Religiöse und moralische Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

Regine Oberle

  • Aufwachsen in heutiger Zeit
  • Was versteht man heute unter Entwicklung?
  • Unterschiedliche Modelle von Entwicklungstheorien
  • Moralische Entwicklung – Wie entsteht Gewissen?
  • Wozu dienen diese Theorien?
  • Wie entwickelt sich religiöses Denken?
  • Und die Konsequenzen?

 

Möglichkeiten der Wegbegleitung

Lieber Gott!

Ich habe dir schon einmal geschrieben, erinnerst du dich? Siehst du, ich habe gehalten, was ich dir damals versprochen habe. Aber du hast mir immer noch nicht das Pferd geschickt. Wie steht`s damit? Ludwig (aus: Kinderbriefe an den lieben Gott, 1981 8 , 26)

Als Eltern, Erziehende und Lehrende begegnen uns immer wieder solche oder ähnliche Kinderäußerungen wie die des achtjährigen Ludwig. Häufig lassen sie uns schmunzeln, manchmal hinterlassen sie Ratlosigkeit. Gerne möchten wir das Kind vor Enttäuschungen bewahren, ihm ein positives und verlässliches Gottesbild vermitteln. Wie also reagieren? Es kann hilfreich sein, in solchen oder ähnlichen Situationen um den religiösen und moralischen Entwicklungsstand der Betroffenen zu wissen. Im Folgenden sollen mögliche Hilfestellungen in Form von entwicklungspsychologischen Theorien vorgestellt werden. Diese versuchen die moralische und religiöse Entwicklung im Kindes- und Jugendalter zu beschreiben. Wie meistens in Erziehungsfragen geht es nicht darum, ein “Rezeptbuch” vorzulegen. Dies würde dem Einzelnen und seiner Entwicklung sicherlich nicht gerecht werden. Vielmehr sollen die vorgestellten Erkenntnisse Möglichkeiten aufzeigen, die Heranwachsenden in ihrer je eigenen religiösen und moralischen Entwicklung partnerschaftlich zu begleiten.

Beginnen werde ich mit der Skizzierung einiger Rahmenbedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche heute oftmals aufwachsen.

Aufwachsen in heutiger Zeit

Das Aufwachsen in heutiger Zeit ist geprägt durch den Einfluss der Medien, durch Multikulturalität und nicht zuletzt durch schwierige soziale, gesellschaftliche und (umwelt-) politische Probleme, denen sich Kinder und Jugendliche stellen müssen. Im privaten Bereich werden die Heranwachsenden mit vielfältigen familiären Lebensformen konfrontiert. Eine ähnliche Entwicklung ist in der religiös gelebten Praxis erkennbar. Die traditionelle Glaubens- und Moralerziehung in der Familie findet nur noch selten statt. Der Einfluss der traditionellen Kirchen scheint zu schwinden. Anstelle der Beheimatung in der Tradition tritt der individuelle Glaube, häufig korrelierend mit einem kritischen Bewusstsein. Ein Wandel des Religionsverständnisses, weg von den traditionellen Religionen hin zur sogenannten Patchworkreligion ist zu bemerken. Hinzu kommt die im Alltag erforderliche Offenheit in der Konfrontation mit anderen Religionen (Noormann u.a., 2000, 57f.).

Die Ergebnisse der Deutschen Shell Studie “Jugend 2000″ (Deutsche Shell, 2000, 158-180) bestätigen diese Tendenzen in weiten Teilen. Sie sprechen von einem Rückgang an Glaubensvorstellungen (z.B. Zweifel am Auferstehungsglauben) und religiöser Praxis (z.B. Rückgang an Gottesdienstbesuchen und unregelmäßiges Gebet). Dabei differieren die Ergebnisse im Stadt – Land – Gefälle und zum Teil zwischen den Geschlechtern. Als Fazit wird genannt, dass die heutige Jugend über die Konfessions- und Religionsgrenzen hinweg vor allem an einem privaten Schicksalsglauben und an einem Glauben an höhere Mächte festhält.

