als Teil der Familie.
Bisher war das Bewusstsein der eigenen Selbstständigkeit nur punktuell vorhanden, immer dann, wenn das Kind etwas Neues geschafft oder neue Erkenntnisse gewonnen hat. Unterstützt wird dieser Prozess durch die rege Fantasietätigkeit der drei- und vierjährigen Kinder, denn in den erfundenen Geschichten erleben sie sich als stark und überaus selbstständig. Ebenso üben sie selbstständiges Handeln fantasievoll im Rollenspiel.
Die Fantasietätigkeit ist ein besonderes Merkmal im Denken der Vierjährigen. Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget bezeichnete dieses Denken als vorlogisch. Das stimmt mit Ergebnissen der Hirnforschung überein, denn die hohe Synapsendichte im Gehirn der Drei- bis Fünfjährigen führt teilweise zu unstrukturiertem Denken. Bis zum vierten Geburtstag haben die meisten Kinder noch keinen sogenannten Bewusstseinsstrom, sondern nur ein Aktualbewusstsein. Das autobiografische Gedächtnis, das den Strom des Bewusstseins ermöglicht, ist erst mit vier Jahren ausgereift (Roth 2001, S. 227f.) Das Kind lebt bis zu diesem Zeitpunkt im Augenblick und befasst sich meistens nur mit der aktuellen Situation. Zudem ist es in seine Gefühle noch weitgehend eingebunden. Das Bewusstsein über die eigenen Fähigkeiten ist dementsprechend nicht durchgängig vorhanden, also auch noch keine Gedanken über die eigene Selbstständigkeit. Das Denken ist noch weitgehend ichbezogen.
So kann es zu scheinbar selbstständigem oder unerschrockenem Verhalten kommen, wie das folgende Beispiel illustriert: Der knapp vierjährige Paul geht auf drei martialisch aussehende Jugendliche zu, stellt sich nah an den einen ran, schaut an ihm hoch und fragt keck: „Bist du stark?“
Die eigene Selbstständigkeit wird bewusst
Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit werden erst dem fünfjährigen Kind in einem Gesamtzusammenhang bewusst. Es konzentriert sich nach dem ständigen Vergleich mit den anderen jetzt wieder auf die eigenen Fähigkeiten und nimmt sich so genauer wahr. Das zeigt sich im Verhalten, wenn besonders die Jungen vehement die Anführerschaft im Spiel einfordern und mit Kämpfen zeigen wollen, dass sie die stärksten sind. Bei Mädchen kommt dieses Verhalten eher durch Bestimmerverhalten und Wettkämpfe-einfordern zum Vorschein.
Welche Schwierigkeiten auch Fünfjährige noch mit der Einordnung ihres Denkens und Fühlens haben, zeigt folgendes Beispiel: Ein fünfjähriges Mädchen nach einem Wettlauf mit seinem dreijährigen Bruder: „Mama, gell, es ist egal, wer Erster ist. Hauptsache ich bin’s!“ Die von der Mutter gesetzte Regel ist kurz präsent, wird jedoch vom übermächtigen Bedürfnis, als Gewinnerin im Mittelpunkt zu stehen, überlagert. Den Widerspruch in dieser Aussage erkennt das Kind nicht, denn das eigene Denken kann noch nicht reflektiert werden.
Mit diesem Sich-bewusst-in-den-Mittelpunkt-stellen fordern die Fünfjährigen die Anerkennung durch andere, um sich selbst immer besser einschätzen zu können. Das Selbstbewusstsein rückt damit ins Zentrum seines Denkens, was sich auch an einer verstärkten Ichbezogenheit der Fünfjährigen festmachen lässt. Das Kind will über die anderen bestimmen, beschimpft die Erwachsenen, wenn es sich nicht verstanden fühlt, ohne sein Fehlverhalten zu bedenken. Die Selbstständigkeit wird jetzt überbetont, das Kind fordert selbstständiges Handeln bei den Erwachsenen argumentativ ein. Dieses Verhalten - zusammen mit der parallel im freien Spiel mit Freunden trainierte Selbstständigkeit durch das Erleben von Widerständen, Angst-Lust-Erfahrungen und Grenzüberschreitungen - führt zu einer vollständigen Umorganisation des kognitiven und affektiven Gleichgewichts. Mit dem danach entstehenden neuen Gleichgewicht erreicht das Kind im Laufe des sechsten Lebensjahres die Schulreife.
