Religiöse Erziehung als Lebenshilfe

Prof. Dr. Bernhard Grom
Grom Bernhard

 

 

 

 

Der Beitrag fragt aus überwiegend entwicklungspsychologischer Sicht, wie Eltern, gleich welcher Konfession, mit dem Kleinkind so von Gott sprechen können, dass es den Glauben an ihn von seinen eigenen Woher-Fragen verstehen und ihn entsprechend seinen emotionalen Bedürfnissen als unterstützend und aufbauend empfinden kann: als religiöse Hilfe zur Lösung der allgemein menschlichen Entwicklungsaufgaben, (1) die Fähigkeit zur Sammlung und zum inneren Selbstgespräch, (2) ein tragendes Selbstwertgefühl, (3) eine positive Lebenseinstellung und (4) prosoziales Empfinden und Verhalten zu entwickeln.

Die zehnjährige Annette, die die Eltern bewußt christlich erzogen haben, wird gefragt, wie sie sich Gott denke. Zunächst antwortet sie mit lauter angelernten Vorstellungen und erklärt auch gleich, woher sie diese bezieht: “Mein Lehrer in der Sonntagsschule sagte, Jesus habe ein wallendes Kleid getragen…Ich glaube, meine Mutter hat mir das auch gesagt…Darum vermute ich, daß Gott so aussieht.” Dann aber, ermutigt durch das interessierte Zuhören des Gesprächspartners, fügt sie noch etwas ganz Persönliches, Selbsterfahrenes hinzu und sagt leise: “Wenn ich zu Gott bete, wenn ich ganz allein bin, erlebe ich Glück…wie wenn ich wirklich mit ihm spreche” (Heller, 1986, 133f.).

Wenn Eltern heute ihr Kind religiös erziehen, wollen sie ihm meistens eine solche bestärkende und beglückende Beziehung zu Gott erschließen. Sie tun dies, weil sie sich für das Wohl des Kindes verantwortlich fühlen, und dieses Wohl-Wollen entspricht ja auch der christlichen Frohbotschaft, daß Gott allen Menschen das “Heil” seiner Nähe anbietet. Psychologisch gesprochen, wollen die Eltern einen Glauben vermitteln, den die Kinder als Lebenshilfe erfahren. Dies ist auch durchaus realistisch. Bei einer Umfrage erklärten 47 Prozent der Westeuropäer, daß sie “aus dem Glauben Trost und Kraft ziehen”, und Jugendliche, die beten und den Gottesdienst besuchen, sagen bei Befragungen häufiger als andere, daß ihr Leben einen Sinn hat, daß sie noch nie an Selbstmord gedacht haben, keine Drogen nehmen und bereit sind, Mitmenschen zu helfen.

Wie kann nun die religiöse Erziehung den Glauben so zur Sprache bringen, daß ihn das Kleinkind als hilfreich und aufbauend erlebt? Dieser Frage möchte ich hier in einer vorwiegend entwicklungspsychologischen Sicht nachgehen, die für Eltern und ErzieherInnen aller christlichen Konfessionen akzeptabel sein dürfte. Bei den folgenden Überlegungen werte ich Kindheitserinnerungen von Erwachsenen aus, die die Bemühungen ihrer Eltern um religiöse Erziehung positiv erfahren haben, und verbinde sie mit Erkenntnissen der allgemeinen Entwicklungspsychologie (siehe Grom, 2000). Wie kann religiöse Erziehung im Kleinkindalter entwicklungsgerecht erfolgen und dadurch gelingen?

Wie kann man glaubwürdig vom Glauben sprechen?

Zunächst soll allgemein klargestellt werden, daß religiöse Erziehung nie mit Zwang und emotionaler Kälte verbunden sein darf. Es ist durch Untersuchungen gut belegt und auch leicht einzusehen, daß Heranwachsende, die mit Zwang erzogen wurden, die religiösen Vorstellungen und Verhaltensweisen (Gebet, Gottesdienstbesuch) ihrer Eltern weniger bereitwillig übernehmen als Kinder, die die Beziehung zu ihren Eltern als partnerschaftlich und warmherzig empfunden haben.

