Was bedeutet heute “Glück” für Kinder? – Essay
Prof. Dr. Sabine Andresen , Prof. Dr. Klaus Hurrelmann
Unter welchen Bedingungen können Kinder heute ein Gefühl von “Glück” erfahren? Neuere Untersuchungen bemühen sich erfolgreich darum, die Dimensionen des Wohlbefindens durch Direktbefragungen von Kindern zu erfassen.
Einleitung
In ihrem Roman “Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen” erzählt Mirjam Pressler die Geschichte eines Mädchens nach dem Zweiten Weltkrieg.[1] Halinka lebt von ihrer Mutter getrennt in einem Heim. Ihre Mutter hat der Krieg krank gemacht, sie ist schwer traumatisiert und hat nicht mehr die Kraft, sich um ihre Tochter zu kümmern. Aber Halinkas Tante hat sich ihrer angenommen und besucht sie regelmäßig. Halinka sehnt diese Besuche herbei, denn es ist ein unangenehmes und düsteres Leben in ihrem Heim. Halinka lebt in einer Welt, in der sie sich auf keinen der Erwachsenen im Heimpersonal verlassen kann. Keiner von ihnen taugt zum Vorbild, keiner flößt Vertrauen ein. Im Gegenteil: Übergriffe und Schikanierungen sind an der Tagesordnung. In der Heimwelt agieren auch die Kinder gegeneinander und machen sich das Leben zur Hölle.
Kinderglück in der Kinderliteratur
Mirjam Pressler führt ihre jungen Leserinnen und Leser in eine bedrohliche Welt, in der eine bedrückende und triste Stimmung herrscht. Sie erzählt die Geschichte eines Kindes, das sich in dieser widrigen Umwelt behauptet und am Ende sein Glück findet, obwohl die Erfahrung von geschützter und ungefährdeter Kindheit nicht existiert, die erlebte Kindheit fragil und die Bedingungen des Lebens prekär sind. Halinka kann sich trotz alledem behaupten, weil sie ihre Tante als absolut verlässliche und starke Bezugsperson hat. Eine unabhängige Frau ist diese Tante, skurril und schräg, aber abgeklärt, lebensklug und sehr weise. Die Tante ist ledig. Sie müsste eine Ehe eingehen, nur dann dürfte sie nach den gesetzlichen Vorschriften Halinka als Pflegekind mit zu sich nehmen. Die Tante will aber nicht heiraten. Zwar wünscht sie sich ebenso wie Halinka, mit ihr immer zusammen zu sein. Aber sie hat ihre Prinzipien, sie heiratet nicht, und deshalb bleibt Halinka im Heim. Da die Tante unverbrüchlich zu Halinka steht, stärken sie sich beide in ihrer verlässlichen Beziehung.
Halinka kommt nachts im Schlafsaal nicht zur Ruhe. Auch dort wird sie ständig gegängelt und geärgert. Und dann ist da noch die Mitbewohnerin, ein etwa gleichaltriges Mädchen Renate, das auch allein ist, weil seine Mutter im Gefängnis sitzt. Dieses Mädchen weint jede Nacht bitterlich. Halinka flieht deshalb aus dem Schlafsaal und verbringt Nacht für Nacht in einem Versteck auf dem Dachboden. Dort schreibt sie Tagebuch und hält alle ihre Gedanken, Hoffnungen und Ängste fest.
Eines Nachts hat Halinka derartig großes Mitleid mit der weinenden Renate, dass sie sie mit in ihr Versteck nimmt. Das wird der Beginn einer heimlichen und deshalb umso festeren Freundschaft, die beide gegen die Unbilden des Heimes abschirmt und zu sich finden lässt. Besiegelt wird die Freundschaft mit dem Vorschlag von Renate, dass die beiden Kinder sich in ihrem geheimen Versteck etwas besonders Grausames und Schlimmes voneinander erzählen. Diese Probe schweißt sie zusammen, denn nun haben sie schon viele gemeinsame Geheimnisse. Das macht sie immun gegen die Drangsalierungen und Erniedrigungen des Heimpersonals und der anderen Kinder.
