“Ich hau dir in die Fresse” – verbale Gewalt bei Kindern
Gertrud Ennulat
Das Thema Verbale Gewalt gehört ja nicht gerade zu den Sonnenscheinthemen, die das Herz öffnen und angenehme Gedanken hervorrufen. Auf das Zusammenleben mit Kindern fällt auf einmal ein Schatten, wenn solche Äußerungen zu hören sind. Ich hau dir in die Fresse! Ich hau dir auf die Fresse! Wenn solche aggressiven Kraftausdrücke von einem kleinen Kindermund ausgesprochen werden, dann geht es uns Erwachsenen schlecht. Wir sind ratlos, unsicher, eine Wut steigt auf. Die Worte wirken wie eine ungeheure Provokation. Irgendwie passt das doch nicht zusammen. Aus dem Mund des Kindes, das sich am Morgen mit lieben Worten und einem sanften Kuss verabschiedet hat, kommen nun Äußerungen wie Arschloch und Wichser. Fragen tauchen auf: Was ist da im Gange? Gehören solche Äußerungen zur gesunden Entwicklung eines Kindes? Soll ich sie stoppen oder nach dem Schalter suchen, um sie zu abzuschwächen? Und was mache ich als Erwachsener mit dem Wirrwarr der Gefühle, den solche Worte in mir auslösen?
Meine Ausführungen wollen etwas Licht in dieses erstaunliche Phänomen bringen: Ich werde um den Bereich kindlicher Aggression kreisen, komme nicht darum herum, auch die Erwachsenen mit einzubeziehen, denn diese Worte lassen keinen kalt. Mein Blick fällt darüber hinaus auf die Kinder, die unter der verbalen Aggression anderer Kinder leiden, weil sie sich gegen die Wortgeschosse nicht zur Wehr setzen können.
1. Die Welt der Kinder ist nicht heil. Gewalt und Aggression haben dort ihren Platz
Aggression ist nichts Unanständiges. Im Repertoire menschlicher Verhaltensweisen hat die Aggression einen wichtigen Platz, denn mit ihrer Hilfe setzen wir unsere Interessen gegen den Widerstand anderer durch. Aggression ist also eine Antriebskraft, die uns lebendig vorwärts puscht, zu Handlungen treibt, weil wir etwas unbedingt durchsetzen müssen, was natürlich zu Konflikten mit anderen führen kann. Wer sein aggressives Potential gekonnt steuern kann, verfügt über gute emotionale Kompetenz.
Da sich in Kindern diese aggressive Kraft im Laufe ihrer Entwicklung erst ausformt (kein Kind kommt auf die Welt und kann das alles bereits ), sind sie auf vielfältige Möglichkeiten angewiesen, um diese Kraft kennen und spüren zu lernen, denn nur durch das konkrete Ausprobieren bildet sich in ihrem Inneren ein Fundus an Lösungsstrategien im Umgang mit den Erscheinungsformen der Aggression. Ein Blick auf spielende Kinder zeigt, dass sie unentwegt Situationen schaffen, um ihre aggressiven Kräfte zu erproben.
Das sieht dann häufig so aus: Tom will das Spielzeug, das Tina hat. Er reißt es ihr mit einem gewaltigen Ruck aus der Hand. Damit hat er sein Interesse durchgesetzt, seine aggressive Kraft eingesetzt und sich und allen anderen Kindern gezeigt, dass er über ein gewisses Maß an Durchsetzungskraft verfügt.
Tina erlebt diesen Vorgang als überraschenden Angriff und spürt den Druck, etwas tun zu müssen. Aus ihrem Erfahrungsspeicher wählt sie folgende Vorgehensweise: Sie versucht mit dem Einsatz ihrer Hände, das Spielzeug zurückzuholen, kommt aber gegen den Jungen nicht an und setzt nun zusätzlich ihre Beine ein, um ihr körperliches Waffenarsenal besser nutzen zu können. Sie tritt dem Jungen gegen die Waden. Der wiederum greift in seiner Trickkiste der Verteidigung nach dem Mittel der verbalen Aggression und ruft höhnisch mit lauter Stimme: “Kriegst du nie, blöde Lesbe!” Da körperliche Angriffe bei Kindern Signalcharakter haben und Streitereien eine spannende Sache sind, weil das Austragen von Aggression beim Zuschauer schnell einen Angstschauder auslöst, entsteht innerhalb von Minuten ein lautes Geschrei, und die Atmosphäre im Raum lädt sich aggressiv auf. Schon fangen andere Kinder an, sich zu knuffen und zu rempeln, denn Aggression hat schließlich eine ansteckende Wirkung.