Ein bezeichnendes Detail aus einer Umfrage bei katholischen Jugendlichen in Westdeutschland: Von denen, die sich als “religiös wie ihre Eltern” bezeichneten, erklärten 44 Prozent, sie seien mehr gelobt als getadelt worden; von denen, die die Glaubenseinstellung ihrer Eltern nicht übernahmen, sagten dies aber nur 31 Prozent. Das ist unschwer zu erklären: Kinder werden das religiöse Denken und Tun ihrer Eltern (und anderer Erzieherpersonen) nur dann interessant und nachahmenswert finden, wenn sie bei ihnen emotional positive Zuwendung und Erlebnisreichtum erleben können.

Religiöse Erziehung setzt also immer den Aufbau einer echten positiven Beziehung zum Kind voraus. Das Kind will nur dann am religiösen Erleben und Denken eines Erwachsenen teilhaben, wenn es diesen in einem überwiegend erfreulichen Verhältnis als hilfreich und bereichernd wahrnehmen kann. Und religiöse Gespräche gelingen nur in Familien, in denen überhaupt ein günstiges Gesprächsklima vorhanden ist.

Zum erwähnten Teilhabenkönnen am Glauben der Eltern (und anderer Erzieherpersonen) kommt es allerdings nur, wenn diese auch von ihrem Glauben sprechen und ihn verstehbar und erlebbar machen. Religiöses Denken und Verhalten ist ja eine kulturelle Errungenschaft, ähnlich wie das Verstehen von Musik. Es wächst nicht von selbst wie etwa die Körperkräfte, und die eingangs zitierte Annette hätte die sie beglückende Möglichkeit, mit Gott zu sprechen, nicht entdeckt, wenn sie nicht von ihren Eltern dazu angeregt worden wäre.

Vom Glauben sprechen – das bedeutet nun allerdings nicht, daß man fromme Sprüche dahersagt. Vielmehr ist gemeint, daß man zu gegebener Zeit Überzeugungen so ausspricht, daß das Kind merkt, daß sie einem wichtig sind. Wir können glaubwürdig nur von dem reden, woran wir wirklich glauben. Nun sind aber viele Eltern angesichts des Wandels, den sie vielleicht in ihren eigenen Glaubensvorstellungen schon erlebt haben, oder angesichts der weltanschaulichen Meinungsvielfalt, der sie in den Medien und im Bekanntenkreis begegnen, in ihren religiösen Auffassungen unsicher und voller Zweifel. Das ist heute fast der Normalfall.
Doch gerade die Aufgabe, Kindern das Leben und die Welt zu erklären, kann ein Anstoß sein, sich wieder einmal mit Glaubens- und Gewissensfragen zu beschäftigen, etwas darüber zu lesen, an Veranstaltungen der theologischen Erwachsenenbildung teilzunehmen oder mit Menschen seines Vertrauens über Fragen zu reden, die einen beschäftigen.

Wann und wie?

Wann und wie soll man dem Kind den Glauben verstehbar und erlebbar machen?

Eltern werden oft ungeplant und sozusagen zwischen Tür und Angel Erklärungen über den Glauben geben, wenn das Kind beispielsweise fragt, was eine “Kirche” ist, wer “Gott” ist, von dem jemand sprach, wer der Mann am Kreuz ist oder was der Engel auf einem Bild oder Grabstein bedeutet. Solche Informationen sind wichtig, um ein erstes Wissen über christliche Auffassungen, Begriffe und Symbole zu vermitteln.

Aber wenn das Kind eine persönliche und lebendige Beziehung zu Gott und Jesus aufbauen soll wie das eingangs erwähnte Mädchen, genügen sie nicht. Vielmehr sollten wir ihm dann auch in einzelnen Schwerpunkten eine zusammenhängende Hinführung zum Nachdenken über Gott und zum Sprechen mit ihm vermitteln. Dies sollten sich auch Eltern zutrauen, die keine “Religionsprofis” sind und nie theologische Abhandlungen gelesen haben.