Dabei ist die Ausbildung neuer religiöser Formen zu beobachten. (Bosold/ Kliemann, 2003, 44 u. 49f). Anton Bucher weist in seiner ebenfalls im Jahre 2000 veröffentlichten Studie auf die hohe Akzeptanz des Religionsunterrichts vor allem bei Kindern im Grundschulalter hin. Diese positive Entwicklung nimmt jedoch mit zunehmendem Alter ab. Als Fazit stellt er fest, dass vor allem dem Religionsunterricht unter den oben skizzierten schwieriger gewordenen Bedingungen eine wesentliche Aufgabe bei der religiösen Sozialisation der Kinder und Jugendlichen zukommt (Bucher, 2000).

Gerhard Schmidtchen zeigt am Beispiel ostdeutscher Jugendlicher deren Wunsch nach moralischem Handeln und Sinnfindung im Leben auf (Schmidtchen, 1997, 33). Als Beispiel sei die ungebrochene Begeisterung für Bücher und Fantasyfilme wie “Harry Potter” und” Herr der Ringe “genannt. Wenn trotz des beschriebenen Wandels die Suche nach dem Sinn des Lebens, die Frage nach dem Woher und Wohin und die Sehnsucht nach einem” Letztgültigen “offenbar bestehen bleibt, stellt sich die Frage, wie der Mensch im Laufe seines Lebens zu dem wird, der er ist (Bosold, 2003, 49-51). Die Rolle, welche die moralische und religiöse Entwicklung in diesem Entwicklungsprozess spielt bzw. spielen kann, wird im Folgenden dargelegt werden. Zunächst soll geklärt werden, was der Begriff Entwicklung heute meint.

Was versteht man heute unter Entwicklung?

Wie alle Theorien unterliegt auch der Begriff Entwicklung verschiedenen Definitionen.
Biologisch versteht man unter Entwicklung z.B. Wachstum und Entfaltung (” Der Säugling entwickelt sich prächtig! “). In der Psychologie meinte Entwicklung früher so viel wie” innere Reifung “. Bereits in der Antike gab es Lebenslaufmodelle orientiert an der Zahl 4 gemäß den Jahreszeiten; noch heute spricht man von der Blüte (Frühling) oder dem Herbst des Lebens. Isidor Sevilla teilte das menschliche Leben in sieben Abschnitte, immer sieben Jahre umfassend. 1887 veröffentlichte William Preyer eine Schrift zum Thema” Die Seele des Kindes “mit detailliert ausgearbeiteten Beobachtungen von Kleinkindern. Rousseau, der auch” der Entdecker der Kindheit “genannt wird, forderte, die Kinder in ihrer Entwicklung zu beobachten und die Erziehung den natürlichen Reifungsprozessen anzupassen. Mit dem Erwachsenenalter schien die körperliche und geistige Entwicklung abgeschlossen (Bitter, 2002, 188-193).

Im Gegensatz zur traditionellen Kinder- u. Jugendpsychologie berücksichtigt die neuere Entwicklungspsychologie die gesamte Lebensspanne, also auch die pränatale Entwicklung und das Säuglingsalter bzw. das mittlere und hohe Erwachsenenalter (Baltes, 1990). Entwicklung im heutigen Sinne bezeichnet also einen dynamischen, sich stets in Wechselbeziehung zur Umwelt vollziehenden Prozess, der das gesamte Leben umfasst. Zur Weiterentwicklung gehören Phasen der Stagnation oder auch des Rückschritts. (Bitter, 2002, 188-193).

Die Frage, wie der Mensch zu dem wird, der er ist (s.o.), ist offenbar so alt wie die Menschheit selbst. Um sie zu beantworten, entstanden bis heute verschiedene Entwicklungstheorien.