Die vielfältigen Erfahrungen über sich selbst führen beim sechsjährigen Kind dazu, sich nun von außen zu betrachten. Es sieht sich zum ersten Mal mit den Blicken der anderen. Damit einher geht die gezielte Aufmerksamkeit für die Gedanken und Gefühle der anderen, die das Kind nun beim eigenen Denken und Handeln berücksichtigen kann. Die Meinung der anderen über sich selbst wird wichtig. Das führt zu einem starken Schub in der Selbstständigkeitsentwicklung, denn das Kind will zeigen, was es kann und damit einen guten Eindruck machen. Es betrachtet sich zunehmend kritisch. Das Kind denkt zum ersten Mal zusammenhängend über sich nach und überprüft seine Fähigkeiten (Körperbeherrschung, soziales und kognitives Wissen, Gefühlsregulierung). Dieser anfangs noch etwas diffuse Eindruck von sich selbst als Person mit bestimmten Eigenschaften ist der erste Schritt zum konstanten Selbstbewusstsein. Das Bewusstsein über die eigene Selbstständigkeit ist jetzt ständig präsent.
Je nachdem, welche Ergebnisse diese ersten Selbstbetrachtungen haben, zeigt das Kind gute oder schlechte Laune, ist überempfindlich oder überschätzt sich selbst.
Dieser ganze Reifungs- und Bewusstwerdungsprozess gelingt nur, wenn das Kind die Zeit und die Ruhe hat, die immer wieder auftretenden plötzlichen Einsichten über sich selbst wahrnehmen zu könnnen. Bis ins siebte Lebensjahr hinein können die Kinder über ihre Gedanken und Gefühle kaum reden, da sie immer noch damit beschäftigt sind, diese für sich selbst zu sortieren. Es ist wenig hilfreich, die Kinder anzuhalten, ihre Gedanken und Gefühle zu kommunizieren. Das stört das Verstehen der Erkenntnisse über sich selbst. Im Konfliktfall ist es erst den Sechsjährigen nach und nach möglich, ihre Gedanken und Gefühle zu benennen, wenn sie sich sicher fühlen. Von sich aus erzählen die Kinder in dieser Zeit eher wenig, weil das Bedürfniss dafür noch nicht vorhanden ist, solange sie noch an ihrem Selbstbewusstsein basteln. Hier gibt es Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen. Die meisten Jungen erreichen den Punkt des konstanten Selbstbewusstseins später als die meisten Mädchen; diese sind i.d.R. auch früher selbstständig.
Mit der Schulreife hat das sechs- bis siebenjährige Kind das erste Niveau der Selbstständigkeit erreicht. Es löst sich in einem ersten bewussten Schritt aus der Abhängigkeit von den Eltern und konzentriert sich auf seine Lehrer/innen als neue Bezugspersonen und seine Rolle als Schüler/in und Klassenkamerad/in.
Ab jetzt ist das Kind bemüht, selbstständiges Handeln in dem Maße zu zeigen, wie es den Überblick über seinen Lebensraum gewinnt. Dazu braucht es Eltern, die Zeit und Geduld aufbringen und dem Kind vertrauen, dass es seine Selbstständigkeit selbst erreichen kann.
Tabelle: Entwicklungsverlauf und Aspekte des Selbst
Abweichender Entwicklungsverlauf der Selbstständigkeit bei eher ängstlich veranlagten, besonders sensiblen Kindern
Der natürliche Drang nach Selbstständigkeit ist bei diesen Kindern zu Beginn nur im häuslichen Bereich spürbar. Im außerhäuslichen Bereich kommt er in den ersten Jahren nicht zum Vorschein, weil die temperamentbedingten starken Trennungs- und Verlassenheitsängste, Ängste vor Fremden und neuen Situationen diesen Drang überdecken.
Auf der Grundlage einer sicheren Bindung entwickeln sich die Kinder insgesamt schneller als Gleichaltrige ohne dieses Temperamentmerkmal. Sie sprechen früher, halten sich früher an Regeln und Vorgaben, sind jedoch sehr auf die Eltern bezogen. Sie klammern von Beginn an mehr an der Mutter und brauchen länger ihre Aufmerksamkeit. Sie kämpfen bis ins dritte oder vierte Lebensjahr hinein mit Trennungs- und Verlassenheitsängsten. Da sie auch eine höhere Reizwahrnehmung haben, sind sie durch außerhäusliche Kontakte schnell erschöpft. Für diese sensiblen, ängstlichen Kinder ist eine außerhäusliche Betreuung vor dem 3. Geburtstag mit Risiken verbunden. Nach Strüber (2016, S. 65) haben die Kinder eine bestimmte Gen-Variante (7R), die sie empfindlich auf ihre Umwelt reagieren lässt. Davon sind 10 – 15 % eines Jahrgangs besonders stark betroffen. Für die Entwicklung einer stabilen Selbstständigkeit benötigen sie in den ersten drei bis vier Jahren den Schutz der Eltern, um sich dann entsprechend ihrer Sicherheitsgefühle an andere Betreuungspersonen zu gewöhnen. Erst wenn sie sich in der außerhäuslichen Betreuung wohl fühlen, kommt ihr Selbstständigkeitsstreben zum Vorschein. Im positiven Fall sind sie dann in dem Alter, wo die Selbstständigkeitsgefühle bewusst werden, so dass sie motiviert sind, sich selbstständig zu zeigen. Häufig suchen sie eine enge Beziehung zu einer Betreuungsperson oder zu einem anderen Kind, auf deren Anwesenheit sie für ihr Wohlgefühl angewiesen sind. Sie haben eine hohe soziale Kompetenz und vertragen Streit nicht gut, so dass sie bei Konflikten schnell vermitteln. Bei diesen Aktionen spüren sie ihre Selbstständigkeit. Sie ‚petzen‘ schneller, weil das Einhalten der Regeln durch die anderen für sie wichtig ist. Das sind unbewusste Maßnahmen, um das eigene Sicherheitsgefühl zu verbessern. Durch ihre hohe Anpassungsbereitschaft beklagen sie sich in Fremdensituationen nicht, wenn etwas zu viel für sie ist. Zu Hause beklagen sie sich jedoch sehr schnell und weinen in solchen Fällen. Wutanfälle bekommen sie nur, wenn sie dauerhaft überfordert sind oder wenn ihnen etwas nicht gelingt.