Wenn sie anfangen, zu ihrem Kind vom Glauben zu sprechen, mögen sie sich zwar wie buchstabierende Erstkläßler vorkommen, zumal das natürliche Sprechen über religiöse Dinge bei Familien- und Partygesprächen nicht eingeübt wird. Doch müssen Eltern ihrem Kind ja keine langen Vorträge halten und auch nicht wie der Pfarrer im Gottesdienst reden. Ein kurzes persönliches Zeugnis und ein Hinweis auf Gebet und Kindergottesdienst, verbunden mit dem entsprechenden Tun, genügt.

Einige der am Ende dieses Textes angeführten Bücher enthalten auch Anregungen dazu; in den folgenden Abschnitten sollen nur wichtige Grundlinien und Schwerpunkte erarbeitet werden.

Wenn wir mit dem Kind über den Glauben sprechen, kann es nicht unser Ziel sein, ihm etwas überzustülpen. Ein bloßes Nachplappern von unverstandenen Sätzen oder ein rein spielerisches Nachahmen von Gebetsgesten würde nur das Unterhaltungsbedürfnis des Kindes befriedigen, ihm aber den Glauben nicht als Lebenshilfe erschließen.

Wie können wir aber die vorgeschlagene zusammenhängende Hinführung zu Glauben und Gebet so gestalten, daß sie entwicklungsgerecht erfolgt, das heißt
(1) dem Verstehen des Kindes (seiner kognitiven Entwicklung) und auch
(2) seinen gefühlsmäßigen Bedürfnissen (der emotionalen Entwicklung) entspricht?
Oder anders gesagt: Wie können wir das Kleinkind einerseits zu einem Gottesverständnis und andererseits auch zu einer Gottesbeziehung hinführen?

Die Woher-Fragen des Kleinkindes und sein Gottesverständnis

Das religiöse Verstehen des Kleinkindes sollte man weder unterschätzen – denn manchmal können Kinder wie Philosophen fragen -, aber auch nicht überfordern. Einen wichtigen Hinweis kann uns das Fragen des Kindes nach dem Woher von Dingen und Ereignissen geben.

Das Erforschen von Ursachen, das kausale Denken und Verstehen, bildet ja den Antrieb für viele Warum-Fragen und damit für die erstaunlichen geistigen Anstrengungen, die das Kind unternimmt, um seine Umwelt zu begreifen und mehr und mehr auch zu gestalten. Und sein Forschen nach dem Woher der Dinge kann schon früh über die materiellen Ursachen hinausgreifen und weiterfragen.

Die Entwicklungspsychologen Jean Piaget, William Stern und andere haben gezeigt, daß Kinder schon mit drei Jahren intensiv nach ihrer Herkunft fragen. Wenn man ihnen nun erklärt, wie sie gezeugt wurden, im Leib der Mutter heranwuchsen und schließlich geboren wurden, fragen sie oft weiter, woher denn die Eltern, die Großeltern, die ersten Menschen und die Welt kommen. So meinte ein vierjähriges Mädchen: “Es fängt doch immer mit den Babys an, Mutti. Aber wie ist das denn möglich? Wer hat denn für die ersten Babys gesorgt?” Oder ein Fünfjähriger fragte seine Mutter mit großem Ernst: “Was war denn vor uns (der Familie) und bevor es überhaupt Menschen gab?”

Weist man Kinder dieses Alters auf Gott, den Schöpfer aller Dinge und Menschen, hin, so fragen sie zunächst oft in der eingeschlagenen Richtung weiter: “Wer hat Gott gemacht?” So wollte ein Mädchen wissen: “Mama, wer hat Gott gemacht? Ich verstehe das nicht. Er kann sich doch nicht selbst gemacht haben? Nun kann ich zwar sagen: Irgendein Mann hat Gott gemacht, aber dann komme ich nicht weiter, denn dann fragt man wieder: Wer hat diesen Mann denn gemacht?” Einerseits stellt sich hier das Kind das Erschaffen der Welt durch Gott noch ganz nach dem Vorbild menschlichen Machens und Fabrizierens vor – als Bearbeiten eines schon vorhandenen Rohstoffs. Doch merkt es andererseits, daß eine solche Vorstellung seine Frage nach einem letzten Woher der Welt nicht befriedigend beantworten kann. Dies darf man so deuten, daß das Kind bereits ahnen und (wenn wir davon sprechen) verstehen kann, daß es nicht nur das Machen der Menschen und das Wirken der Naturkräfte gibt, sondern darüber hinaus eine übermenschliche und überweltliche Ursache, der sich alles verdankt und die selber nicht aus etwas Früherem entstand.