Tom wird von den anderen als Sieger gefeiert, wird bestätigt in seinem Tun, denn er hat soeben bewiesen, dass er Einfluss und Macht hat. Er ist zufrieden mit sich und fühlt sich rundum gut. Er hat es geschafft, sich durchzusetzen, er hat seine Körperkraft richtig eingeschätzt. Sie hat sich als groß genug erwiesen. Seine verbale Attacke, der Gebrauch des Wortes Lesbe diente der Erniedrigung und zusätzlichen Verletzung seiner Gegnerin.
Tina lernt die andere Seite der Aggression kennen, wurde von der Kraft eines anderen Kindes überwältigt, hatte selbst nicht genügend Kraft, um das Spielzeug festzuhalten. Ihr Versuch, den Vergeltungsschlag auf andere Körperteile des Gegners auszuweiten, schlug fehl. Darüber hinaus war sie konfrontiert mit den Kindern, die für ihren Gegner Partei ergriffen und Zeuge der erniedrigenden verbalen Verletzungen wurden. Tina lernt Gefühle von Wut, Enttäuschung, Ärger, Ohnmacht und Isolation kennen und muss sie verarbeiten.
Kinder müssen den Umgang mit Aggressivität erst lernen. Die Folgen ihres Tuns können sie oft noch nicht bewusst einsehen und brauchen deshalb den Erwachsenen, der die Trennlinie zieht zwischen dem, was alltägliche Aggression ist, im Rahmen des Erlaubten liegt oder eben nicht erlaubt ist, weil die Grenze zur Gewalt überschritten ist. Kinder brauchen den Erwachsenen, der Position bezieht, sich nicht scheinbar tolerant und liberal zurückzieht und sagt: “Da mische ich mich nicht ein. Das ist eure Sache. Das müsst ihr ganz alleine unter euch regeln! Das könnt ihr doch.” Mit diesem Appell an das mündige Kind kaschieren manche Erwachsene ihre Gleichgültigkeit und verweigern ihre Stellungnahme. Sie lassen die Kinder im Regen stehen und machen sie in solchen Momenten zu emotional verlassenen Kindern.
Kinder brauchen den wertenden Erwachsenen, der Position bezieht. Das heißt nicht, dass dann alle kuschen und heile Welt spielen. Aber bei der Suche nach ihrer eigenen Einstellung im Umgang mit Aggression benötigen sie die bewertende und eingrenzende Haltung des Erwachsenen. Wenn die fehlt, kann das chaotische Auswirkungen haben, wie ein Experiment mit 11und 12 jährigen Jungen in England zeigt, über das Psychologie heute Nummer 11 berichtet. Der Fernsehsender Channel 4 hatte zehn Jungen eine Woche lang ein Leben ohne Einmischung der Erwachsenen beschert. Außer den Kameramännern und dem psychologischen Begleitpersonal waren die Kinder unter sich. Für unser Thema ist folgende Beobachtung wichtig: Praktisch die ganze Zeit über fluchten die Kinder auffällig und bisweilen wurde die verbale Aggression unerträglich.
2. Erwachsene und das Ideal der heilen Kinderwelt
Wer mit Kindern zusammenlebt, sei es beruflich im Kindergarten, der Schule, dem Hort oder privat in der Familie, kommt um das nüchterne Zugeständnis nicht herum, dass dieses Zusammenleben oft ein mühseliges Geschäft ist. Allerdings gilt es nicht als eine wertgeschätzte Tugend in unserem Lande, über solche Schwierigkeiten offen miteinander zu sprechen.
Ein großer Druck, es richtig machen zu müssen, lastet im Bereich der Erziehung besonders auf den Müttern, die in den meisten Familien nach wie vor die Hauptrolle bei der Erziehung der Kinder spielen, egal, ob sie berufstätig sind oder sich um der Kinder willen eine Auszeit genehmigen. Manche Frauen verzichten auf einige Jahre des beruflichen Weiterkommens und stellen die Bedürfnisse der Kinder vor ihre eigenen, kleiden dieses vielleicht nicht leicht zu bringende Opfer in die Worte: “Ich tu das für die Kinder!” Im Stillen schwingen noch andere Worte mit: “Ich hoffe, das zahlt sich aus, das honorieren sie, und wenn Beziehungsnähe zur Mutter die beste Garantie für eine gesunde Entwicklung eines Kindes ist, dann wird in sie hineingebuttert, was nur möglich ist.”
