Gesponnen oder gelogen?

Helga Gürtler
Hguertler

Kinder haben eine blühende Phantasie. Das kann Eltern gelegentlich irritieren. Wenn ein Vierjähriger, der wieder einmal zu spät vom Spielplatz heimkommt, erzählt, da wäre ein Raumschiff gelandet, und kleine Männchen wären ausgestiegen, hätten sich mit ihnen unterhalten, dann sind die Eltern wahrscheinlich alarmiert. So raffinierte Lügen schon in dem Alter? Was soll das erst werden, wenn der Junge älter wird?

Hat er denn wirklich gelogen?

Lügen heißt doch: Bewusst die Unwahrheit sagen um eines Vorteils willen. Dieser Junge aber berichtet im Grunde: Es war wieder so interessant auf dem Spielplatz, wir haben so phantasievoll gespielt, dass ich das Heimgehen darüber ganz vergessen habe. Und das ist sicher richtig!

Und die Sache mit dem Raumschiff? Er kann doch nicht glauben, dass das Realität ist! Wenn er genauer darüber nachdenkt, wohl nicht. Aber ganz sicher wird er nicht immer sein, wenn er wirklich Erlebtes von nur Vorgestelltem unterscheiden soll. Für Drei -, Vier -, Fünfjährige verschwimmen Realität und Phantasie noch leicht ineinander, auch wenn das Bewusstsein für “echt” und “nicht echt” langsam immer sicherer wird.

Ein Beispiel:

Die Mutter vermisst beim Abtrocknen ein Silberlöffelchen. Sie fragt ihre Vierjährige, ob sie es zum Spielen genommen habe – “nein” sagt die. Weil der Löffel aber nicht wieder auftaucht, dringt die Mutter weiter in sie: “Überleg doch mal. Hast du ihn vielleicht zum ‘Geburtstag’ – Spielen mit nach draußen genommen?”

Die Tochter grübelt bereitwillig. Und je länger sie überlegt, desto mehr kommt sie zu der Erkenntnis, doch, sie habe das Löffelchen mitgenommen, weil sie draußen im Buddelkasten einen Geburtstagstisch decken wollte. Also begeben sie sich gemeinsam zum Suchen in den Buddelkasten.

Inzwischen schaltet sich auch der dreijährige Bruder ein. Er hat den Löffel im Buddelkasten gesehen – da, in der Ecke war es. Alle graben gemeinsam, aber ohne Erfolg.

Am Abend stellt die Mutter fest, dass sie sich verzählt hatte. Alle sechs Löffel liegen wohlverwahrt im Schrank!

Die Kinder in diesem Beispiel haben sich das, was die Mutter ihnen als Möglichkeit schilderte, so lebhaft vorgestellt, dass sie es schließlich von der Realität nicht mehr unterscheiden konnten. Am verlässlichsten war noch die erste, schnelle Aussage der Vierjährigen, bevor die Mutter begonnen hatte, suggestive Fragen zu stellen.

In diesem Licht sind viele Aussagen jüngerer Kinder zu sehen, und es ist ungerecht, sie der Lüge zu verdächtigen, wenn sie sich immer mehr in Widersprüche verwickeln, je häufiger sie befragt werden.

Der Junge mit dem Raumschiff hatte es da schon leichter. Er weiß im Grunde, dass es fremde Raumschiffe, die auf Kinderspielplätzen landen, nicht gibt. In seiner Phantasie gibt es sie allerdings trotzdem! Aber muss man ihm nicht beizeiten die Grenzen zwischen Realität und Phantasie deutlich machen, damit er sich nicht in seiner Traumwelt verläuft, nicht den Sinn für die Realität verliert?

Grenzgänger zwischen Realität und Phantasie

Solche Phantasiegeschichten sind nur Extreme einer Grundhaltung, die es Kindern bis etwa zum Schulalter erlaubt, in lustvoller Grenzgängerei zwischen Illusion und Wirklichkeit spielerisch wahr werden zu lassen, was teils erfahren, teils umgedeutet oder erfunden wurde.