Freundschaft – das ist bei diesen beiden Mädchen die radikale Entscheidung, sich vorbehaltlos zu vertrauen, sich damit eine Blöße zu geben und sich einander auszuliefern, sich aber eben hierdurch auf den anderen felsenfest verlassen zu können. Freundschaft ist zugleich der Auslöser für Halinkas Empfinden von Glück. In Mirjam Presslers Geschichte geht Halinkas Glück auf Beziehungen zurück: auf die verlässliche Tante als bedeutsamer erwachsener Person und auf den intensiven, selbst gestalteten freundschaftlichen Kontakt zu Renate als absolut vertrauter Gleichaltriger. Mit dieser doppelten Absicherung in festen sozialen Verankerungen, zum einen zu einer Eltern-(Ersatz-)Person und zum anderen zu einer selbst gewählten Freundin, wird es Halinka möglich, ein Glücksempfinden zu erleben. Trotz der äußerst ungünstigen Umstände, die sie im Heim antrifft, gelingt es ihr durch diese beiden sozialen Anker, ihr eigenes Leben zu gestalten, sich selbst als eine individuell wertvolle Persönlichkeit mit eigener Identität zu erfahren, die von anderen geschätzt wird, und die schönen Erfahrungen zu genießen. Die weise Tante hat dafür den passenden Spruch: “Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen.”
Studien zum Glück von Kindern
Das seltene Ereignis “Glück” verweilen zu lassen und ihm “einen Stuhl” hinzustellen – diese literarische Metapher beschreibt das, was in der wissenschaftlichen Forschung als “Selbstbehauptung” und “Selbstwirksamkeit” bezeichnet wird. Glück ist, wenn ein Mensch sich wohlfühlt, weil er sozial sicher eingebunden ist und zugleich einige besonders wichtige und die für das (Über-)Leben bedeutsame Kompetenzen und Ressourcen beeinflussen kann. Glück ist das Gefühl von Selbstbeherrschung in gesicherter Autonomie, von Lebensfreude mit festem sozialem Halt.
Wie Mirjam Pressler in ihrem Roman so wunderbar anschaulich herausarbeitet, übersteht Halinka die Krisen ihres Heimaufenthaltes vor allem deshalb, weil sie die tröstenden und lebenspraktischen Weisheiten ihrer Tante beherzigt, an die sie eine sichere Bindung hat. Die vielen gemeinsamen Erlebnisse während der Besuche der Tante geben Halinka die Sicherheit, eine Zukunft mit dieser Tante als signifikanter erwachsener Bezugsperson zu haben. Halinka entwickelt zusätzlich zu diesem Zukunftsvertrauen in dem Moment auch noch ein Selbstwertgefühl, in dem es ihr gelingt, Freundschaft mit einem anderen Mädchen zu schließen. Dadurch gelingt es ihr, sich selbst als handelnd und aktiv wirksam wahrzunehmen. Zwar bleiben die Rahmenbedingungen des Heimlebens äußerst schwierig. Aber sie stehen dem Lebensgefühl Glück nicht mehr im Weg: Das Glück baut sich auf Beziehungen von hoher Qualität auf, in denen Selbstwirksamkeit erfahren wird.
Wissenschaftliche Studien bestätigen das. Sie zeigen die Bedeutung von Beziehungen und Vertrauen als Basis für das Glück von Kindern – so etwa die erst vor kurzer Zeit vorgelegte glückspsychologische Studie des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF).[2] In dieser von Anton Bucher geleiteten Untersuchung – der bisher einzigen in Deutschland zu explizit diesem Thema – wurden Kinder und Eltern zu ihrem subjektiven Glücksempfinden befragt. Im Vordergrund des Interesses stand die von den Kindern selbst als “Glück” identifizierte Befindlichkeit.