Man kann also annehmen, daß man im Zusammenhang mit der Woher-Frage beim dreieinhalb- bis viereinhalbjährigen Kind ein erstes echtes Verstehen unseres Sprechens vom Schöpfer-Gott anregen kann. Das Gottesverständnis, das ein Kind zwischen dreieinhalb und etwa sieben Jahren aufbauen kann, unterscheidet sich freilich vom reifen Glauben eines Erwachsenen – und zwar durch folgende Züge:

  • Das Kind hat dieses Gottesverständnis noch nicht selbstentdeckt, sondern durch einen verstehenden Nachvollzug erworben.
  • Seine Gottesvorstellung hat insofern etwas Märchenhaftes an sich, als sie in der Schwebe bleibt zwischen Phantasie- und Realwelt, das heißt noch nicht so klar wie es dem Jugendlichen und Erwachsenen möglich ist, unterscheidet zwischen: “bloß so vorgestellt” und “durch logisches Schlußfolgern erkannt.”
  • Seine Gottesvorstellung enthält anfangs oft noch massiv menschenähnliche (anthropomorphe) Züge, was sich in entsprechenden drolligen Fragen zeigt und der Unbeholfenheit und Unbeweglichkeit kleinkindlichen Denkens entspricht. Doch sollte man dabei die Ahnung, daß der Schöpfer wirklich übermenschlich und immateriell (transzendent) ist, nicht übersehen. Zahlreiche Studien zu diesem Bereich haben nachgewiesen, daß Kinder, mit denen man einfühlsam über den Glauben spricht und denen man behutsam Anstöße zum Überdenken ihrer religiösen Auffassungen vermittelt, im Laufe des Grundschulalters und danach allzu menschliche Gottesvorstellungen aufgeben und durch angemessenere ersetzen. Das bedeutet im einzelnen:

- Zunächst neigt das Kleinkind dazu, sich Gott sichtbar wie eine menschliche Person vorzustellen – bis ihm durch erste Erfahrungen der Meditation und durch Nachdenken klar wird, daß man ihn nicht mit den äußeren Augen irgendwo im Weltall wahrnehmen kann, sondern nur durch das Aufmerksamwerden auf die Gefühle und Gedanken, die einen im Innern mit ihm in Verbindung bringen.

- Zunächst neigt das Kind zu der Vorstellung, Gott erschaffe die Welt wie ein Mensch mit Händen oder sonstwie nach Art eines Handwerkers (Artifizialismus) – bis ihm aufgeht, daß sein Erschaffen von ganz anderer, menschenüberlegener Art sein muß, da es alle Kräfte der Menschen und der Natur ermöglicht.

- Zunächst neigt das Kind zu der Meinung, Gott greife punktuell, durch gezielte Ereignisse in unser Leben ein, um nach dem Grundsatz von Lohn und Strafe die Guten zu beschützen und die Bösen zu maßregeln – bis es begreift, daß er die Natur nach ihren eigenen Gesetzen und die Menschen nach ihren freien Entscheidungen handeln läßt und uns im Innern, in der Gewissenserfahrung zum Guten ruft und (durch seine Bekräftigung) belohnt bzw. vor dem Bösen warnt und es durch Mißbilligung bestraft.