Der vierjährige Christoph schwingt sich auf sein Schaukelpferd und spielt “Motorrad”. Er dreht heftig an den Griffen hinter den Ohren, tritt in die Steigbügel und imitiert laut das Aufheulen des Motors. Er ist schon ein ganzes Weilchen gefahren, da stutzt er, steigt ab, geht um sein “Motorrad” herum, zieht schließlich mit einem empörten: “Ein Motorrad hat doch keinen Schwanz!” diesen Schwanz aus der Öffnung, in die er nur noch lose eingesteckt war. Dann schwingt er sich wieder auf und fährt geräuschvoll weiter.

An solche Kinderspiele sind wir gewöhnt: Dass da ein Bauklotz zum Hammer wird, mit dem man ein Stuhl-Auto repariert, dass das Kind aus leeren Tasssen Kaffee trinkt oder uns unsichtbares Geld in die Hand zählt. Wenn es aber eines Tages erklärt, es habe einen Spielgefährten, der es überall hin begleite, wenn es anfängt, mit diesem Gefährten zu reden, ihm die Tür aufzuhalten, ihm einen zusätzlichen Teller auf den Tisch zu stellen, kommen manchem Bedenken.

Die dreijährige Sofia hat eine neue Bekannte. “Meine Frau” nennt sie sie und erzählt seit einigen Tagen ständig von ihr. “Ich habe heute meine Frau besucht”, “meine Frau sagt, Kinder dürfen so viel Eis kaufen, wie sie wollen”,”meine Frau spielt immer mit mir”.

Die Eltern sind zunächst alarmiert. Zu wem geht das Kind, wen meint es? Wer ist die Frau? Da Befragen nichts Konkretes ergibt, beobachten sie Sofia unausgesetzt, während sie unten im Hof spielt. Eine Frau kriegen sie nicht zu sehen, wohl aber bemerken sie, dass das Kind manchmal für sich allein sitzt, anscheinend verträumt vor sich hin redet.

Nach und nach wird ihnen klar, dass diese “Frau” eine Traumfrau ist, eine, die es nicht in der Realität, aber in Sofias Phantasie gibt. Und da ist sie zur Zeit sehr lebendig, sehr aktiv, eine von Sofia sehr bestimmt und sehr genau beschriebene Persönlichkeit. Aber das erschreckt insbesondere die Mutter fast noch mehr. Ist sie so eine schlechte Mutter, dass ihr armes Kind sich eine andere, bessere herbeiphantasieren muss? Ist das Kind jetzt psychisch gestört, weil sie etwas falsch gemacht hat?

Aber Sofia wirkt nicht gestört. Sie ist meistens munter und fröhlich, beliebt bei Erwachsenen und Kindern, hat einen flinken Verstand und eine kreative Phantasie.
Sofia ist genau so wenig psychisch gestört wie viele andere Kinder auch, die ihre Welt zusätzlich mit erdachten Wesen bevölkern – mit idealen Elternfiguren, mit Spielgefährten oder Lieblingstieren.

Bei einer Untersuchung des Psychologen – Ehepaares Singer 1973 in den USA hatten mehr als die Hälfte der befragten drei- bis vierjährigen Kinder solche phantasierten Gefährten. Und was die beiden besonders herausstellten, das waren nicht etwa Kinder, mit denen etwas nicht in Ordnung war, denen etwas fehlte. Diese Kinder konnten sich besser konzentrieren, waren sprachgewandter, weniger aggressiv, eher freundlich und kooperativ, hatten seltener Langeweile, saßen viel seltener vor dem Fernsehschirm. Der Kinderanalytiker Dr. Nagera in den USA stellte fest, dass die von ihm betreuten Kinder mit Phantasiegefährten besonders intelligent waren.

