Mein Körper, das bin ich: Über eine körperfreundliche Erziehung
Helga Gürtler
Kinder haben von klein auf grundsätzlich ein sehr entspanntes und zugewandtes Körperbewusstsein. Falsche Erziehungsansätze, die Umwelt, Freunde, aber auch die Medien können dieses allerdings arg erschüttern und Kinder und Jugendliche nachhaltig verunsichern. So sind mittlerweile Essstörungen in der Pubertät leider keine Einzelfälle mehr. Der Artikel regt Eltern und Fachkräfte zum Nach- und Umdenken an und unterstützt mit Anregungen und Tipps die Entwicklung einer gesunden Körperwahrnehmung.
Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper
Viele Menschen haben heute ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper. Sie schämen sich seiner – weil er ihnen zu dick, zu dünn, zu unproportioniert oder zu faltig erscheint, weil er schlecht aussieht oder schlecht riecht. Sie bekämpfen ihn mit Diäten und Deodorants, mit Korsetts und Kosmetik.
Immer mehr Mädchen, zunehmend auch Jungen, werden in der Pubertät magersüchtig oder ess-brechsüchtig. Noch sehr viel mehr – Jungen wie Mädchen – sind mit ihrem äußeren Erscheinungsbild unzufrieden. Sie grämen sich über zu dünne Beine, zu dicken Popo, zu wenig Busen oder zu wenig Muskeln. Sie nehmen allerlei gesundheitliche Nachteile in Kauf, um das zu ändern. Sie betrachten ihren Körper als Feind, den man bekämpfen und kasteien, oder als Material, das man nach bestimmten Normen verändern und formen muss. Sie können sich nicht wohl fühlen in ihrem Körper, so wie er ist, weil sie einem Schönheitsideal nachlaufen, das von Mode und Werbung propagiert wird.
Aber mein Körper, das bin doch auch ich
Die rundlichen Formen und stämmigen Beine sind ein Teil meiner Identität ebenso wie mein Temperament oder meine Sensibilität. Wer sich selbst wirklich mag, der mag auch seinen Körper, so wie er ist. Der verliert sein Selbstwertgefühl nicht, wenn er Falten kriegt, der gerät auch nicht gleich in Panik, wenn er mal nicht nach Deo und Eau de Cologne, sondern nach sich selbst riecht.
Sich wohl fühlen im eigenen Körper ist eine der Voraussetzungen für ein solides Selbstwertgefühl. Wenn ich einen Teil meiner selbst nicht ausstehen kann, unbedingt verändern will, kann ich auch mich selbst als Ganzes nicht so akzeptieren, wie ich bin.
Wie muss eine Erziehung aussehen, die Kindern eine größere Chance gibt, sich in ihrem Körper wirklich zu Hause zu fühlen?
Sich selbst fühlen
Zugang zu unserem Körper finden wir durch unsere Sinne – dadurch dass wir sehen, hören, riechen, tasten, empfinden. Diese Sinne sind Funktionen des Körpers, mit diesen Sinnen können wir den Körper auch wahrnehmen, erforschen und kennen lernen.
Im Leben der meisten Erwachsenen werden die Sinne recht unterschiedlich gewichtet. Sehen können wir alle recht gut – und wenn nicht, tragen wir eine Sehhilfe. Das Gehör strapazieren wir oft so, dass es feine Geräusche – das Singen von Regentropfen auf einem See, das feine Zirpen eines Insekts, die Eigenheiten von Vogelstimmen – gar nicht mehr wahrnimmt. Erst Blinde müssen uns lehren, was tastende Finger alles wahrnehmen können. Empfindungen auf unserer Haut, Signale aus dem Körperinnern können wir oft nicht richtig deuten. Was kullert oder pocht, was zieht, drückt, oder schmerzt da? Was geht da innen vor?
Ein Kind, das sich in seinem Körper wohl fühlen soll, braucht Nahrung für alle seine Sinne, es soll sich darin bestätigt fühlen, auf alle seine Sinneswahrnehmungen zu achten, auch die Gefühle, die sie auslösen – angenehme und unangenehme, lustvolle und widerliche oder schmerzhafte zu beachten und zu berücksichtigen. Dann wird ihm sein Körper weniger fremd bleiben.
Dem Körper vertrauen
In der Erziehung wird der Körper des Kindes oft recht freudlos behandelt. Körperpflege fällt vielen als erstes ein – waschen, Zähne putzen, eincremen, vor Verletzungen und Krankheiten schützen – ein eher sachlicher, nüchterner Umgang, oft gegen den kindlichen Willen.
Aber liebevoll anschauen, streicheln und liebkosen, hat auch das Raum genug? Erfreuen wir uns am Duft der kindlichen Haut, fahren wir die zarten Rundungen seines Körpers mit sanften Fingern nach? Bestaunen wir die Geschicklichkeit der Hände und Füße, aber auch die Erektion des kleinen Jungen oder den großen Haufen, den das Kind ins Töpfchen gemacht hat? Lernt das Kind seinen Körper mit allen Teilen und Funktionen als etwas Bewundernswertes kennen, wird es angeregt, seiner Empfindungsfähigkeit lustvoll nachzuspüren?