Die Entwicklungsaufgaben des Kindes und seine Gottesbeziehung

Doch das Kind fragt nicht nur erkenntnisbezogen nach einem übermenschlichen Woher des Lebens, sondern sucht auch gefühlsbezogen nach Quellen und Gründen (Motiven), die sein Verlangen nach Lebenszufriedenheit und Glücklichsein befriedigen. Darum soll im folgenden untersucht werden, wie das Reden von Gott und von Jesus (und das Beten zu ihnen) so gestaltet werden kann, daß es nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz des Kindes anspricht. Kindheitserinnerungen von Erwachsenen wie auch Beobachtungen von Erziehern und psychologische Erkenntnisse sprechen für die Annahme, daß dies dann am ehesten gelingt, wenn man versucht, Entwicklungsaufgaben (developmental tasks) des Kindes aufzugreifen, die einerseits für seine allgemeine emotionale Entwicklung und Lebenszufriedenheit wichtig sind und bei denen es andererseits mit Gott Kontakt aufnehmen und dadurch Unterstützung und Bereicherung erleben kann.

Vier solche Entwicklungsaufgaben mit religiöser Dimension sollen hier beschrieben werden:

(1) Die Fähigkeit zur Sammlung und zum inneren Selbstgespräch,

(2) der Aufbau eines tragenden Selbstwertgefühls,

(3) die Entwicklung einer positiven Lebenseinstellung und

(4) die Bereitschaft zu prosozialem Empfinden und Verhalten.


1. Die Fähigkeit zur Sammlung und zum inneren Selbstgespräch – auch als Grundlage eines persönlichen Betens

Diese Entwicklungsaufgabe beginnt mit der Ausbildung des Ichbewußtseins, der Selbstbeobachtung und der Selbststeuerung. Sie umfaßt eine doppelte Fertigkeit. Zum einen handelt es sich um die (1) Fähigkeit, bei bestimmten Begegnungen und Erlebnissen seine Gedanken, Gefühle und Köperempfindungen mit gesammelter Aufmerksamkeit wahrzunehmen, das heißt mit stärkerer Innenaufmerksamkeit, als sie in der gewöhnlichen Orientierung nach außen und nach allen Seiten eingeübt wird.

Zum anderen geht es um ein (2) Verarbeiten-Können der Gefühle, die das Kind zu überfluten und zu verwirren drohen. Das Kind muß allmählich zur Emotionsregulation und Selbststeuerung nach eigenen Zielen fähig werden. Es muß lernen, seine Gefühle und Stimmungen günstig zu beeinflussen, sich etwa bei Trauer etwas Tröstenden zu sagen, Mißerfolgserlebnisse und Kränkungen zu relativieren und sich in Vor- und Nachfreude positive Erfahrungen zu vergegenwärtigen, die seine Stimmung aufhellen. Dies gewährleistet in ersten Schritten Lebenszufriedenheit und Selbstbestimmung nach eigenen Bewertungsmaßstäben.

Eine überlegte religiöse Erziehung wird immer auch zu diesem Sich-Sammelnkönnen und diesem “inneren Selbstgespräch” (Albert Ellis) ermutigen. Denn einerseits ist dies unentbehrlich für das seelische Wohlbefinden des Kindes und seine Selbstfindung, und andererseits bildet es auch die Grundlage für die nötige Erlebensbereitschaft gegenüber Glaubensüberzeugungen sowie für ein Gespräch mit Gott. Wenn es gelingt, die Gebetskultur des Kindes darauf aufzubauen, ist diese keine von außen anerzogene Pflicht, sondern erwächst aus den eigenen Bemühungen, das innere Gleichgewicht zu finden, und vertieft und verstärkt diese Bemühungen. Darum empfiehlt es sich, mit dem Kind ein Gebet einzuüben, das mit der allgemeinmenschlichen Sammlung der Aufmerksamkeit und dem inneren Selbstgespräch (“Wie fühle ich mich?”) beginnt und dann in das Gespräch mit Gott einmündet.