Ob nun der Umgang mit diesen erdachten Gefährten Denk- und Sprachvermögen besonders schult, wie es die Singers annehmen, oder ob es gerade die Intelligenteren, Sprachgewandteren sind, die sich eher solche Gefährten ausdenken, bleibt zunächst offen. Jedenfalls sind diese Kinder in der Lage, sich ihre eigene Welt zu schaffen, mit deren Hilfe sie ihre geistigen Fähigkeiten trainieren, Ängste überwinden, Alltagsfrust verarbeiten, Wünsche oder Kritik in Bilder fassen, die sie auch anderen mitteilen können.

Phantasiegefährten helfen gegen Angst und Ohnmachtsgefühle

Manchmal dienen solche Phantasiegefährten der Abwehr und Verarbeitung von Ängsten. Da gesellt sich ein zaghafter Dreijähriger einen “lieben Löwen” zu, riesengroß und erschreckend für andere, ihm aber frisst er aus der Hand, gehorcht ihm, begleitet ihn überall hin und verteidigt ihn gegen alle Widersacher.

Freilich muss der Knirps ständig auf ihn aufpassen, damit er keinen Schaden anrichtet, gibt auch den anderen ständig Hinweise, wie sie sich verhalten müssen, um vor diesem Löwen sicher zu sein. In seiner Macht steht es, ob die anderen vor dem Löwen Angst haben müssen oder nicht. Damit hat er Macht über die Angst. Indem er anderen sagt, was sie gegen ihre Angst tun können, lernt er, mit seiner eigenen Angst umzugehen.

In alten Märchen finden wir oft die gleichen Motive wie in den Phantasien unserer Kinder. Dieses Motiv vom geheimnisvollen Wesen, das dem Machtlosen Macht verleiht, ihm gehorcht und ihn beschützt, finden wir auch wieder in den Märchen vom “Geist in der Flasche” oder von “Aladdins Wunderlampe”.

Wenn die “Frau” von Sofia in unserem Beispiel sagt, Kinder dürften so viel Eis kaufen, wie sie wollen, wenn eine andere Dreijährige erklärt, den Kuchen habe nicht sie, sondern ihr “Hansi” angeknabbert, mit dem sie dann in den Worten der Eltern zu schimpfen beginnt, dann nehmen Eltern leicht nur den “Trick”, die “faule Ausrede” wahr.

Die Kinder aber setzen sich in solchen Phantasien mit eigenen unterdrückten Wünschen und mit Einschränkungen durch die Erwachsenen auseinander. Weil das zunächst einfacher ist, üben sie das Für und Wider solcher Wünsche gewissermaßen mit verteilten Rollen. Sie schieben die unerfüllten Wünsche, die Verstöße gegen Verbote den Phantasiegefährten zu, identifizieren sich einmal mit den erdachten Figuren, einmal mit den einschränkenden Eltern. Ein Dramatiker, der die verschiedenen Aspekte eines Konfliktes verschiedenen Personen zuschreibt und diese in Aktion miteinander treten lässt, um das Problem deutlich zu machen, tut nichts anderes.

Die Mutter von Sofia empfindet sicher richtig, dass die “Frau” das hat, was die Tochter an ihr vermisst, nämlich viel Zeit zum Spielen. Aber Sofia hat einen Weg gefunden, diesen erlebten Mangel auszugleichen. Sie macht sich von der Mutter unabhängig – sie hat ja ihre “Frau”.

Hier freilich setzt bei manchem auch die Kritik an dieser sehr positiven Sicht der erdachten Gefährten ein. Es sei zwar eine gesunde Reaktion, so argumentieren sie, wenn ein Kind, das sich einsam fühle, sich selbst einen Spielgefährten erschaffe, aber deshalb sei es doch noch lange nicht gesund, einsam zu sein. Wenn also ein Kind in seinen Phantasiegeschichten und erdachten Gefährten etwas über seine geheimen Wünsche, Ängste und Kümmernisse mitteilt, muss das sicher auch als Appell an die Erwachsenen verstanden werden, seine Versuche, sich selbst zu helfen, durch Veränderung seiner Lebensbedingungen zu unterstützen.