Um die Selbstständigkeit in außerhäuslichen Situationen dieser Kinder zu fördern, brauchen sie ungefähr ab dem vierten Geburtstag das gute Zureden der Eltern, besonders der Väter, wenn sie sich nicht in neue Situationen trauen. Sie sollten nicht gedrängt oder für ihr Verhalten kritisiert werden, weil das schnell zum Rückzug führt. Hilfreich während der ganzen Kindheit ist das vorherige Beschreiben von neuen Situationen durch Eltern oder Geschwister. Ebenso hilft das Zutrauen zu formulieren, dass das Kind es schaffen kann. Das reduziert die Ängste des Kindes und fördert sein Selbstvertrauen. Dabei spielt auch der Umgang, besonders der Mütter mit den Ängsten des Kindes eine wichtige Rolle. Die Gefühlsansteckung dieser Kinder ist sehr stark ausgeprägt, so dass sie die Ängste und Sorgen der Eltern ungefiltert wahrnehmen. Wenn es gelingt, die Ängste der Kinder aufzufangen, ihnen diese nicht auszureden und gleichzeitig Vertrauen in die noch kommenden Fähigkeiten zu zeigen, wird sich die Selbstständigkeit entwickeln.
Bei Berücksichtigung der beschriebenen Besonderheiten durch die Bezugspersonen zeigen auch solche Kinder zu Schulbeginn altersangemessene Selbstständigkeit und die Ängste nehmen ab.
Innere und äußere Selbstständigkeit in der Entwicklung des Kindes
Innere Selbstständigkeit ist das, was das einzelne Kind als Selbstständigkeit empfindet; äußere Selbstständigkeit das, was Eltern und andere als selbstständiges Handeln beim Kind ansehen. Die Verbindung beider Aspekte, entsprechend den Entwicklungsbedürfnissen des Kindes, führt am Ende der Kindheit zur einer Selbstständigkeit, die das ganze weitere Leben bereichert.
Die Sicht der Eltern nimmt Einfluss auf die Erwartungen an das Kind, denn sie suchen naturgemäß Entlastung durch dessen selbstständiges Handeln und vergleichen ihre Kinder mit denen anderer Eltern. Hierbei ist es wichtig, diese Erwartungen an den jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes anzupassen, damit innere und äußere Selbstständigkeit zusammenwirken können und eine stabile Persönlichkeitsentwicklung möglich ist. Wenn das kleine Kind in die Phase des Alles-allein-machens kommt, ist das oben beschriebene Vorgehen angemessen. Die ersten Konflikte im Hinblick auf innere und äußere Selbstständigkeit kommen zwischen drei und vier Jahren auf, wenn sich die Kinder nicht allein anziehen wollen, obwohl sie es können. Ihre Selbstständigkeit ist ihnen noch nicht bewusst und sie sind noch nicht einsichtsfähig, so dass keine Motivation vorhanden ist, sich selbst anzuziehen. Hinzu kommt i.d.R. Hektik und Zeitdruck durch die Eltern, was automatisch zum Rückzug der Kinder führt. Hier würde es nicht nutzen, die Kinder mit Druck, Überredung oder Belohnungsversprechen zum Anziehen zu bewegen. Das Anziehen durch die Eltern ist angemessen und behindert nicht die Selbstständigkeitsentwicklung. Vermeintlich im Widerspruch dazu steht das Verhalten der Kinder im Kindergarten; denn hier ziehen sich die meisten an und aus und das fördert in diesem Alter auch die Selbstständigkeit. Die Ursache für den Unterschied liegt in einer typisch menschlichen Verhaltensweise, nämlich die natürliche Anpassungsleistung in fremden Situationen. Wenn wir uns nicht zu Hause fühlen, bemühen wir uns um angemessenes Verhalten. Dies ist bei kleinen Kindern sehr stark ausgeprägt, besonders wenn sie die Geborgenheit durch die Eltern vermissen. Je jünger sie sind, desto eher halten sie sich dann an Vorgaben, weil diese ihnen Halt bieten.