Man könnte im Vorfeld zur eigentlichen Gebetserziehung und sie begleitend einige jener vielfältigen Konzentrations- und Meditationsübungen einsetzen, die in den letzten 20 Jahren für Kinder entwickelt wurden – seien es Stille-Übungen in Anlehnung an Maria Montessori, seien es Adaptationen von Entspannungstechniken wie Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung, Yoga oder Eutonie sowie die bewährte Gewohnheit, manche Gespräche beim Schein einer Kerze zu führen. Von hier aus könnte man das Gebet als eine Sammlung verständlich machen, die eben den Dialog mit Gott zum Inhalt hat. Vor allem das Abendgebet könnte als Abschluß und Meditation des Tages mit folgenden Schritten erschlossen werden: (1) Still werden und sich sammeln. (2) Tagesschau I: Was hat mich heute gefreut – wofür bin ich den Mitmenschen und auch Gott dankbar? (3) Tagesschau II: Was hat mich heute geärgert und bedrückt – was will ich mit anderen Menschen besprechen und wo will ich auch Gott bitten, daß ich den rechten Weg erkenne und Kraft und Mut finde?

2. Der Aufbau von Selbstwertgefühl – auch durch das Sich-Bejahtwissen von Gott

Die verschiedenen psychologischen Richtungen sind sich darin einig, daß es für das seelische Wohlbefinden eines Heranwachsenden entscheidend ist, ob er ein tragfähiges Selbstwertgefühl aufbauen kann. Von der Kindheit bis ins Alter muß der Mensch über die Wertschätzung, die ihm Bezugspersonen und Bezugsgruppen schenken, aber auch durch das realistische Selbstlob, lernen, sich selbst zu achten, über seinen Schwächen seine Fähigkeiten nicht zu vergessen und sich seiner Rechte bewußt zu sein. Wir alle nehmen uns zunächst weitgehend im Spiegel unserer Bezugspersonen oder “signifikanten anderen” wahr und werden nur schwer von ihrer Zuwendung unabhängig. Darum ist Anerkennung so wichtig.

Nun merkt aber schon das Kind, daß die Zuwendung, die ihm seine Bezugspersonen schenken, unterschiedlich ist und auch bei ein und derselben Person schwankt. Auch wenn es darüber nicht ausdrücklich nachdenkt und spricht, stellt sich ihm doch die Frage: Gibt es auch eine Quelle von Zuwendung, wenn die Eltern und andere sie mir nicht gewähren können oder wollen? Wieviel bin ich wert? Bin ich nur so lange willkommen, als ich bestimmte Eigenschaften und Leistungen vorweise, oder habe ich einen Selbstwert? Habe ich nur den Wert, den die mehr oder weniger wohlwollenden Mitmenschen mit ihren Interessen und Launen mir zuschreiben und den ich mir mit meinem Schwanken zwischen Hochgefühl und depressiver Verstimmung selbst zumesse, oder gibt es eine Instanz, die maßgeblicher ist als die Mitmenschen und als ich selbst und die mir ihrerseits Wert zuerkennt – selbst wenn andere mich ablehnen, selbst wenn ich mich wegwerfen möchte?

Auch von dieser Entwicklungsaufgabe aus ist eine religiöse Mit-Erfahrung möglich: Kann ich mit der Zuwendung der Menschen und über sie hinaus auch ein übermenschliches, transsoziales Ja und einen absoluten “signifikanten anderen” erfahren? Nun, der Schöpfungsglaube, zu dem das Kind – wie oben dargelegt – durch sein Fragen nach einem letzten Woher schon früh einen Zugang findet, bejaht dies. Allerdings wirkt der Schöpfungsglaube nur dann in diesem Sinn, wenn wir ihn als ein Gewolltsein vom Schöpfer deuten und nicht nur als kalte Auskunft über die Entstehung der Welt vor Milliarden von Jahren. Den Schöpfungsglauben sollte man also darstellen als ein Bejahtwerden von Gott, dem dieser durch Jesus noch hinzufügt, daß uns sein Ja immer gilt, selbst wenn wir uns verachten möchten, weil wir schwere Schuld auf uns geladen haben.