Wie gehen nun wir Erwachsenen, wir “Vernünftigen”, wir Realisten” mit den Illusionsspielen, den “Spinngeschichten”, den erdachten Spielgefährten unserer Kinder um? Ich denke, es täte uns allen gut, unsere eigene, eingetrocknete Phantasie durch die schöpferische Kraft unserer Kinder neu beleben zu lassen. Es macht wirklich Spaß, mit so einem Kind auf der Suche nach dem grünen Monster durch den Urwald zu stapfen oder ihm auf eine Autoreise ins Schlaraffenland zu folgen. Es ist auch gar nicht so schwer, mit einem Bauklotz ein Stuhl-Auto zu reparieren oder mit einem Ritter zu streiten, den man nicht sieht.

Wenn Ihre Tochter Ihnen erzählt, sie habe draußen einen Indianer gesehen, der an einen Straßenbaum gebunden war, dann können Sie doch gemeinsam überlegen, ob Sie ihn nicht befreien könnten. Es kostet auch nicht viel, wenn Sie dem “lieben Löwen”, der immer mit in den Kindergarten geht, ein zusätzliches Frühstücksbrot einpacken.

Sofias Mutter mag es mit der “Traumfrau” ihrer Tochter schon schwerer haben, schwingen hier doch Schuldgefühle und Eifersucht mit. Aber keine Mutter wird mit so einer Traumfrau mithalten können, schon weil sie nicht zugestehen mag, dass Kinder so viel Eis kaufen dürfen, wie sie wollen. Sie sollte die Konkurrentin neidlos und ohne Minderwertigkeitsgefühle neben sich dulden, schon um zu zeigen, dass man alles wünschen darf, auch wenn in der Realität nicht alles erfüllbar ist. Sie kann der Frau Achtung entgegen bringen, sich auch mit ihr und ihren Argumenten auseinandersetzen, wenn sie unterschiedlicher Meinung sind. Vielleicht kann sie sie sogar gelegentlich um Rat fragen oder um Hilfe bitten.

  • Ob die Frau weiß, warum Sofia immer wieder allein an die sehr belebte Straße läuft?
  • Ob sie weiß, wie man das Kind davor schützen kann, angefahren zu werden?
  • Ob aber die Mutter vielleicht doch ein bisschen mehr Zeit für gemeinsame Spiele erübrigen könnte? Vielleicht spielt die Frau mit?

Mit dem Schulalter verschwinden die Phantasiegefährten

Der Schriftsteller Hans Fallada hat in seinen “Geschichten aus der Murkelei” beschrieben, wie die Familie mit zwei gemeinsam erdachten Spielgefährten der Kinder umging, bis sie eines Tages feierlich verabschiedet wurden, weil die Kinder jetzt groß werden wollten.

Die meisten Fachleute sind sich darin einig, dass bis zur Einschulung fast alle diese Phantasiegestalten verschwunden sind – oder eher abgeschoben über die inzwischen fest geschlossene Grenze ins Reich der Phantasie, in das man andere nicht mehr so ohne weiteres hineinsehen lässt. Da freilich leben sie weiter – auch für viele Erwachsene noch.

Oder haben Sie sich – angeregt vielleicht durch einen Film – noch nie einen idealen Partner erträumt, wenn der reale Sie gerade mal wieder heftig enttäuscht hatte?
Wer das kennt, weiß, dass solche Phantasien auch Erwachsenen helfen, ihre Gefühle zu prüfen und zu sortieren, Klarheit zu gewinnen, vielleicht Verhalten zu ändern. Wer es nicht kennt, sollte es ausprobieren.

Die Neigung zum Lügen erwächst nicht aus einer blühenden Phantasie

Halten wir also fest: Was bei Kindern vor dem Schulalter als Verfälschung der Realität daherkommt, ist selten wirklich gelogen. Die Grenzen zwischen bewusster Unwahrheit und lebhafter Phantasie sind fließend. Diese lebhafte Phantasie aber ist ein zu kostbares Gut, als dass wir sie aus Angst um die Wahrhaftigkeit einengen sollten.