Kinder haben sehr früh schon ein feines Gespür dafür, was ihr Körper jetzt braucht, was ihm gut tut. Wir können sie dabei unterstützen, diese Fähigkeit zu festigen und sich nach ihr zu richten. Stattdessen glauben wir oft besser als das Kind zu wissen, was es empfindet und braucht. Wir bestimmen, wann das Kind friert und etwas überziehen muss, wann es auf den Topf muss, was und wie viel es essen muss, damit sein Körper gesund bleibt.
Warum fragen wir stattdessen nicht: Ist dir kalt? Musst du mal auf den Topf? Was möchtest du essen? Wir vertrauen zu wenig auf die Fähigkeit des Kindes, das selbst zu spüren. Deshalb behindern wir es darin, es auch bewusst wahrzunehmen und zu äußern. Warum tun wir das? Weil wir es selbst so kennen gelernt haben?
Vielleicht müssen wir, wie so oft, bei uns selbst beginnen
Wie gehen wir eigentlich selbst mit unserem Körper um? Möchten wir ihn am liebsten verstecken oder mögen wir ihn, wie er ist? Jammern wir ständig über den Rettungsring um die Taille oder die Cellulitis an den Oberschenkeln? Wohnen wir mit Lust in unserem Körper, und zeigen wir das auch?
Es ist schwer, eine solche Einstellung zu vermitteln, wenn man sie für sich selbst nicht hat.
In einem meiner Seminare redeten wir über Urlaubsträume. Ein Mann, der von Berufs wegen tagtäglich in Schlips und Anzug umhergehen muss, meinte: “Ich möchte drei Wochen lang mit Fahrrad und Zelt durch die Gegend ziehen, die ganze Zeit das gleiche Paar Jeans tragen und leise vor mich hinstinken” . Einige schlossen sich sofort an, wollten gern mitfahren. Andere wiederum konnten sich nicht vorstellen, sich ohne Badezimmer im Hotel, ohne einen frischen Pulli für jeden Tag wohl fühlen zu können.
Und wie sehen Sie das?
Wenn Sie in Sachen Reinlichkeit und Körperhygiene ungewöhnlich pingelig sind – unnachsichtig hinter jeder Bakterie her, immerzu Hände waschen, viel Deo gegen jede Art von animalischem Geruch – lohnen sich selbstkritische Fragen:
- Hat das was mit meiner Einstellung zu Sinneslust und Sexualität zu tun?
- Wie bin ich erzogen worden?
- Was bewirke ich, wenn ich diese Haltung an mein Kind weitergebe?
Kleine Kinder haben solche Probleme noch nicht
Ihre Sinnenlust ist noch ungebrochen, für “domestizierte” Erwachsene manchmal befremdlich. Kleine Kinder gieren nach sinnlichen Erfahrungen. Alles kosten, an allem riechen, alles anfassen, sich in der Blumenwiese wälzen oder sich unter zärtlichen Händen wohlig strecken – man sieht ihnen an, wie viel Lust sie dabei empfinden.
Kleine Kinder probieren aus, was ihr Körper alles hergibt. Kreischen, bis einem die Ohren klingen, sich drehen, bis die ganze Welt schwankt, rennen und toben, bis die Luft wegbleibt, das Herz rast und der Kopf puterrot wird. In solchen Situationen verausgabt sich das Kind, geht lautstark aus sich heraus, fühlt besonders intensiv sich selbst, und auch das gehört zum Selbstgefühl.
Vielleicht tröstet Sie das, wenn Ihre Kinder grad mal wieder schreiend den Flur auf und ab toben oder wieder und wieder vom Hochbett springen. Und denken Sie bei puterroten Köpfen und nass geschwitzten Haaren nicht immer nur an Erkältung!
Den eigenen Körper erforschen
Kinder erleben ihren Körper als aufregendes Erfahrungsfeld, das sie testen und erforschen. Sie untersuchen auch alle Glieder und Körperöffnungen mit neugierigen Fingern, pulen in Augen, Ohren, Nase bei sich und bei anderen. Die Geschlechtsteile nehmen sie bei ihren Erkundungen nicht aus – warum auch?
Kleine Kinder kennen keinen Ekel, wenn sie auch die eigenen Ausscheidungen untersuchen, kosten, sich damit beschmieren und sie über die Umgebung verteilen. Kaum ein Erwachsener wird das akzeptabel finden. Aber allzu heftig geäußerter Widerwillen oder gar Strafe müssen dem Kind suggerieren, dass ein Teil von ihm schmutzig, schlecht und unerwünscht ist. Die gleichen Folgen hat es, wenn jedes Erforschen der eigenen Ausscheidungs- und Geschlechtsorgane mit einem Tabu belegt wird, mit “Pfui” und “Das tut man nicht!”
Kinder haben noch lange eine hintergründige Freude an allem, was matscht und stinkt. Den Finger in den Po stecken und lustvoll gackernd daran riechen – haben Sie das nie gemacht? Mit Modder manschen oder sich gar darin wälzen, bis man aussieht wie ein Ferkel. Wissen Sie noch, wie lustvoll das sein kann? Wie sauwohl man sich da in seiner Haut fühlen kann?