Berufstätige Mütter sind Druck ebenso ausgesetzt. Sie leben oft im Dauerspagat zwischen beruflichen Anforderungen, dem Anspruch der Kinder und den eigenen Ansprüchen an sich. Außerdem wird jede Mutter mit ihrem Kind immer wieder kritisch beäugt von Außenstehenden, da in unserem Land in allen Köpfen und Herzen das Wunschbild der guten Mutter herrscht, und sich die Mütter wegen dieses Ideals nach der Decke strecken müssen. Was gibt es Besseres, als wenn es heißt, “sie ist wirklich eine gute Mutter” ? Was aber ist eine gute Mutter?
Wenn sich meine Sprösslinge in der Öffentlichkeit wie Rotzlöffel benehmen, dem Nachbarn ein “Fick deine Mutter” zurufen, dann kann es ja mit der guten Mutter nicht weit her sein. Das ist ja das Fatale am Muttersein, dass Mütter meist am Verhalten und Erscheinungsbild ihrer Kinder gemessen werden. Das ist in der Öffentlichkeit nicht anders als im Kindergarten, der Schule oder dem Sportverein, in der Verwandtschaft und im Freundeskreis. Ist es da ein Wunder, wenn Mütter gerne Kinder hätten, die einigermaßen störungsfrei und stromlinienförmig geschickt mit den Wechselfällen des Größerwerdens fertig werden? Ein funktionsfähiges Kind, das von anderen geliebt, anerkannt und geschätzt wird, sich durchsetzen kann, Freunde hat, und neugierig und wissbegierig auf die Welt zugeht. Ein solches Kind hält dann der Mutter einen Spiegel vor, aus dem eine Stimme spricht: “Ja, du bist eine gute Mutter!” An manchen Tagen vielleicht noch mit dem Zusatz: “Aber hinter den sieben Bergen, da wohnt eine, die macht es noch besser. Also streng dich mehr an!”
Ich möchte diesen gesunden Wunsch des Erwachsenen, sich in einem Kind positiv bestätigt zu sehen, nicht gering schätzen, denn er drückt eine Wertschätzung aus, die Mütter brauchen, weil sie auf diese Weise auch mit Zuversicht und Kraft versorgt werden, sich ihre Akkus wieder aufladen, um das Erziehungsgeschäft am Laufen zu halten. Schlimm wird es allerdings dann, wenn Mütter und Väter unentwegt nur noch in diesen Spiegel starren und sich als guter Vater und gute Mutter ständig bestätigen müssen. Dieser Zustand ist für Kinder und Erwachsene nicht gesund, denn kein Kind kann diesem Bestätigungszwang standhalten.
Vielleicht holt es sich eine Spielzeugpistole, die es gegen die überraschte Mutter richtet und in grimmigem Tun schreit: “Hände hoch oder es knallt du blöde Sau! Peng, peng, peng” . Für ein Kind ist das ein spielerischer Versuch, um mit Hilfe seiner Aggression gegen den Druck der Mutter anzukämpfen. “Hände hoch!” , brüllt ein Dreikäsehoch und hält dem Erwachsenen einen sehr gegensätzlichen Spiegel vor. Das Ideal der allseits guten Mutter liegt k.o. am Boden, und die aggressiv ausgestoßenen Worte rufen Gefühle der Wut, des Ärgers hervor und wecken die eigenen Aggressionen gegen das Kind. “Ab sofort wird zurück geschossen!” , könnte die Mutter rufen, indem sie den Impuls des Kindes in spielerischer Form verändert. Doch leider ist es selten, dass Erwachsene Kindern auf der Ebene des Rollenspiels antworten. Sie sind viel schneller dabei, mit Liebesentzug, Appellen, Augenzudrücken oder anderen Formen der Ablehnung und Missbilligung zu antworten. Und wer traut sich schon als Erwachsener zu seinen aggressiven Affekten Kindern gegenüber zu stehen?