Diese Angst ist auch unbegründet. Die Neigung zum Lügen erwächst nicht aus einer blühenden Phantasie. Bewusst die Wahrheit (und nur die) zu sagen, ist eine moralische Haltung, die entsteht, wenn ein Kind die Vorteile dieser Wahrhaftigkeit an der eigenen Person eindringlich genug erlebt hat.

Eine Kinderlüge ist kein Grund zur Panik

Hier kommt kein “böser Charakter” durch, denn eine Veranlagung zum Lügen gibt es nicht. Das Kind wird über Jahre allein durch die verschwommenen Grenzen zwischen Realität und Phantasie oft in den Grenzbereich zum Lügen geraten. Jedes Kind wird auch einige Male ausprobieren, richtig und bewusst zu lügen. Aber jede dieser wirklichen Lügen ist eine Gelegenheit, über die Nachteile, die das für das Zusammenleben bringt, zu reden, die Vorteile von Wahrhaftigkeit deutlich werden zu lassen. Jede Kinderlüge ist eine Gelegenheit zum Üben, mehr nicht!

Die Lügen der Erwachsenen

Wir Erwachsenen neigen dazu, ein lügendes Kind einer hochnotpeinlichen Befragung zu unterziehen, ihm strenge moralische Vorhaltungen zu machen, eigene Unehrlichkeiten dagegen herunterzuspielen oder zu entschuldigen. Dabei ist das Gegenteil notwendig.

An unserem Beispiel muss das Kind erleben, wie angenehm es ist, sich auf das, was ein anderer sagt, unbedingt verlassen zu können, noch bevor es selbst in der Lage ist, verlässliche Aussagen zu machen.

Deshalb dürfen wir Kinder nicht vertrösten, abspeisen oder belügen. Wenn wir “ja, ja, morgen” sagen, muss das verbindlich sein und nicht nur eine bequeme Ausrede. Wenn wir ein Produkt des Kindes loben, sollte das unsere ehrliche Meinung sein, nicht ein billiger Trost. Vor allem müssen wir die Wahrheit sagen:

  • Wenn wir ein zerbrochenes Spielzeug weggeworfen haben, weil wir es für wertlos hielten,
  • wenn wir vor einem Arztbesuch gefragt werden, ob es wohl weh tun wird,
  • wenn wir weggehen wollen, während das Kind schläft – auch wenn das unangenehme Konsequenzen hat, denn gerade das erhoffen wir später auch von unseren Kindern.

Leicht gesagt, mögen Sie antworten, aber schwer durchzuhalten! Wenn das aber so ist, wenn wir bereit sind, uns gelegentliche Notlügen nachzusehen, dann müssen wir das erst recht den Kindern zugestehen. Denn ist ein Kind etwa nicht in Not, wenn es etwas zugeben soll, was es nicht zugeben möchte?

Es verbietet sich auch, ein Kind absichtlich oder leichtfertig in eine solche Notsituation zu bringen. Ein Erwachsener findet leicht eine Möglichkeit, sich durch geschickte Formulierungen oder Ausweichmanöver um eine eindeutig falsche Aussage zu drücken. Ein Kind ist da noch weniger geschickt. Meist hat es nur die Wahl zwischen Wahrheit und Lüge – vorausgesetzt natürlich, es kann beide schon deutlich genug unterscheiden. Wenn ich es davor bewahren will, zu lügen, weil es die Wahrheit nicht sagen will, muss ich auch das Verweigern einer Antwort, muss ich auch ein “Das möchte ich nicht sagen” akzeptieren. Ein Kind beweist damit, dass es nicht lügen möchte – das sollten die Erwachsenen anerkennen.

Wenn ich erreichen möchte, dass ein Kind nicht lügt, muss ich ihm Vertrauen entgegenbringen – immer wieder neu, auch nach der ersten, zweiten, dritten Lüge. Denn ein Kind kann Vertrauen in die eigenen moralischen Fähigkeiten nur lernen, wenn ihm dieses Vertrauen auch von anderen gezeigt wird. Misstrauen und Kontrolle bedeuten: “Ich traue dir nicht, ich traue dir Ehrlichkeit nicht zu”. Wie soll sie sich da das Kind selbst zutrauen? Und warum soll es ehrlich sein, wenn ihm doch nicht geglaubt wird?