Eine körperfreundliche Erziehung
Eine körperfreundliche Erziehung akzeptiert den Forscherdrang und die sinnlichen Gelüste der Kinder, auch wenn es sie nach und nach vorsichtig in zivilisiertere Bahnen lenkt.
Manschen kann man auch mit anderem Material als dem Inhalt der eigenen Windel, Nacktsein beschränkt man nach und nach auf Haus und Garten oder andere geschützte Räume.
Auch allerlei “Doktorspiele” gehören besser nicht vor die Augen der Öffentlichkeit. Da mag es Leute geben, die das stört, aber auch andere, die sich daran unzulässig verlustieren. So kann man Kindern das auch erklären. Nicht was sie tun, ist schlecht, sondern das, was andere vielleicht daraus machen.
Zu Hause aber darf man alles erforschen, alles fragen und sagen, was den Körper und seine Funktionen betrifft. Alle Körperteile haben Namen, nüchterne und auch zärtlich-verspielte für den Hausgebrauch.
Die Zone “da unten” ist weder besonders schmutzig noch sonst wie tabu. Man darf sie auch benutzen, um sich so ein wohlig kribbeliges Gefühl im Bauch zu verschaffen. Denn dass man das kann, entdecken die meisten Kinder in recht frühem Alter. Einige merken freilich, dass das etwas ist, was den Eltern bestimmt nicht recht wäre, deshalb verstecken sie es sorgfältig unter der Bettdecke.
Wenn Ihr Kind lustvoll mit seinem Geschlecht spielt, zeigt es, dass es sich in seinem Körper wohl fühlt und sich gesund entwickelt. Wenn es sich dabei nicht versteckt, zeigt es, dass es Vertrauen zu Ihnen hat.
Vielen Eltern wird es schwer fallen, mit solchen Äußerungen kindlicher Entdeckerlust und Sinnenfreude so unbefangen umzugehen, weil sie selbst anders erzogen, weil sie dafür gescholten oder gestraft wurden. Sie können es aber versuchen. Wenn sie dem Kind statt “das tut man nicht” , “das darf man nicht” erklären, “mir ist das unangenehm, weil ich als Kind dafür bestraft wurde” , ist schon einiges gewonnen.
Mein Körper gehört mir
Wenn Kinder darin bestätigt werden, auf ihre eigenen Empfindungen zu achten und sich nach ihnen zu richten, werden sie auch unbefangen anzeigen, welche Berührungen durch andere ihnen angenehm sind und welche nicht. Und sie sollen wissen: Ich darf alles mit meinem Körper machen, andere dürfen das nicht ohne meine Erlaubnis. Tante Mine darf mich nicht einfach greifen und abküssen, ich brauche auch niemandem die Hand zu geben, wenn ich nicht mag.
Das wird manchem unhöflich erscheinen. Aber ein Kind, das gewöhnt ist, solches Ansinnen ablehnen zu dürfen, wird sich auch leichter selbstbewusst wehren, wenn ihm einer unzulässig an die Wäsche will.
Erwachsene, die dem Kind notwendigerweise “an die Wäsche” wollen, der Arzt zum Beispiel oder die Erzieherin – sollten ihm das ankündigen und klar begründen: “Ich muss jetzt deinen Bauch untersuchen” oder “Komm, ich will dir mal die Windel wechseln.”
Beim Arzt muss so manches auch gegen den Willen des Kindes stattfinden, aber das wird immer ausdrücklich von Vater oder Mutter legitimiert und dem Kind hoffentlich auch erklärt. Aber was macht zum Beispiel eine Erzieherin, wenn ein Kind das Windelwechseln ablehnt?
Ein kritisches Nachdenken ist diese Situation immerhin wert. Es werden nicht alle zum gleichen Ergebnis kommen.
Manche Kinder, die, so lange sie klein waren, unbefangen nackt durch die Wohnung sprangen, fangen irgendwann an, die Badezimmertür abzuschließen, wollen niemanden mehr an sich heranlassen. Das ist ihr Recht, auch wenn die Eltern, die selbst vielleicht keine Scheu vor dem Nacktsein haben, den Grund nicht verstehen. Zur Achtung vor der Persönlichkeit eines Kindes gehört auch die Achtung seiner körperlichen Autonomie.
Quelle
Helga Gürtler (2000): So wird mein Kind selbstbewusst, Midena Verlag, München
Literatur
Marcella Barth, Ursula Markus (1991): Zärtliche Eltern, gelebte Sexualerziehung durch Zärtlichkeit, Sinnesnahrung, Körpergefühl, Bewegung, verlag pro juventute, Zürich
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Autorin
Helga Gürtler ist Diplom-Psychologin. Sie schreibt Bücher und Zeitschriften-Artikel zu Erziehungsthemen, hält Vorträge, arbeitet mit Elterngruppen und in der Fortbildung von Erzieherinnen.
Kontakt
Helga Gürtler
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Erstellt am 2. Juli 2003, zuletzt geändert am 9. September 2013