Immer, wenn das Ideal der heilen Kinderwelt einen Riss bekommt, steht der Erwachsene ernüchtert vor einem Scherbenhaufen der Enttäuschung. Die plötzliche Andersartigkeit des Kindes hat eine Distanz geschaffen, die schwer auszuhalten ist. Was sagen Erwachsene in solchen Minuten? Wie wird es weiter gehen? “Hände hoch oder es knallt, du alte Sau!” kann ja nicht das letzte Wort sein. Mir fallen folgende Varianten ein:
- Das sagt man aber nicht zu seiner Mama!
- Ich will so etwas nie mehr hören!
- Du bist ein Angeber!
- Von wem hast du das nur wieder?
- Eigentlich sollte ich böse sein, aber dort auf dem Tisch liegt ein Kaugummi, den darfst du dir holen.
- Wutentbrannt reißt die Mutter dem Sohn die Spielzeugpistole aus der Hand und gibt ihm einen Klaps auf den Po.
- Du bist ein ganz böses und unartiges Kind!
Ablenken, umlenken, Grenzen ziehen, die Person des Kindes negativ darstellen. Das gehört ins Erwachsenenrepertoire. Was gibt es noch für Alternativen? Warum nicht antworten mit dem Eingeständnis: “Hast du mich aber erschreckt mit der Pistole und deiner Drohung! Ich bin keine blöde Sau!” Mit dieser Äußerung beschreibt die Mutter dem Kind, welche Wirkung seine Worte und sein Verhalten auf sie gehabt haben. Gleichzeitig rückt sie das Schimpfwort zurecht. Sobald das Gefühl benannt ist, kann das Kind verstehen, denn oft genug ist es selbst erschrocken und jetzt kann es diese Erfahrung auf die Mutter übertragen.
Etwas sehr Wichtiges ist geschehen. Das Kind durfte so agieren, seine Aggressionen wurden nicht gebrandmarkt und ausgegrenzt. Es wird noch viele solcher Erfahrungen brauchen, bis es einschätzen kann, ob eine aggressive Drohung in einer bestimmten Situation angemessen ist oder nicht. Das Kind wird also immer neue Spielarten der Aggression inszenieren, nicht um den Erwachsenen damit zu ärgern oder ihm das Leben schwer zu machen, sondern um zu lernen. Damit zwingt es Eltern, Erziehern und Lehrern den Umgang mit diesen Kräften auf. Sie müssen also reagieren, ob ihnen das nun passt oder nicht. Sehr oft passt es ihnen aber nicht! Deshalb ist es nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass Erwachsene kindlichen Aggressionen sehr zwiespältig und unsicher gegenüber stehen.
3. Erwachsene haben Mühe mit kindlicher Aggression.
Diese Feststellung möchte ich mit dem folgenden Beispiel erläutern.
Auf dem Markt beobachte ich zwei etwa 5jährige Jungen. Sie sind in wattierte Mäntel gekleidet, sehen aus wie Zwillinge, sind auf jeden Fall Geschwister. Sie sitzen nebeneinander auf der Bank, während der Vater einkauft. Nach kurzer Zeit fangen sie an zu kabbeln, knuffen sich und es dauert nicht lange, bis sie auf dem Boden liegen, sich klopfen und herumwälzen. Eine junge Frau neben mir meint entsetzt: “Da kann man doch nicht zusehen. Da muss man doch eingreifen!” Sie kann die Situation nur schwer aushalten, kann nicht verstehen, dass ich so ruhig zusehe, mich nicht errege. Auf meine Bemerkung: “Das muss doch bei Kindern ab und zu sein, dass sie sich verhauen!” , sagt sie: “Aber nicht mit dieser Brutalität!” In der Zwischenzeit hatte der Vater seine Söhne genommen und kräftig durchgeschüttelt.
An dieser Alltagsbegebenheit wird deutlich, dass aggressive Verhaltensweisen bei Kindern unterschiedliche Reaktionen bei Erwachsenen hervorrufen, die sich in entsprechenden sprachlichen Formulierungen niederschlagen. Wie ist diese große Diskrepanz in der Einschätzung zu erklären? Der Blick in den Spiegel der geschilderten kindlichen Aggression hatte die junge Mutter in große innere Erregung versetzt. Sie hatte Angst bekommen und grenzte sich von den Raudis dadurch ab, dass sie betonte: “Bei meinen drei Kindern gibt es das nicht. Da schreite ich vorher ein. Brutalität gibt es bei uns nicht!”