Unterschiedliche Modelle von Entwicklungstheorien

Es steht heute außer Frage, dass, wie oben beschrieben, die psychische und geistige Entwicklung eines Menschen das gesamte Leben umfasst. Die moderne Psychologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf wissenschaftlicher Basis mögliche Gesetzmäßigkeiten zu definieren. Im Laufe der Jahre formierten sich verschiedene Strömungen der Entwicklungspsychologie. Zunächst versuchte man Entwicklung in Phasen und Altersstufen zu unterteilen. Davon ausgehend, dass wesentliche Potentiale des Kindes angeboren sind, schien Entwicklung chronologisch fixierbar. Es galt als eindeutig, wie ein/e Sechsjährige/r geistig, psychisch und körperlich entwickelt sein musste, um als normal zu gelten. Als bekannter Vertreter der klassisch psychoanalytischen Entwicklungspsychologie gilt Sigmund Freud mit seiner Unterteilung der frühen Kindheit in eine orale, anale u. ödipale Phase, in Weiterführung Erikson.

Im Gegensatz dazu führen sogenannte exogene Theorien die Entwicklung des Menschen auf äußere Faktoren zurück: Der Mensch wird passiv geprägt. Watson und Skinner sprechen in diesem Zusammenhang von Konditionierung. Heute geht man davon aus, dass das Kind nicht passiv reift oder ausschließlich geprägt ist, sondern von Anfang an ein aktives und soziales Wesen ist. Ein wichtiger Vertreter letztgenannter Theorie ist Jean Piaget (Piaget, 1979). Seine Erkenntnisse führten zum Bewusstmachen kindlicher Theorien über die Herkunft und das Wesen der Dinge sowie über die Entwicklung von Moral. (Bitter, 2003,180-185).

Moralische Entwicklung – Wie entsteht Gewissen?

Sprach man früher von Gewissensbildung, war damit zumeist die Forderung nach blindem Gehorsam gemeint. Das Kind hatte ungefragt und unbegründet zu tun oder zu lassen, was die Erwachsenen bzw. die Gesellschaft von ihm forderte. Heute ist man bemüht, die Heranwachsenden in ihrer Eigenständigkeit zu stärken. Sie sollen für sich entscheiden, was sie für richtig oder falsch befinden, oder was sie glauben wollen. Gleichzeitig weiß man, dass die Weitergabe von Werten der Charakterbildung dient. Und kaum jemand bestreitet, dass gute Charaktereigenschaften und gewisse Tugenden zu einem gelungenen Leben beitragen (Bitter, 2002, 238-243).

Diese Spannung führt bei vielen Erziehenden zur Verunsicherung und Überforderung. Wie sollen sie sich in der Erziehung verhalten, damit sich die ihnen Anvertrauten zu eigenständigen und gesellschaftsfähigen Persönlichkeiten entwickeln können? Wie entwickeln sich Moralität und Gewissen bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich?

Nachhaltige Impulse zur Klärung dieser Frage gingen von Lawrence Kohlberg, in der Folge von Fritz Oser und Paul Gmünder (Entwicklung des religiösen Urteils) aus. Als Untersuchungsinstrument verwendeten sie sogenannte Dilemmageschichten. Diese Geschichten enden mit einem offenen Problem und fordern die Zuhörer auf, zu einem eigenen Urteil zu gelangen und dieses zu begründen. Zu den bekanntesten Geschichten gehört das sogenannte” Heinz – Dilemma “nach Kohlberg: Um das Leben seiner Frau zu retten, müsste Heinz in eine Apotheke einbrechen und das ihm sonst nicht zugängliche lebensnotwendige Medikament für seine Frau stehlen.

Kohlberg interviewte ungefähr siebzig 10-16jährige Kinder und Jugendliche zu der Frage, ob Heinz zu diesem Zweck stehlen dürfe und kam zu folgendem Ergebnis (Bosold/ Kliemann, 2003, 130).

Entwicklung des moralischen Urteils nach Kohlberg
Präkonventionelles (prämoralisches) Niveau

Handeln des Einzelnen orientiert sich an persönlichen Folgen.
Rollenvorschriften werden ohne Reflexion befolgt.

