Verhaltensauffällige Kinder geben Eltern ein Rätsel auf

Ulrike Strubel

Ulrike Strubel

Kinder, die den Clown spielen, die ständig unsere Aufmerksamkeit suchen, Machtkämpfe anzetteln, sich so gut wie immer querlegen, nichts mitmachen wollen, … wer kennt sie nicht? Ihr Verhalten stellt Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen oft vor ein Rätsel. Möchten Sie die Rätsel lösen? Dann finden Sie hier vier konkrete Schritte zum Lösen der Rätselaufgabe.

„Kinder wollen als gute Kinder erkannt werden, die sich nur deshalb falsch verhalten, weil sie unglücklich sind, oder weil sie gefunden haben, dass es sich lohnt unartig zu sein.“

Der Pädagoge Rudolf Dreikurs (1897-1972) spricht von entmutigten Kindern, die über Störverhalten Signale an die Umwelt senden, dass es ihnen emotional nicht gut geht, dass sie unglücklich und entmutigt sind. Werden ihre Signale von den Erwachsenen nicht erkannt, dann dreht sich die Entmutigungsspirale weiter, das Störverhalten nimmt Fahrt auf, wird emotionaler, feindseliger, aggressiver.

Dreikurs war davon überzeugt, dass jedes Kind mit MUT auf die Welt kommt und von Geburt an das Ziel verfolgt sich zugehörig zu fühlen, einen guten Platz zu finden bei der Gruppe von Menschen, die seine Bezugspersonen sind. Damit dies gelingt, braucht es ein Umfeld, das seinen Mut nicht kleiner, sondern größer werden lässt. Die Begriffe Ent-mutigung, Er-mutigung und Zugehörigkeitsgefühl sind daher zentrale Begriffe in der Dreikurs-Pädagogik.

Er hat aufgrund seiner Forschungsergebnisse Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen in zahlreichen Büchern ein Erklärungsmodell für Störverhalten von Kindern oder Jugendlichen geliefert. Aus seiner Sicht senden Kinder, Jugendliche mit ihren sozial störenden Verhaltensweisen Signale an die Erwachsenen, die es zu entschlüsseln gilt. Gelingt es dem Erwachsenen das Rätsel zu lösen, kann das Kind, der Jugendliche sein störendes Verhalten einstellen, denn es fühlt sich verstanden, seine Botschaft, das dahinterliegende Bedürfnis wurde vom Erwachsenen endlich erkannt. Aus kindlicher Sicht „lohnt“ es sich dann nicht mehr unartig zu sein, das Rätsel-Spiel hat ein gutes Ende gefunden. Schauen wir uns die vier klassischen Störverhaltensweisen an, die Erwachsenen oft Rätsel aufgeben.  

Rätsel Nr. 1:

Ungebührliche Aufmerksamkeit erregen – oder: Ich nerve dich so lange, bis du mich beachtest

Hier kann man sich Kinder, Jugendliche vorstellen, die sich ständig in Gespräche einmischen, die alles tun, damit man mit ihnen redet, es nochmals und nochmals erklärt. Das ist die aktive Variante, bei der passiven können wir uns trödelnde Kinder vorstellen, oder Jugendliche, die ihre Ohren auf Durchzug stellen.

Rätsel Nr. 2:

Zum Machtkampf herausfordern – oder: Ich mache was ich will, ich bin der „Boss“

Sobald ein Kind über Körper oder Sprache „Nein“ sagen kann, laden sie den Erwachsenen auf die sog. „Machtwippe“ ein. Sie provozieren mit ihrem Verhalten, halten sich nicht an Vereinbarungen und Regeln, machen einfach was sie wollen. Manchmal hört der Erwachsene auch Sätze wie: „Ich bin der Bestimmer, die Bestimmerin, nicht du!“

Rätsel Nr. 3:

Rache/Vergeltung üben – oder: Ich will andere genauso verletzen, wie ich verletzt wurde

Hier kommt Gewalt ins Spiel. Sie kann körperlich oder verbal ausgetragen werden, geht auf jeden Fall unter die Gürtellinie. Lügen, stehlen, andere beschämen und bloßstellen zählen zum Verhaltensspektrum derart entmutigter Kinder. Erwachsene sind bei diesem Rätsel in großer Gefahr die Fassung zu verlieren und zurück zu verletzen, weil es so unendlich wehtut. Doch damit löst sich das Rätsel nicht, da das Signal nicht als Stufe drei der Entmutigung erkannt wurde.    

Rätsel Nr. 4:

Rückzug/vermeintliche Unfähigkeit – oder: Ich ziehe mich zurück, gebe (mich) auf, mache nix mehr

Kinder, die dieses Signal senden igeln sich ein, wirken nach außen absolut desinteressiert, sind verbissen passiv. Sie geben auf, bevor sie überhaupt angefangen haben. Erwachsene wollen diesen Kindern, Jugendlichen gerne helfen, sie motivieren, doch ihre Versuche scheitern regelmäßig daran, dass das Gegenüber blockt und mauert.