Ich stolpere über das Wort Brutalität. Es scheint mir nicht angemessen zu sein für das, was zwischen den streitenden Kindern stattgefunden hat, und ich frage mich, ob das nicht zu einem Zeichen unserer Zeit gehört, dass alltägliche Vorgänge sprachlich überzeichnet werden und dadurch einen eigentlich falschen Eindruck erwecken. Wenn aber Worte und Ereignisse nicht stimmen, dann bleibt immer etwas übrig, ein Rest.
Für mich war das Wort Brutalität unangemessen. Der Vorgang löste folgende Fantasie in mir aus: Ich sah die beiden streitenden Kinder und hörte dabei den Kommentar eines Fernsehsprechers, der sagt: Immer mehr Kinder in Deutschland leiden unter der Gewalt und Brutalität von Gleichaltrigen. Solche Sätze riechen nach Sensationsmache, wie sie Tag für Tag durch die Medien gehen. Letztendlich machen solche Aussagen Angst. Dann ist es auf einmal nicht verwunderlich, wenn die junge Mutter voll großer innerer Erregung auf die Jungen schaut, in der Vorstellung ihre eigenen Kinder sieht und erschrickt.
4. Die Angst der Eltern vor ihrem Kind ist ein natürlicher Bestandteil ihrer Beziehung.
Diese Aussage lässt sich auch auf die pädagogische Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen in der Schule oder im Kindergarten übertragen. Wie geht es Ihnen mit dieser Behauptung? Angst vor meinem Kind? Klingt das nicht ein wenig übertrieben? Vielleicht spüren Sie Widerstand und Abwehr. Wenn schon das Stichwort Angst auftaucht, dann handelt es sich doch um die Angst der Eltern um ihre Kinder. Wir haben Angst um unsre Kinder in einer Welt, in der das Leben plötzlich so gefährlich und riskant erscheint. Aber Angst vor ihnen?
Ein Beispiel: Ein Vater geht mit seinen drei Kindern ins Kino. Der Film versetzt alle in eine fröhliche Stimmung. Auf dem Nachhauseweg rennen die drei plötzlich los, denn sie haben im Schaufenster eines Geschäftes Waffen entdeckt, bleiben stehen und schreien die Gegend voll, finden die Dolche, Klappmesser und Revolver megageil und voll cool, stürmen in den Laden hinein und wollen dort an die verschlossenen Vitrinen. Der überraschte Vater will seine Kinder aus dem Laden ziehen. Das Geschrei wird größer, und er spürt die missbilligenden Blicke der Umstehenden. Von der fröhlichen Stimmung ist nichts mehr zu spüren. Ein Graben hat sich zwischen dem Erwachsenen und den Kindern aufgetan. Dem Vater sind seine Kinder fremd und fast unheimlich geworden. Enttäuscht und verärgert geht er ernüchtert mit ihnen nachhause, schwört sich, nie wieder mit ihnen ins Kino zu gehen, denn Strafe muss sein!
Hier ist sie also wieder, die ungeliebte Schattenseite im Zusammenleben mit Kindern. Da wir als Erwachsene mit den Kindern affektiv verbunden sind, setzt uns das sehr zu. Wir sind nicht nur verärgert, sondern fühlen uns in erster Linie bloß gestellt und schämen uns. Im alltäglichen Zusammenleben verändert sich das zum Glück immer wieder, denn die gesunde Ambivalenz der Kräfte im Familiensystem pendelt von einer Seite zur anderen. Die Sonne geht wieder auf, und die Kinder sind bemüht, die Scharte auszuwetzen.
Die Angst, von seinen Kindern bloßgestellt zu werden, kann natürlich dazu führen, ein möglichst hohes Maß an Kontrolle über sie zu haben, die Zügel anzuziehen, um die Kinder an der kurzen Leine zu führen. Auf diese Weise steigt der Druck auf beiden Seiten.
Aber es ist nicht nur die Angst vor der Blamage, die den Alltag mit Kindern sehr trüben kann. Erwachsene werden durch Kinder auch mit Themen konfrontiert, die ihnen fremd sind, die sie vielleicht ablehnen. Oder ihr Kind freundet sich mit einem total abartigen Kind an, mutet den Eltern zu, über ihren Schatten zu springen, wenn dieses Kind mit am Tisch sitzt. Es bleibt also nicht aus, dass Kinder Gefühle der Unsicherheit und Bedrohung in Erwachsenen auslösen können. Und schnell haben diese dann den Eindruck, nicht o.k. zu sein, sie schämen sich dieser Gefühle oder denken, sie seien als Eltern gescheitert.