1. Stufe: Gut ist, was belohnt bzw. nicht bestraft wird.

“Heinz sollte besser nicht stehlen.”
2. Stufe: Gut ist, was mir nützt.

“Für seine Frau sollte er stehlen, nicht aber für einen Freund.”
Konventionelles Niveau

Die Notwendigkeit vorherrschender sozialer und rechtlicher Ordnung wird anerkannt.
Traditionelle Rollenvorschriften zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung werden befolgt.

3. Stufe: Gut ist, was gesellschaftlichen Vorstellungen entspricht.

“Für seine Frau muss man alles tun, wenn`s sein muss, auch stehlen.”
4. Stufe: Gut ist, was vorgegebenen sozialen Normen entspricht.

“Man muss sich an Gesetze halten. Stehlen ist nicht erlaubt.”
Postkonventionelles (autonomes) Niveau

Suche universeller Werte in Unabhängigkeit zur herrschenden Ordnung.
Entscheidungen liegen bewusst gewählte Werte zugrunde.

5. Stufe: Gut ist, was im Sinne der Humanität sozial ist.

“Die Grundrechte des Menschen (das Leben der Frau) haben Vorrang vor Gesetzesvorschriften und Ordnungen.”
6. Stufe: Gut ist, was ethischen Prinzipien entspricht, für die ich mich frei entscheide.

“Das menschliche Leben ist nicht verrechenbar.”

(Quelle: Bosold/ Kliemann, 2003, 130).

Kohlberg kam zu der Überzeugung, dass die Abfolge der Stufen ein festes Muster darstellt, welches nicht übersprungen oder beliebig verändert wird. Ein Kind wird demnach zunächst mit Blick auf möglichst positive persönliche Folgen handeln. Erst später weitet sich der Blick hin zu gesellschaftlichen Normen und Regeln, die es einzuhalten gilt, um schließlich auch die Sichtweise anderer einzubeziehen. Diese Entwicklung gilt es zu unterstützen, denn um tatsächlich moralisch urteilen zu können, muss man frei handeln und entscheiden können.

Fritz Oser und Paul Gmünder stellten wie Kohlberg in ihren Untersuchungen zur Entwicklung des religiösen Urteils fest, dass die gefällten Entscheidungen grundsätzlich der Suche nach Gerechtigkeit erwachsen. Dies gilt für alle Entwicklungsstufen. Zur Verdeutlichung auch hierzu eine Dilemmageschichte.

Paul, ein junger vielversprechender Arzt, gibt Gott in einem Gebet während der scheinbar ausweglosen Situation eines Flugzeugabsturzes das Versprechen, bei seiner Rettung sein weiteres Leben in den Dienst der Entwicklungshilfe zu stellen. Als Gegenleistung verspricht er, auf sein persönliches und berufliches Glück zu verzichten und seine Freundin nicht zu heiraten. Paul überlebt wie durch ein Wunder. Kurz darauf wird ihm von einer Privatklinik eine lukrative Stelle angeboten. Paul erinnert sich an sein gegebenes Versprechen.

Entwicklung des religiösen Urteils nach Fritz Oser und Paul Gmünder
Stufe 1

8 – 10 Jahre
Orientierung an absoluter Heteronomie (” Gott kann alles “-” deus ex machina “)

Der Mensch ist Gottes absoluter Macht ausgeliefert.
Gott kann direkt auf den Menschen einwirken; der Mensch besitzt aber keine Macht über Gott.
Paul muss sein Versprechen halten, sonst macht Gott, dass…

Stufe 2

8 – 18 Jahre
Orientierung an relativer Autonomie (” Ich tue, wenn du tust; du tust, wenn ich tue “-” do ut des “)

Bestrafung und Belohnung durch Gott; jedoch wechselseitige Beeinflussung von Gott und Mensch.
“Wohlstimmen Gottes” z.B. durch Wohlverhalten, Gebet, Ritual oder Verhandlung ist möglich.
Bin ich lieb, ist Gott es zu mir: Gott hat Paul geholfen, jetzt soll Paul auch Gutes tun.