Bei Kindern unter drei Jahren führt das jedoch nicht zur Beschleunigung der Selbstständigkeits-Entwicklung. Hier wirkt ausschließlich der äußere Aspekt der Selbstständigkeit. Sind die unter Dreijährigen über lange Zeiträume dem Druck zur äußeren Selbstständigkeit ausgesetzt, kann sich die innere Selbstständigkeit nicht entwickeln. Die von außen bestimmten Vorgaben erreichen nicht den inneren Bezug zu den Leistungen des Kindes, weil es im zweiten Lebensjahr noch kein und im dritten kein stabiles Selbsterkennen hat, das Voraussetzung für einen solchen Bezug ist. Eine verfrühte, weil nur äußere „Selbstständigkeit“ kann den Zugang zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen schwächen. Dieses Problem verstärkt sich, wenn auch in den folgenden Jahren die äußere Selbstständigkeit durch ständige Vorgaben von außen überbetont wird. Die Verbindung zwischen innerer und äußerer Selbstständigkeit kann nicht gelingen, denn das Kind wird abhängig von äußerer Bestätigung.
Für Eltern bedeutet dies, bei den Erwartungen im Hinblick auf die Selbstständigkeit ihrer Kinder zu Hause die Zügel locker zu lassen. Am Beispiel der Krippenkinder lässt sich das zeigen: Im zweiten Lebensjahr sind die Kinder noch in der Phase der Nachahmung, so dass sie die Handlungen der anderen Kinder nachahmen. Zusammen mit der hohen Anpassungsfähigkeit in unsicheren Situationen richten sie sich strikt nach den Vorgaben der Erwachsenen in der Krippe (Tisch decken, selbst essen, Tisch abräumen, An- und ausziehen, Hände waschen). Hohe Anpassungsleistungen führen zu hoher Anspannung. Ebenso können die Ansprüche der Erzieherinnen auf selbstständiges Handeln und Entscheidungen-treffen im Spielbereich zur Anspannung führen, wenn dies den aktuellen Bedürfnissen des Kindes widerspricht.
Wenn diese Kinder dann zu Hause sind, verweigern viele das, was sie in der Krippe klaglos tun. Sie sind dann altersangemessen total auf die Bedürfnisbefriedigung durch die Eltern fixiert. Diesem Wunsch nachzukommen beinhaltet die Chance, einen Ausgleich zu schaffen, um die Grundlagen für die innere Sicherheit und Selbstständigkeit nachzuholen. Eine solche Bedürfnisbefriedigung festigt die Bindung zu den Eltern, die im zweiten und dritten Lebensjahr vorrangiges Entwicklungsthema ist. Selbstständiges Handeln sollte demzufolge in solchen Situationen nicht von den Kindern gefordert, sondern darauf vertraut werden, dass der innere Drang zur Selbstständigkeit wieder zum Vorschein kommt.
Die Vermittlung zwischen Außen und Innenaspekt bleibt über die gesamte Kindheit hinweg für die Selbstständigkeitsentwicklung wichtig. Gelingt es den Eltern, die entwicklungsbedingten Fähigkeiten des Kindes zur Selbstständigkeit im Blick zu behalten, fördern sie dessen Selbstständigkeit.
Literatur
- Asendorpf, J. (1995). Die Entwicklung sozialer Kompetenzen, Motive und Verhaltensweisen. In: Weinert, F.E. (Hrsg.). Entwicklung im Kindesalter. Weinheim: Beltz.
- Butzmann, E. (2020). Sozial-kognitive Entwicklung und Erziehung. Impulse für Psychologie, Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik. Gießen: Psychosozial-Verlag.
- Leu, H.R. (1995). Selbstständige Kinder. In: Honig, M.S. (Hg). Kinder und Kindheit. Weinheim: Juventa.
- Piaget, J. (1981). Urteil und Denkprozess des Kindes. Frankfurt: Ullstein.
- Roth, G (2001). Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt: Suhrkamp.
- Strüber, N. (2016). Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen. Stuttgart: Klett-Cotta.
Weiterere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch
Autorin
Erika Butzmann, Dr. phil. paed. M.A., ist seit 30 Jahren als Dozentin und Seminarleiterin in der Eltern- und Familienbildung und der Weiterbildung von Erzieherinnen tätig. Sie lehrte an einer Universität und führt Elternberatungen in einer großen Kinderarztpraxis durch.
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eingestellt am 01.09.2021