5. Kinder brauchen das authentische Gegenüber des Erwachsenen
Oft wollen Erwachsene im Umgang mit Kindern aus ihrer Rolle raus, wollen ausschließlich Kumpel sein, biedern sich bei den Kindern an, tun alles, um ja nicht den Anschein zu erwecken, sie seien dem Kind überlegen, oder wollten es durch irgendwelche Maßnahmen reglementieren oder beeinflussen. Damit tun sie Kindern keinen guten Dienst. Natürlich macht es Spaß, bei einem Kumpel, der alles erlaubt, die Sau raus zu lassen. Aber das ist nicht unbedingt das, was ein Kind vorrangig beim Erwachsenen sucht.
Kinder brauchen Eltern und Lehrer und Erzieher, die den Gegenpol zu ihrem Streben nach ständiger Veränderung bilden, verlässliche Kontinuität garantieren, damit sie neugierig und abgesichert sich in die Welt immer wieder hinein wagen können. Leider verweigern heute viele Erwachsene den Kindern diesen Gegenpol, an dem sie sich reiben können und solidarisieren sich von morgens bis abends mit ihnen, lechzen nach ihrer Zuwendung, handeln ständig neue Vereinbarungen aus und geben den Kindern keine Möglichkeit, gegen sie zu rebellieren. Und das brauchen Kinder: auf die Grenze im Gegenüber stoßen, spüren, so weit kann ich gehen und nicht weiter, in das Gesicht des Erwachsenen schauen, am Ausdruck seiner Mimik ablesen, dass gleich dicke Luft ist, dass es dann raucht im Karton, und dann trotzdem mit dem Kopf durch die Wand wollen, weil das einfach sein muss, um sich zu erproben, seine Kraft zu entwickeln. Das alles will ein Kind gemeinsam mit einem Erwachsenen aushalten.
6. Verbale Aggression, verbale Gewalt
Ein weites Feld tut sich auf. Es reicht vom blöden Arschloch bis zum Wichskrübbel und zur schwulen Sau. Jedes dieser Worte transportiert einen Bedeutungsinhalt mit seiner entsprechenden energetischen Aufladung . Die Wucht des Ausdrucks Wichser erlebe ich z. B. als größer als die der Drecksau. Es gibt also innerhalb der bei verbaler Aggression benutzten Ausdrücke Abstufungen. In den letzten Jahren zeigt sich eine Zunahme an sexualisierten Inhalten, und die machen uns Erwachsenen ja so viel Kopfzerbrechen.
Kinder leben in der Familie und gleichzeitig noch in anderen Teilbereichen ihrer Welt. Immer wieder schaffen sie sich eine eigene Kinderwelt, in der sich ihre eigene Subkultur bildet. Dort herrschen andere Gesetze als bei den Erwachsenen, dort wird vor allem eine andere Sprache gesprochen. Dieser Sprachcode schützt die Welt der Kinder vor dem Zutritt der Erwachsenen. Wenn ein Kind seinen Freund nach hause bringt, verändert es sich, weil es in eine andere Rolle schlüpft und mit seinem Freund im vertrauten Sprachcode spricht. Vielleicht wundert sich die Mutter über das Kind, das wie eine lebendige Comicfigur agiert oder mit Obszönitäten um sich wirft, dass ihr Hören und Sehen vergeht.
Ein Kind, das solche Worte in der Auseinandersetzung mit einem anderen gebraucht, will eindeutig imponieren, angeben, sich durch die Energie des Wortes mit Bedeutung aufladen, um den Gegner bereits im Vorfeld beeinträchtigen und in seine Grenzen weisen zu können. Und wenn es die Worte noch mit den eindeutigen Drohgebärden unterstreicht, dann erhöht sich ihre Wirkung. Bereits in frühem Alter, meist beim Eintritt in den Kindergarten, haben Kinder ersten Kontakt mit dieser Wirkweise von Sprache. Da sie sich sehr stark an anderen Kindern orientieren, mit denen sie zusammen sind, sich innerhalb der Hackordnung ihrer Gruppe zurecht finden müssen, erfahren sie schnell, dass bestimmte Worte ausreichen, um andere zum Ausflippen zu bringen, aber auch körperliche Aggression auslösen können, sodass das Kind selbst mit Prügel rechnen muss.