Stufe 3

10 – 25 Jahre
Orientierung an absoluter Autonomie ( “Gott tut und der Mensch tut” )

Trennung von Transzendenz und Immanenz; Unabhängigkeit von Gott und Mensch.
Autonomie und Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen für sein Leben und für die Welt steht im Mittelpunkt; Gott wird verdrängt.
Ablösung von jeglichen Erziehungsautoritäten.
Paul muss sich selbst entscheiden. Geht es ihm dann schlecht, ist es sein Problem. Mit Gott hat das nichts zu tun.

Stufe 4

ab 17. Lebensjahr
Das Letztgültige als Bedingung der Möglichkeit von Autonomie ( “Der Mensch tut, weil es Gott gibt” )

Aufgabe des Anspruchs, alles einzig aus sich selbst heraus bewältigen zu können.
Leben als Geschenk Gottes. Der Mensch handelt, weil es Gott gibt.
Gott wirkt durch das Tun der Menschen.
Vielfältige religiöse Ausdrucksformen.
Gott will, dass sich Paul nach seinem Gewissen selbst entscheidet.

Stufe 5

(nicht nachgewiesen)
Integration von göttlicher und menschlicher Autonomie

Gegenseitiges Durchdringen von Transzendenz und Immanenz. Integration von Leben und Glauben.
Unbedingtes Angenommensein durch Gott, unabhängig von einer religiösen Gemeinschaft.
Paul weiß, wie er sich aus dem Glauben heraus zu entscheiden hat. Für ihn existiert kein Dilemma.

(Quelle: Noormann u.a., 2000, 62-65)

Wozu dienen diese Theorien?

Sicherlich ist man als Erziehende/r versucht, die Heranwachsenden und sich selbst in die oben dargestellten Stufenmodelle einzuordnen. Die vorgestellten Theorien fördern das Verständnis für den Denkhorizont von Kindern und Jugendlichen und helfen, die eigene religiöse und moralische Entwicklung zu reflektieren (Bosold/ Kliemann, 2003, 135f). Dennoch können sie nur Orientierungshilfe sein. Bei den vorgestellten Untersuchungen wurde nämlich lediglich die jeweilige Denkleistung beachtet, ohne emotionale Faktoren einzubeziehen. Wie sehr aber gerade die Gefühle unsere Entscheidungen beeinflussen können, ist hinlänglich bekannt und wird täglich erfahrbar.

Eine andere Schwierigkeit liegt darin, dass nicht bekannt ist, inwieweit die Wertung durch die Autoren die Stufenreihenfolge bedingt hat. Es bleibt offen, ob die Befragten sich verständlich ausgedrückt haben bzw. ob das Gesagte so verstanden wurde, wie es gemeint war. Ebenso bleibt die Zuordnung der Stufen zu verschiedenen Lebensaltern fragwürdig. Zudem wird bei den vorgestellten konstruierten Dilemmageschichten die tatsächliche Verhaltensebene der Befragten (Wie würden sie tatsächlich in der Situation handeln?) vernachlässigt.

Carol Gilligans machte diesbezüglich vor allem auf die unterschiedliche Moralentwicklung von Mädchen und Frauen gegenüber Jungen und Männern aufmerksam. Sie benutzte für ihre Untersuchungen reale Fragestellungen in moralischen Konfliktsituationen wie z.B. “Soll eine bestehende Schwangerschaft abgebrochen werden?” (Bosold/ Kliemann, 2003, 129-136). Dennoch, bei Berücksichtigung der oben genannten Schwachpunkte und der Vermeidung, Heranwachsende zu klassifizieren, stellen die Theorien zur moralischen und religiösen Urteilsfähigkeit einen hilfreichen Leitfaden dar (s.o.). Gilt Gleiches für die Theorien zur Entwicklung des religiösen Denkens?

Wie entwickelt sich religiöses Denken?