Wenn Eltern (oder Erzieherinnen im Kindergarten) diesen Ansatz und Schwerpunkt aufgreifen wollen, könnten sie zuerst davon sprechen, daß wir uns manchmal unverstanden, verlassen und verzagt fühlen. Man könnte dazu die Geschichte eines Kindes erzählen und dann über Angst- und Verlassenheitsgefühle reden. Hierauf könnte man mit dem Kind überlegen, was man denn alles tun kann, um wieder einen (Aus)Weg zu finden. Etwa: Nachdenken, ob die Lage wirklich so schlimm ist, oder ob wir sie in unserer Erregung übertreiben. Oder: Jemanden suchen, mit dem wir über unser Problem sprechen können. Wenn Eltern diese psychologischen Bewältigungshilfen ernst nehmen, wirkt es nicht mehr aufdringlich, wenn sie auch ihre Glaubenserfahrung bezeugen und etwa sagen: “Wenn ich überlege, wie ich aus einer solchen Not herauskommen und wer mir dabei helfen kann, denke ich auch an Gott und bete: “Du bist immer bei mir, gleich, ob Menschen mich verstehen oder nicht, ob es mir gut geht oder schlecht. Gib mir Mut, daß ich kämpfe mit allen meinen Kräften, und laß mich auch Menschen finden, die mir helfen. Mit dir bin ich nie allein.” Einen solchen Hinweis könnte man nachklingen lassen, indem man ein entsprechendes Lied singt – etwa: “Halte zu mir, guter Gott, heut’ den ganzen Tag” oder das Mutmachlied von Andreas Ebert: “Wenn einer sagt: ‘Ich mag dich du, ich find’ dich ehrlich gut!’ dann krieg ich eine Gänsehaut und auch ein bißchen Mut. Wenn einer sagt: ‘Ich brauch’ dich du; ich schaff’ es nicht allein.’ Dann kribbelt es in meinem Bauch, ich fühl mich nicht mehr klein. Wenn einer sagt: ‘Komm geh mit mir; zusammen sind wir was!’ Dann werd’ ich rot, weil ich mich freu’. Dann macht das Leben Spaß. Gott sagt zu dir: ‘Ich hab’ dich lieb. Ich wär’ so gern dein Freund! Und das, was du allein nicht schaffst, das schaffen wir vereint.”

3. Die Entwicklung einer positiven Lebenseinstellung – auch durch Dank und Lobpreis

Zu den frühen Entwicklungsaufgaben eines gelingenden Lebens gehört auch die Entfaltung einer positiven Lebenseinstellung. Das ist die Fähigkeit, sich über die großen und kleinen positiven Ereignisse des Lebens, über die Mitmenschen und die Natur zu freuen und Dinge zu bewundern – statt ausschließlich zweckgerichtet, gefühlsarm, blasiert oder gar zynisch zu reagieren. Kindheitserinnerungen zeigen nun, wie der religiöse Blick auf die Schönheit der Schöpfung und die Verehrungswürdigkeit ihrer Urhebers die allgemein-menschliche Erziehung zu positiver Lebenseinstellung vertiefen und verstärken kann.

Diese in Lobpreis einmündende Zustimmung zum Leben kann man besonders gut bei einer Feier aussprechen – sei es ein Erntedankfest, ein Geburtstag oder ähnliches. Man kann aber auch an eine Positiverfahrung anknüpfen, die man gerade mit dem Kind bespricht. Dies können Erfahrungen mit anderen Menschen sein oder eigene Fähigkeiten, die man bewußtmacht (etwa das Sehen, das Hören, die Geschicklichkeit der Hände) oder schöne Dinge in der Natur: das Leuchten der Sonne oder das Wachsen der Früchte (so wenn man die Entstehungsgeschichte des Brotes u. ä. bespricht). Wenn man eine solche Erfahrung besprochen oder vielleicht auch gemalt hat, kann man auch ihren Geschenkcharakter erwähnen und sagen: “Es ist wichtig, daß wir uns über die schönen Dinge freuen können. Das macht unser Leben reich. Dieses Schöne – alles, was uns freut – verdanken wir einem ganz Guten und Großen; wir haben es nicht selbst gemacht. Daß es uns, unsere Eltern, das Leben und die Welt gibt – das bewirkt er. Er schenkt es uns, damit wir uns freuen und es miteinander teilen. Wenn du willst, kannst du jetzt die Augen schließen (denn so kann man sich besser sammeln), dich vor ihm verneigen un danke sagen.” Diesen Lobpreis kann man auch mit einem Psalmvers oder einem Lied verbinden.