Im Feld der verbalen Aggression und Gewalt werden oft die Opfer übersehen. Meist sind es Kinder, die weniger schlagfertig sind, nicht schnell genug reagieren, um dem anderen verbal eins über zu ziehen. Vor allem aber fühlen sich diese Kinder durch die Wortbolzen in ihrer Würde verletzt. Sie sind der negativen Aufladung der Worte besonders stark ausgeliefert, können sich nicht abschotten. Da die semantische Bedeutung der Wortbrocken nicht transparent und klar einsichtig ist, entsteht Verunsicherung und Angst. Gerade sehr feinfühlige und emotional reich ausgestattete Kinder leiden, wenn innerhalb ihrer Gruppe die Atmosphäre verbal aggressiv eingetrübt wird. Wenn Kinder nur noch durch eine beschleunigte und zerhackte Sprache miteinander kommunizieren geht der Beziehungsaspekt von Sprache verloren. Wortbrocken verhindern das Entstehen echter Bezogenheit. Wenn die Beschleunigung von Sprache dazu führt, dass keine ganzen Sätze mehr gesprochen werden, gibt es keine Dialoge mehr, nur noch Schlagabtausch.
Da verbale Aggression sich meist so nebenbei erledigen lässt, im Flüsterton ebenso wirkt wie mit gestrecktem Stinkefinger, durch entsprechende Mimik an Bedeutung gewinnt, unterliegt sie weniger der sozialen Kontrolle als körperliche Aggression. Verbale Aggression unter Kindern wird von Erwachsenen oft übersehen, als bedeutungslos eingestuft und nicht eigentlich wahrgenommen und bleibt deshalb meist ohne Echo durch den Erwachsenen. Deshalb stellt sich für mich die Frage, ob die vielen Kinder, die Tag für Tag aus der Schule, dem Kindergarten, dem Hort kommen und zuhause erst mal ihr verbales Aggressionspotential verschießen müssen, dies deshalb tun, weil sie auf der einen Seite Dampf ablassen, vom hohen Grad der Anspannung herunter kommen wollen und auf der anderen Seite aber auch wissen, dass sie dort auf einen Erwachsenen treffen, der Stellung nehmen wird.
Kinder sind von Kraftausdrücken begeistert
Die obszöne Qualität vieler Ausdrücke ist eindeutig. Deshalb erschrecken wir Erwachsenen ja auch so. Wenn eine 7jährige “Fick deine Mutter!” ausruft, der Adressat zurückruft: “Mach?s doch selber!” dann bleibt uns vor Erstaunen die Spucke weg. Oder wenn der jüngere Bruder sich vor die große Schwester stellt und sagt: “Ich weiß, du hast eine Votze!” dann tut das einfach weh. Warum greifen Kinder zu diesen Ausdrücken?
Kinder sind von Kraftausdrücken fasziniert.
Sie gewinnen an Kraft und Stärke, indem sie solche Worte benutzen. Es geht ihnen also in erster Linie um die Wirkung dieser sprachlichen Formen. Es geht ihnen nicht so sehr um den Inhalt! Darin unterscheiden sie sich von uns Erwachsenen. Wenn wir ein Wort wie Hurensohn hören, dann reagieren wir in erster Linie auf den Inhalt und ordnen das Wort in die Schublade der vulgären Ausdrücke ein. Aber kein Kind macht sich Gedanken um die Bedeutung der von ihm gebrauchten Worte. Es geht ihm also nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Bereich der Sexualität, was die erschrockenen Erwachsenen oft meinen, sondern um ein Austesten von Grenzen, Normen und Werten. Offensichtlich erfüllen die sprachlichen Mittel, die uns die Haare zu Berge stehen lassen, eine wichtige Funktion.
Kinder sind aber nicht nur von Kraftausdrücken fasziniert, sondern haben eine natürliche Freude am Schweinigeln.
Denken Sie an die vielen Klo-Witze, bei denen Kinder in nicht enden wollendes Gelächter ausbrechen können, sobald die Kacke am Dampfen ist. Die kindliche Fantasie ist ungehobelt, unanständig, archaisch, suhlt gerne im Dreck und bewegt sich mit Vorliebe auf schmuddeligem Terrain. Und wenn Kinder dann entsprechende Bilder malen, der Pimmel sichtbar gemacht ist, dann fallen sie unter den Tisch vor Lachen, sobald der Erwachsene es sieht.