Analog der Theorien zur moralischen Entwicklung galt bis in die 50/60er Jahre hinein auch bei den religiösen Reifungstheorien die Unterteilung nach Phasen und Altersstufen. Am Ende der Entwicklung stand der “im Glauben gereifte fertige Erwachsene” . Dabei ging man davon aus, dass jedes Kind in einem christlichen Milieu aufwächst. Erst Goldman entwickelte 1964 basierend auf Piaget ein dreistufiges Entwicklungsmodell religiösen Denkens. Dieses Modell vernachlässigte abermals die emotionale Ebene.

Beeinflusst von Kohlberg, Piaget und Erikson erarbeitete James W. Fowler (1991) eine strukturgenetische Theorie der Glaubensentwicklung. Sein Interesse lag weniger auf der Untersuchung konkreter Glaubensinhalte oder religiöser Bekenntnisse als vielmehr auf dem Glauben (faith) im Sinne von existentieller Sinnsuche und -findung (Bitter, 2002, 205f). Diese Vorgehensweise scheint der Situation, mit der Heranwachsende heute konfrontiert sind, angemessen zu sein. Den Menschen sieht Fowler als “kognitive und emotionale Ganzheit” . Fowler versuchte die entwicklungstheoretischen Erkenntnisse mit Theorien des “Lebensglaubens” zu verknüpfen. Er führte biografische Interviews durch und entwarf sechs Entwicklungsstufen des Glaubens. Dabei kam er zu ähnlichen Ergebnissen wie die oben vorgestellten Theorien. (Noormann u.a., 2000, 65-70).

Fowler geht davon aus, dass sich durch das im Säuglingsalter erfahrene Urvertrauen zu den Bezugspersonen bereits ein undifferenzierter Glaube ausprägt. Dieser Glaube kann sich in der frühen Kindheit vor allem durch Erzählen von Geschichten weiterentwickeln. Mit Beginn des Schulalters, ab dem sechsten Lebensjahr, spricht Fowler vom sogenannten mythisch-wörtlichen Glauben. Er betont, dass Kinder dieses Alters religiöse Symbole noch wortwörtlich nehmen, deren Sinngehalt also noch nicht verstehen. Auf die Frage, warum nur Mose Gott am Berg Sinai hören konnte, nicht aber die Menschen drumherum, wäre eine typische Antwort die, dass Gott zu leise gesprochen hat.

Das Jugendalter ist nach Fowler geprägt von der Suche nach einer stimmigen Identität. Dies geschieht sowohl in Abgrenzung zu Autoritäten (Eltern, der Kirche, etc.) als auch durch die Suche nach Vorbildern (Popstars als Idole). Das Vorstellen von Persönlichkeiten des Glaubens (Dietrich Bonhoeffer, Ruth Pfau) kann hilfreich zur Identitätsfindung beitragen. Glauben und Werte werden im Jugendalter noch weitgehend unreflektiert vermischt.

Das frühe Erwachsenenalter ist nach Fowler geprägt vom individuell-reflektierenden Glauben. Dieser ist durchsetzt von Zweifeln und kritischer Reflexion. Man begreift sich als Teil eines sozialen Systems und trifft eigenverantwortliche Entscheidungen (z.B. bezüglich des Lebensstils). Der junge Erwachsene engagiert sich sowohl beruflich als auch in Beziehungen. Der Glaube spielt dabei häufig eine untergeordnete Rolle. Meist im mittleren Lebensabschnitt oder später gehen Glaube und gelebter Alltag eine Verbindung ein. Mit den Mitmenschen geht man zumeist toleranter um, und die Schwierigkeiten des Alltags meistert man häufig gelassener. Dabei ist man auf der Suche nach Wahrheit. In seltenen Fällen bildet sich ein universaler Glaube heraus (Bsp.: Gandhi, Mutter Teresa von Kalkutta). Eine dichte und andauernde Gottesbeziehung entsteht, aus der heraus sich ein gelebtes Engagement für andere entwickelt. Die Kritik an Fowlers Modell reicht von zu starken Pauschalisierungen bis zur geringen Nachweisbarkeit der Erkenntnisse außerhalb seiner Untersuchung (Bosold/ Kliemann, 2003, 131-136).