Wie man unschwer erkennen kann, nimmt der Grad der Entmutigung bei jedem Rätsel zu. Die Signale von Kindern, Jugendlichen werden in der Regel nicht erkannt von Erwachsenen und damit bleibt ihnen nichts anderes übrig als in die nächste Stufe der Entmutigung zu wechseln. Sie senden stärkere Stör-Signale, funken weiterhin S-O-S an ihre Umwelt in der Hoffnung, dass der Erwachsene die dahinterliegende Entmutigung erkennt. Er hat dann, im Bild gesprochen, den Schlüssel in der Hand um das Rätsel zu lösen, die Botschaft zu erkennen.

Was können Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen tun, um die Rätsel zu lösen? – Vier Schritte helfen beim Ausstieg

1. Das automatisiert ablaufende eigene Verhalten stoppen.
Das ist sicherlich die schwierigste, wenngleich die wichtigste Übung. Bei allen vier Rätseln hilft es enorm, wenn Erwachsene aufhören mit „Wenn… dann… Sätzen“ oder Schluss machen immer weiter auf das Kind, den Jugendlichen einzureden. Kinder sind nicht dumm, sie haben sich nur daran gewöhnt, dass sie mit Nerv-Verhalten zusätzliche Aufmerksamkeit von den Erwachsenen bekommen. Drei tiefe Atemzüge nehmen oder eine Minute laut rückwärts zählen, bringt eine hilfreiche Unterbrechung bei allen Rätseln. Probieren Sie es aus!

2. Die ausgelösten Gefühle bei sich selbst wahrnehmen, ernstnehmen und als Kompass nutzen.
Jedes Störverhalten löst beim Erwachsenen bestimmte Gefühle aus. Bei Rätsel Nr. 1 fühlen wir uns genervt, sind irritiert, fühlen uns belästigt. Mit Signalverhalten Nr. 2 fühlen wir uns provoziert, herausgefordert in unserer Autorität. Rätsel Nr. 3 löst starke Gefühle von Verletzung und Enttäuschung aus. Beim Signalverhalten Nr. 4 fühlen wir uns ohnmächtig und hilflos. Dieses bewusste Wahr- und Erstnehmen unserer Gefühle ist der Schlüssel, der Kompass, um das Rätsel zu lösen. Bitte nicht wundern, wenn das gleiche Verhalten des Kindes bei verschiedenen Erwachsenen unterschiedliche Gefühle auslöst. Das ist völlig normal!   

3. Die Botschaft, das kindliche Bedürfnis hinter dem Störverhalten erkennen.
Beim Rätsel Nr. 1 sucht das Kind positive Beachtung, Beteiligung, doch es hat leider bisher die Erfahrung gemacht, dass es mit sozial störendem Verhalten mehr Aufmerksamkeit bekommt. Kinder, Jugendliche, denen es um Macht geht, wollen mitbestimmen, gefragt werden, Einfluss nehmen können, wenn es um ihre Belange geht. Beim Rätsel Nr. 3 will das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Fairness gesehen und erkannt werden. Kinder, Jugendliche, die Störverhalten Nr. 4 zeigen, brauchen klitzekleine Erfolgserlebnisse, wollen sich kompetent und fähig fühlen.

4. Neue, kreative Handlungsoptionen im Alltag einbauen.
Den Schlüssel zum Kind, Jugendlichen bei Rätsel Nr. 1 finden Erwachsene, wenn sie ihnen gerade dann Aufmerksamkeit schenken, wenn sie KEIN Störverhalten zeigen. Hier braucht es den Blick auf das Gelungene, das Positive. Auch nonverbale Zeichen von Beachtung lösen dieses Rätsel.

Dem Kind oder Jugendlichen zwei echte Wahlmöglichkeiten anbieten, Gelegenheit der Mitbestimmung im Alltag finden, sie einladen gemeinsam Win-win-Lösungen zu finden sind Schlüssel beim Rätsel Nr. 2.

Auch wenn es schwerfällt, Erwachsene dürfen das Störverhalten beim Rätsel Nr. 3 nicht persönlich nehmen, sondern als Hilferuf des Gegenübers sehen. Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen sind gut beraten, sich vor dem nächsten Kontakt mit dem Kind, Jugendlichen bewusst eine Abkühl-Zeit zu nehmen.

Erwachsene, die Rätsel Nr. 4 lösen wollen, dürfen das Kind, den Jugendlichen innerlich und äußerlich nicht aufgeben. Oft braucht es Supervision oder Hilfe von außen um die Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht in den Griff zu bekommen. Das Kind, der Jugendliche braucht die Botschaft: „Du wirst das schaffen! Ich glaube an dich, ich gebe dich nicht auf!“

Literatur

  • Dreikurs, Rudolf, Soltz, Vicky (2018): Kinder fordern uns heraus: Wie erziehen wir sie zeitgemäß? Klett-Cotta, Edition Nr. 5
  • Dreikurs Rudolf (2018): Psychologie im Klassenzimmer, Klett-Cotta, vierte Auflage

Autorin

Ulrike Strubel ist Referentin in der Erwachsenenbildung mit den Schwerpunkten Erziehung und Individualpsychologie. Sie ist Autorin, Konzeptentwicklerin Familienrat-Training VpIP, zweifache Mutter und dreifache Oma.

Kontakt

E-Mail

Website

eingestellt am 19. Februar 2025