“Starke” Persönlichkeiten bilden

Dr. Hermann Liebenow
Liebenow

Niemand kann sicher voraussagen, wie ein heutiges Kind sein Erwachsenenleben gestalten und bewältigen wird. Aber wir kennen die häufigsten Entwicklungsrisiken und wir wissen, was die ‚Krisenstärke’ junger Persönlichkeiten ‚ausbildet’.

Risiko-Faktoren

Die Liste psychosozialer Entwicklungsrisiken ist lang:

frühkindliche (Geburts-) Komplikationen

jüngeres Geschwister vor dem 2. Lebensjahr

geringes Alter bei hoch belastenden Ereignissen

Besonderheiten (ADS/H, Lernbehinderung,…)

andauernde Disharmonie in der Familie

sehr strittige Scheidung der Eltern

mangelhafte Beaufsichtigung

abwertender Erziehungsstil

Gewalt in der Familie

Sex. Missbrauch

Vernachlässigung

mehrere Umzüge

andauernde Armut

besonderer Schuleintritt

landessprachliche Defizite

stete Über- oder Unterforderung

Kriminalität einer Bezugsperson

psychisch instabile Bezugsperson

negatives sozio-kulturelles Milieu (Straße)

Kontakte mit Instanzen der sozialen Kontrolle

Häufig wirken mehrere Risikofaktoren zusammen, und das vervielfacht die Problemanfälligkeit, – so daß allein schon deshalb vorbeugende Beratungshilfe angezeigt ist. Zudem zeigt die Forschung, daß junge Persönlichkeiten für die Meidung von Risiken und die Bewältigung von Belastungen ‚gestärkt’ werden können. Fachleute nennen das die Förderung von ‚Resilienz’ (Standhaftigkeit).

Persönlichkeits-Bildung

‚Persönlichkeit’ erweist sich in der Art und Weise, wie jemand in seiner Umwelt mit seinen Anlagen, Erfahrungen und Kompetenzen, also mit sich selbst, umgeht. Der Artikel beschreibt fünf Entwicklungslinien, auch bei Risiken und Belastungen ‚gut mit sich selbst umgehen’ zu können:

  • achtsame Beziehungen begründen realistische Identität
  • sprachliches Lernen bildet vernünftiges Selbst- und Weltverständnis 
  • vielfältige AnfÖrderungen befähigen kompetente Selbstverwirklichung
  • angemessene Konsequenzen kultivieren moralische Willenskraft
  • verlässliche Unterstützungen motivieren frühzeitige Selbsthilfe.

Resilienz-Förderung ist also offenbar eine pointierte Persönlichkeits-Bildung.

Achtsame Beziehungen begründen realistische Identität

Resiliente Menschen wissen, wer sie sind und was sie können.

Babys brauchen eine mütterliche Bindungsperson mit beständig liebevoller Fürsorge. Doch bald schon erweitern mehrere Bezugspersonen das Erfahrungs- und Rollenspektrum des Kindes, und zunehmend fließen deutliche Rückmeldungen auch von anderen Kindern in das Selbstbild des Kindes ein. Wo vermitteln die Eltern Selbstvertrauen oder Zweifel? Erwarten die Freunde das Kind, oder muss es sich den Spielkameraden aufdrängen? Spürt ein Schulkind das Zutrauen der Lehrer, oder läuft es nebenher? Findet ein(e) Jugendliche(r) nur Anerkennung für skurrile Frisuren oder auch für sein schräges Musizieren?

Je vielfältiger man sich auf Andere und Themen bezieht, so daß mehr Personen Rückmeldungen geben, desto realistischer wird man sich und die Umwelt sehen, – und das macht resilienter.

Sprachliches Lernen bildet vernünftiges Selbst- und Weltverständnis

Resiliente Menschen kommunizieren und nutzen vorhandenes Wissen.

Mamas Singsang besänftigt das Baby, Papas Abendgeschichten machen wieder Mut, Schulbücher erklären die Welt, Gespräche lösen Konflikte, das Tagebuch hilft bei der Beziehungsklärung, Diskussionen ergründen neue Möglichkeiten, Gesetze regeln die Zivilisation. Die Sprache ‚konstruiert’ unsere Weltsicht und ‚Vorsätze’ steuern unser Verhalten.

Natürlich kann man nicht alles im Voraus erkennen, wissen, gut entscheiden. Aber man kann auf den vermutlich besseren Effekt hin planen. Wer dafür sprachlich ‚fit’ ist, kommt mit der Welt und sich vernünftiger zurecht, – und das schützt vor manchen Belastungen.

Vielfältige AnfÖrderungen befähigen kompetente Selbstverwirklichung

Resiliente Menschen wollen lernen und Kompetenzen erlangen.

Stündlich bildet das kindliche Hirn mehrere Millionen (!) neue Verbindungen aus. Die Art und Weise unserer AnfÖrderungen prägt, welche Verbindungsmuster entstehen. Und gute Gefühle dabei, Freude und Stolz, motivieren zum Weiterlernen.

Aber nicht jeder Mensch kann in allen Bereichen gut werden, Freude empfinden, stolz werden. Doch je älter man wird, desto eher kann man eine Schwäche hier mit einem ‚stolzen Aber’ von anderswo ausgleichen: „Ich bin nicht so gut in Ballspielen, aber ich bin super in Heimat- und Sachkunde!“.