Und die Konsequenzen?

Das Positive an den bestehenden Stufentheorien, wie sie bisher vorgestellt wurden, ist sicherlich, dass in den letzten Jahrzehnten verstärkt die Kinder und Jugendlichen und ihre Entwicklung wahrgenommen wurden. Mag dies zunächst in der Aufteilung von Entwicklungsphasen und Altersstufen geschehen sein, vollzog sich doch recht bald die vom Alter weitgehend unabhängige Unterteilung in Stufen. Heute steht außer Frage, dass Kinder und Jugendliche eigene Sinn- und Lebensentwürfe haben, dass sie anders fühlen und denken als “Erwachsene” und dementsprechend andere Handlungsstrategien entwickeln. Erziehenden sollte bewusst sein, dass Heranwachsende nicht einfach die religiösen und moralischen Vorstellungen der Erwachsenen übernehmen, sondern diese interpretieren und in eigene Verstehensmuster umsetzen. Ludwigs Kinderbrief zu Beginn macht dies deutlich. Es ist die Aufgabe Erziehender, die Religiosität und Moralität von Kindern und Jugendlichen ernst- und wahrzunehmen. Ihre Denk- und Begründungsstruktur gilt es zu verstehen und vor allem zu respektieren; ebenso ihre Weise des Erlebens und Handelns. (Grom, 2000 5).

Friedrich Schweitzer weist in diesem Zusammenhang auf die zu berücksichtigende individuelle Biografie hin (Schweitzer, 19984). Jeder Mensch unterliegt verschiedenen Einflüssen, jeder denkt, fühlt und handelt unterschiedlich, erlebt anders und nimmt das Erlebte anders wahr. So bleibt auch die religiöse und moralische Entwicklung des Einzelnen stets individuell. Eine allgemein gültige (pauschalisierende) Entwicklungsvorhersage kann trotz vorliegender Entwicklungstheorien nicht getroffen werden. Ebenso verläuft die psychische Entwicklung eines Menschen nicht unbedingt analog zur Glaubens- und Moralentwicklung. Ein körperlich und geistig gereifter Erwachsener, welcher seinen Lebensalltag bewältigt, kann durchaus einem “kindlichen Glauben” verhaftet sein (s.o.).

Außerdem denkt und handelt der Mensch in verschiedenen Lebenssituationen unvorhersehbar. So erlebt er ein Leben lang neben Vorwärtskommen Rückschläge und Stagnation. Erziehende sollten sich bewusst sein, dass sie selbst keine fertig gereiften Erwachsenen sind. Entwicklung ist nicht gleichzusetzen mit “Reifung” (s. Definitionen), religiöse und moralische Entwicklungsstufen sind nicht notwendiger Weise an bestimmte Lebensalter geknüpft. Die verschiedenen Theorien dienen daher zur Orientierung. Sie können den Denkhorizont von Kindern und Jugendlichen verständlicher machen, aber auch die Entwicklung unseres eigenen religiösen Lebensweges reflektieren helfen. (Bosold/ Kliemann, 2003, 135f).

Möglichkeiten der Wegbegleitung

In dem Bewusstsein, selbst ein Leben lang Suchende/r zu sein, sind Erziehende gut dagegen gefeit, ihre Schutzbefohlenen in Fragen der religiösen und moralischen Entwicklung zu überfordern. Zugleich dürfen sie zu ihren eigenen Unsicherheiten, Schwächen und Glaubenszweifeln stehen. Dabei bleibt außer Frage, dass Eltern bzw. die Familie den Glauben und das moralische Urteilsvermögen des Kindes entscheidend prägen können. Wurzel kindlicher Religiosität und Gewissensbildung kann sicherlich das von den Eltern vermittelte Grundvertrauen sein. Die erfahrene Geborgenheit, das Sich-Angenommen-Fühlen führt zur Selbstbejahung. Neben den nahen Bezugspersonen sind an dieser Stelle ebenso die in den Institutionen wie Kindergarten, Schule oder Gemeinde Tätigen gefordert. Wesentlich für die religiöse und moralische Entwicklung ist die Vermittlung einer positiven Lebenseinstellung. Lebensfreude und die Erfahrung bedingungsloser Liebe führen zu einer religiös und moralisch motivierten Verantwortungsbereitschaft für andere. Lebensfreude und Selbstvertrauen gilt es zu vermitteln. Dazu benötigt man vor allem Zeit.
Zeit zum…