4. Die Bereitschaft zu prosozialem Empfinden und Verhalten – auch durch das Mitlieben mit Gott und Jesus

Eine vierte Entwicklungsaufgabe, die zur Einstiegserfahrung in den Glauben vertieft werden kann, ist der Aufbau prosozialen Empfindens und Verhaltens. Während die ältere Psychologie fast ausschließlich von antisozialem Verhalten, zumal von Aggression, sprach, betont die neuere Erforschung des Hilfeverhaltens, daß das Kind auch eine ursprüngliche, nicht erst anerzogene Bereitschaft zu Mitgefühl und damit zu Gerechtigkeit und Hilfe mitbringt – eben zu prosozialem Empfinden und Verhalten. Freilich muß die Erziehung diese Bereitschaft durch Einladen, Belohnen, Anerkennen und das Bewußtmachen ihres inneren Wertes unterstützen. Gefördert werden muß vor allem die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in andere einzufühlen. Denn dank dieser Einfühlung, dieser Empathie kann das Kind die Zufriedenheit, die es anderen durch gerechtes Handeln bereitet, oder die Erleichterung, die es ihnen durch seine Hilfe verschafft, stellvertretend als eigene Genugtuung und Erleichterung erleben – wenn es dies will. Soll es dies wollen? Bemühungen um Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft kosten doch auch Anstrengung und Verzicht. So stellt sich immer auch die Frage, ob sich Mitgefühl lohnt oder nur unser Erfolgsstreben behindert. Das Gewissen und die Goldene Regel erklären dazu, daß jeder Mensch das gleiche Lebensrecht hat. Das bestätigt auch der christliche Glaube, geht aber darüber hinaus und versichert uns, daß in den Augen Gottes jeder Mensch einen unbedingten Selbstwert besitzt und daß uns Jesus zum Mitwirken und Mitlieben einlädt. Wir wissen aus Untersuchungen der Kinderpsychotherapeutin Nicole Fabre, daß dieser Gedanke Kinder stark ansprechen kann.

In der Praxis könnte man an eine Erfahrung anknüpfen, die das Kind in seiner sozialen Entwicklung und Erziehung gerade macht: an den Versuch, bei einem Konflikt “jedem das Seine” zuzugestehen, oder an das kameradschaftliche Miteinander-Spielen oder an die Hilfe, die man Notleidenden gewährt. Im Kindergarten kann man dazu Lern- und Spieleinheiten mit Anstößen zum sozialen Lernen verwenden. Dann sollte man – möglichst ohne moralischen Zeigefinger – den Sinn und Wert solchen prosozialen Verhaltens bewußtmachen. Danach kann man auch die religiöse Seite zur Sprache bringen und etwa sagen: “Wenn wir das Recht des anderen achten und ihm helfen, wenn er uns braucht, dann machen wir ihm eine Freude – und nicht nur ihm, sondern auch dem, der uns alle liebt. Er will durch uns den anderen Gutes tun und so der Vater – man könnte auch sagen: die Mutter – aller sein. Er hat uns durch Jesus dazu aufgerufen, einander wie Brüder und Schwestern zu achten und zu unterstützen. Dazu ermutigt er uns, wenn wir im Inneren überlegen, was wir tun sollen oder was an unserem Tun gut war. Darum könnten wir ihn bitten: “Vater, laß mich gerecht und gut sein wie du.’”

Zur religiösen Erziehung gehört sicher vieles, was hier nicht erwähnt wurde. Doch wenn wir die genannten Schwerpunkte beachten und nach und nach in unsere Praxis übersetzen, fügen sich allgemeine und religiöse Erziehung zu einer inneren Einheit zusammen, die für das Kind Lebenshilfe und “Heil” bedeuten kann.

Autor

Prof. Dr. Bernhard Grom SJ, ist Professor em. für Religionspädagogik und Religionspsychologie an der Hochschule für Philosophie München.
 

Erstellt am 30. Mai 2001, zuletzt geändert am 19. November 2014