Pädagogisch folgt daraus, daß jedes ältere Kind in mindestens einem Stolz-Bereich richtig kompetent sein muß!

Aber da wir nicht wissen, in welchem Bereich ein junger Mensch schließlich ‚anbeißt’, müssen wir vielfältig anfordern und anfördern. Oft fordert und fördert die Schule ausreichend; – aber die allermeisten Erfolgreichen und Resilienten erfuhren auch wesentliche AnfÖrderungen außerhalb ihrer Schulen! „Wer mit zwei Hobbys in die Pubertät geht, kommt mit zumindest einem weiter“.

Die Glückskarten zieht schließlich, wer mit der Ausbildung seine ‚Beruf-ung’ findet, wer sich auf liebende Partner ‚be-ziehen’ kann, wer besondere Neigungen in Hobbys ‚um-setzt’, – all das stärkt auch die Widerstandskräfte der Persönlichkeit.

Angemessene Konsequenzen kultivieren moralische Willenskraft

Resiliente Menschen haben klare Werte und halten sich daran.

Es geht nicht um Konsequenz, damit z.B. Eltern ihre Ruhe haben, sondern um die konsequente Ausbildung moralischer Willenskraft. Denn resiliente Menschen können über ihre Probleme und gesellschaftliche Werte ‚nach-denken’, vernünftige ‚Vor-Sätze’ ableiten, und sich demgemäß moralisch verhalten.

Anders gesagt: Unstimmige Problemanalysen oder unpassende Vorsätze von Jugendlichen kann man relativ leicht beraterisch überdenken, aber mangelhafte Willenskraft bei der Umsetzung oder mangelhafte Steuerung des Temperaments bedürfen mühsamer ‚Therapie’ oder ‚Nachsozialisation’.

Kinder entwickeln die Fähigkeiten zur Selbststeuerung in einer ziemlich plausiblen Entwicklungsfolge, die ich in einem gesonderten Artikel dieses Handbuchs unter dem Suchstichwort ‚Konsequenz’ ausführlicher beschrieben habe. Kurz gefaßt: Angemessene Konsequenzen machen wahrscheinlicher, daß ein Kind sich bemüht, zunächst einfache Weisungen zu befolgen, dann Hinweise mit konsequenten Lob und Tadel, später auch Regeln mit reellem Lohn und praktischer Strafe. Mit diesen Fähigkeiten können junge Leute dann zunehmend eigene Überlegungen und sogar moralische Werte willenskräftig beherzigen, – das verhindert manchen Reinfall und hilft aus manchem Loch heraus.

Verlässliche Unterstützungen motivieren frühzeitige Selbsthilfe

Resiliente Menschen lassen sich frühzeitig kompetent helfen.

Risiken und Krisen sind unvermeidlich, Hilfe oft unvermeidlich. Dafür muß man allerdings auch bereit sein. Und auch hierzu gibt es eine plausible Erfahrungslinie: Vom kleinkindlichen liebevoll-versorgt-werden über die regulären Vorsorgeuntersuchungen, den absolut verlässlichen Trost in der Familie, erfolgreiche Fördertrainings bei Teilleistungsschwächen und heilsame Krankenbehandlungen, bis zu den geduldigen Unterstützungen bei jugendlichen Krisen.

Später muß man kompetente Hilfen selber suchen, finden und anwenden. Und das üben Kinder, indem sie angemessen an ihren frühen Hilfen und an Hilfen im Umfeld beteiligt werden. Kompetente Fachhilfe und zuversichtliche Selbsthilfe sollten einander ergänzen, – Krisenbewältigung jedenfalls braucht Beides.

Fazit

Gute Persönlichkeits-Bildung stärkt die Resilienz.

Einerseits bedrängen viele Risikofaktoren. Andererseits kann die Krisenstärke heranwachsender Persönlichkeiten aufmerksam ausgebildet werden. Dafür sind alterstypische Entwicklungsschritte und Fördermöglichkeiten bekannt. Vorträge und Kurse an Volkshochschulen und Familienbildungsstätten erläutern Genaueres.

Aber was genau für ein bestimmtes Kind angezeigt wäre, bedarf kompetenter Beratung. Die örtlichen Kinderärzte, KiTas und Schulen kennen die Adressen der jeweils nächsten Erziehungsberatungsstellen (siehe hier).

Literatur

Es gibt viel neue Literatur zum Thema, insbesondere unter den Stichworten ‘Resilienz’ und ‘Stärke’. Die Ansätze variieren jedoch etwas, so daß der vorstehende Artikel übergreifend darlegt und ich keinen Titel hervorheben.

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Dr. Hermann Liebenow, geb. 1951, Dipl. Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Fachautor. Seit 1980 Leitung der kommunalen Erziehungsberatungsstelle in Münsingen.Vorträge und Weiteres unter www.familienschule.de; E-Mail: liebenow@familienschule.de

Kontakt

Dr. Hermann Liebenow
Im Spitzbubenhäule 33
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Erstellt am 11. November 2011, zuletzt geändert am 13. Februar 2012