  • Zuhören und gegenseitigen Verstehen
  • Geschichten erzählen und Philosophieren
  • (kontroversen) Diskutieren und Kennen lernen neuer bzw. anderer Sichtweisen
  • Feiern und Fröhlichsein
  • gemeinsamen Gebet und Gottesdienst feiern
  • Spielen und Musizieren
  • gemeinsamen Natur erleben und zum Staunen
  • Ruhig werden und Atem holen
  • Begegnen, auch mit Menschen anderer Kulturen und Religionen
  • gemeinsamen Regeln aufstellen für ein gutes Miteinander
  • Kennen lernen möglicher Vorbilder

Diese unstrukturierten Stichpunkte mögen an dieser Stelle als Anregung genügen.
Letztendlich entscheiden neben der kognitiven Entwicklung vor allem die Lebensgeschichte des Einzelnen, die Begegnung mit anderen und nicht zuletzt emotionale Erfahrungen über die Entwicklung von Moralität und Religiosität. Es gilt also den Blick für das Unsichtbare in der religiösen und moralischen Erziehung zu entwickeln (Kuld, 2001), um zu gegenseitigen Wegbegleitern auf den je eigenen Lebens- und Glaubenswegen werden zu können.
 

Literatur

  • Baltes, Paul B. (1990). Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. In: Psychologische Rundschau 41, 1-24.
  • Bitter, Gottfried u.a. (Hrsg.) (2002). Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe. München.
  • Bosold, Iris/ Kliemann, Peter (Hrsg.) (2003). Ach, Sie unterrichten Religion?. München.
  • Bucher, Anton (2000). Religionsunterricht zwischen Lernfach und Lebenshilfe: eine empirische Untersuchung zum katholischen Religionsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart – Berlin – Köln.
  • Büttner, Gerhard/ Dieterich, Veit-Jakobus (Hrsg.) (2000). Die Religiöse Entwicklung des Menschen: ein Grundkurs. Stuttgart.
  • Deutsche Shell (Hrsg.) (2000). Jugend 2000. Bd I. Opladen.
  • Fowler, James W. (2000). Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn. Gütersloh.
  • Fraas, Hans-Jürgen (1973). Religiöse Erziehung und Sozialisation im Kindesalter. Göttingen.
  • Gilligan, Carol (19904). Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau. München.
  • Grom, Bernhard (20005). Religionspädagogische Psychologie des Kleinkind-, Schul- und Jugendalters. Düsseldorf.
  • Kinderbriefe an den lieben Gott (19818). Gütersloh.
  • Kuld, Lothar (2001). Das Entscheidende ist unsichtbar. Wie Kinder und Jugendliche Religion sehen. München.
  • Noormann, Harry u.a. (Hrsg.) (2000). Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik. Stuttgart/ Berlin/ Köln.
  • Oser, Fritz/ Gmünder, Paul (19882). Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz. Gütersloh.
  • Piaget, Jean (1979). Das moralische Urteil des Kindes. Frankfurt/M.
  • Schmidtchen, Gerhard (1997). Wie weit ist der Weg nach Deutschland? Sozialpsychologie der Jugend in der postsozialistischen Welt. Opladen.
  • Schweitzer, Friedrich (19984). Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter. Gütersloh.
  • Autorin
  • Regine Oberle, Jg. 1961, verh., 2 Kinder, Dipl.-Päd., Lehrerin, Dozentin für Katholische Religionspädagogik an der PH Heidelberg

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Erstellt am 22. September 2004, zuletzt geändert am 3. Februar 2010