Sinnlos ist es, ein Kind zu strafen, weil es gelogen hat. Wer nur nicht lügt aus Angst vor Strafe, der wird wieder lügen, sobald er sich vor Entdeckung sicher glaubt. Er wird raffinierter, nicht ehrlicher.

Weihnachtsmann und Klapperstorch – Lügen für Kinder?

Wie ist es aber nun mit den schönen Geschichten, die seit je die Phantasie von Kindern beflügelt haben? Belüge ich mein Kind, wenn ich ihm erzähle, die Geschenke bringe der Weihnachtsmann, oder betrüge ich es um eine zauberhafte Illusion, wenn ich ihm von Anfang an ehrlich sage, dass es einen Weihnachtsmann nicht gibt?

Im Leben meiner Kinder hat er viele Weihnachtsfeste lang eine wesentliche Rolle gespielt – so wesentlich, dass er nur mit Wehmut und eigentlich viel zu spät endgültig abgeschafft wurde. Allerdings war er auch nie eine Figur, die wir Eltern den Kindern vorgelogen hätten. Gut, er hatte eine Maske mit langem Bart, vielleicht auch einen fremden Mantel, aber Hände und Füße blieben irgendwie vertraut, und die Stimme erinnerte sehr an die von Vater oder Mutter. So dauerte es nicht lange, bis auf zweifelnde Nachfragen augenzwinkernd doppelbödige Antworten gegeben wurden. Von da an wirkten die Kinder bei der Regie des aufregenden Spiels eifrig mit. Wie der Weihnachtsmann zu klopfen, mit den Füßen zu stapfen, was er zu tun und zu lassen hätte, wurde vorher genau festgelegt, aber trotzdem wurde er dann mit Spannung erwartet.

Und dann tauchte die Frage auf, wieso eigentlich immer nur wir Eltern, warum nicht auch mal eines der Kinder der Weihnachtsmann sein dürfte. Ja, warum nicht? Seitdem wechselte er alljährlich seine Gestalt. Manchmal war er so klein, dass er einen Assistenten zum Tragen der Geschenke brauchte, oder einen, der die Namen auf den Päckchen lesen konnte. Er hatte auch eine Rute, unser Weihnachtsmann! Und er hat oft die Gelegenheit genutzt, den Beschenkten zu sagen, was ihm an ihrem Verhalten im letzten Jahr nicht gefallen hatte – allen natürlich, den Erwachsenen wie den Kindern. Manchmal hat auch jemand für ihn ein Gedicht aufgesagt oder ein Lied vorgesungen, aber nur, wenn er (oder sie) Lust dazu hatte.

Eines freilich durfte unser Weihnachtsmann nie: Jemandem Angst machen.
Niemals kam er dem jeweils Jüngsten, das das Spiel noch nicht völlig durchschaute, näher, als das es ertragen mochte.

Ich kann also durchaus gemeinsam mit Kindern im Phantastischen, Unmöglichen schwelgen, und ihnen dabei gleichzeitig klarmachen, dass all dies “in Wirklichkeit” nicht geht. Ich habe nicht einmal Hemmungen, einem Kind das Märchen vom Klapperstorch zu erzählen, wenn es daneben genau weiß, woher die Babys wirklich kommen. Denn auch das ist ein schönes Gleichnis, wenn es nicht als billige Ausrede benutzt wird. Das eine schließt das andere nicht aus – immer ehrlich sein zu wollen verlangt nicht, ein trockener Realist zu werden.

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Autorin

Helga Gürtler ist Diplom-Psychologin. Sie schreibt Bücher und Zeitschriften-Artikel zu Erziehungsthemen, hält Vorträge, arbeitet mit Elterngruppen und in der Fortbildung von Erzieherinnen.

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Erstellt am 18. Juni 2003, zuletzt geändert am 9. September 2013