Kinder haben vor allem Spaß am Ausprobieren von Sprache
Ich hau dir in die Fresse! Nicht immer zielt diese Ankündigung auf eine aggressive Tat hin. Sehr oft ist es so, dass ein Kind den Klang des Wortes immer wieder hören möchte oder das Wort alleine vor sich hin singt in verschiedenen Lautstärken. Kinder sind sehr erfinderisch auch im Umgang mit den Schmuddelwörtern, verändern sie, bauen sie um, hängen neue dran und fangen an zu reimen: Eine kleine Fickmadam, saß auf einer Eisenbahn…Auch hier geht es dem Kind nicht um eine konkrete sexuelle Vorstellung. Im Gegenteil, Worte wie Fickmadam oder Wichsersau dienen der Abwehr sexueller Inhalte, welche die kindliche Fantasie aufladen. Sie dienen keinesfalls der Beziehungsaufnahme. Doch Erwachsene sollten im Interesse einer differenzierten Gefühlsentwicklung auf die negative Bedeutung und Wirkung hinweisen, denn nur so lernt ein Kind mit der situativen Bedeutung von Worten umzugehen.
7. Wie verhalte ich mich in der konkreten Situation?
Wenn verbal aggressive Ausdrucksweisen benutzt werden, soll der Erwachsene wissen, das ist weder abartig noch unmoralisch. Oft wird die Frage gestellt: Wo hast du das her? Diese Frage versucht das corpus delicti außerhalb der Familie aufzuspüren und siedelt es damit jenseits der eigenen Familiengrenze an. Das dient der eigenen Entlastung, riecht aber stark nach Bei uns gibt es so etwas nicht, das kann sie nur von denen haben! Die Unschuld des eigenen Kindes soll nicht angetastet werden. Ein Sündenbock muss her. Kinder kommen mit der Frage Wo hast du das her? in Not und geben schnell anderen die Schuld, wollen sich entlasten und fühlen sich doch nicht gut dabei.
Es ist nicht falsch, auf die obszönen Worte nicht in flagranti einzugehen. Doch wenn das Kind fortfährt, macht es deutlich: Zeig mir die Grenze, und der Erwachsene muss reagieren. Er könnte folgendes sagen:
- Ich will das nicht hören.
- Ich mag das Wort nicht.
- Das Wort tut mir weh.
- Das Wort verletzt mich.
Bei Kindern im Fragealter folgt dann oft die stereotype Warum-Frage, und Erwachsene sollten sich hüten vor weit ausholenden Begründungen. Die sind nicht nur schwer in eine kindgemäße Form zu bringen, sondern fehl am Platze. Scheuen Sie sich nicht, ihre Antwort: Das Wort hat mich verletzt! zu wiederholen. Das reicht.
Wenn sich Kinder verbal aggressiv verhalten, mit obszönen Worten um sich werfen, dann ist es wichtig, dass ihre Wortwahl kritisiert und zurecht gerückt wird, aber die Würde ihrer Person sollte nicht missachtet werden. Vor allem soll der Persönlichkeitsanteil in ihnen, der ausprobieren muss, provozieren und austesten will, nicht schlecht gemacht werden. Also nicht sagen: Wenn du das sagst, bist du böse oder ein freches und ungezogenes Kind. Damit würde die wichtige Antriebskraft der Aggression negativ gezeichnet. Was das Kind eher braucht, ist Ermutigung und geduldige Begleitung, um mit diesen kraftgeladenen Ausdrücken umgehen zu können.
Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch
- Wenn Kinder und Jugendliche ihre Eltern schlagen
- Gewalt unter Geschwistern im Alltag der Familie
- Wenn ein Suizid in der Familie geschieht
- Trauerkultur in der Familie
- Auf einmal bin ich Großmutter
Autorin
Gertrud Ennulat, Pädagogin, freie Autorin, hat folgende Bücher veröffentlicht:
- Wenn Kinder anders sind – Unterstützung für Mütter in Not, Kösel Verlag 2002
- Ängste im Kindergarten, Kösel Verlag 2001
- Ich will dir meinen Traum erzählen – mit Kindern über ihre Träume sprechen, Königsfurt Verlag 2001
- Kinder in ihrer Trauer begleiten, Herder Verlag 1998
Gertrud Ennulat ist 2008 verstorben.
Erstellt am 11. November 2002, zuletzt geändert am 5. August 2010