Buchers Studie zeigt: Die Beziehungen zu Mutter und Vater als wichtigste Bezugspersonen erweisen sich als ausschlaggebend für das Glücksempfinden der Kinder. “Kinder sind glücklich, wenn sie daheim gelobt werden, wenn sie spüren, dass ihnen Vater und Mutter Liebe zeigen, zuhause gelacht, mit ihnen gemeinsam gespielt oder gelernt wird.”[3] Außerdem sind nach dieser Studie Freundschaften und das positive Erleben der eigenen Identität als unverwechselbare Persönlichkeit in Kindergarten und Schule wesentlich für Wohlbefinden und Glücksgefühle.
Die Arbeit von Bucher ist typisch für die Art und Weise, wie heute in der interdisziplinären wissenschaftlichen Forschung das “Glück” von Kindern untersucht wird. Es geht um die ganz subjektiven Einschätzungen der Kinder. Die Bewertung der Kinder ihrer eigenen Lebenssituation wird also von den Forscherinnen und Forschern unmittelbar ernst genommen. Nicht die vom Forscherteam eingeschätzten objektiven Bedingungen sind es, die über Glück oder Nicht-Glück entscheiden, sondern ausschließlich die persönlichen Bewertungen des Kindes selbst.
Mehr und mehr wird in der internationalen Forschung das Konzept des “Wohlbefindens” (well-being) als Annäherung an das Konzept “Glück” verwendet. Damit wird sichergestellt, dass keine mystifizierende oder glorifizierende Vorstellung mit Glück verbunden ist, sondern Dimensionen und Parameter benannt werden können, die das subjektive Gefühl von Zugehörigkeit, Angenommensein, Anerkennung und Selbstvertrauen ausdrücken. In dem Konzept “Wohlbefinden” sind diese Dimensionen alle enthalten. Zugleich ermöglicht es, zwischen der subjektiven Einschätzung und der objektiven Lage zu unterscheiden und diese beiden Größen miteinander in Beziehung zu setzen. So wie es die Autorin Pressler in ihrem Roman tut, kann also auch die wissenschaftliche Forschung identifizieren, welche objektiven Lebensbedingungen für das Entstehen von Wohlbefinden und Glück von Bedeutung sind und unter welchen Bedingungen auch in widrigen Lebensumständen ein subjektives Wohlbefinden (“Glück”) möglich ist.
Das Bemerkenswerte an diesem neuen Ansatz der interdisziplinären Kinderforschung ist, dass keine Unterscheidung mehr vorgenommen wird zwischen der Erfassung von Wohlbefinden und Glück bei Kindern und bei Erwachsenen. Die theoretischen Ansätze und methodischen Vorgehensweisen sind identisch. Damit wird nicht außer Acht gelassen, dass Kinder sich in einer anderen Lebensphase als Erwachsene befinden, aber es wird demonstrativ zum Ausdruck gebracht, dass sie vollwertige Menschen mit subjektiver Existenzberechtigung und persönlicher Lebensperspektive sind. Wenn also die Frage beantwortet werden soll, was heute “Glück” für Kinder bedeutet, dann werden in der wissenschaftlichen Forschung keine noch so emphatischen Einschätzungen von Wissenschaftlern vorgetragen, sondern authentische Einschätzungen von Kindern.
Um auch empirisch so vorgehen zu können, muss natürlich geklärt werden, wie Wohlbefinden definiert werden kann, ob und wie es zu messen ist und nicht zuletzt, welchen Wert Erkenntnisse über das Wohlbefinden von Kindern haben und welche pädagogischen und politischen Schlussfolgerungen sich daraus ergeben. Allen diesen Herausforderungen stellt sich die heutige interdisziplinäre Kinderforschung. Sie behandelt in diesem Zusammenhang auch direkte Fragen nach dem Glück (happiness), nach dem Genuss (Hedonismus) oder nach dem Zusammenhang von beidem, und sie verbindet diese Fragen mit der nach der Subjektivität, der persönlichen Integrität und Identität. Diese breite Orientierung ist typisch, denn es laufen gegenwärtig sozialphilosophische, entwicklungspsychologische, soziologische und auch pädagogische Stränge zusammen. Lange wurde in diesen Disziplinen ausschließlich zum Wohlbefinden von Erwachsenen geforscht, weil Kinder lediglich als “unfertige Erwachsene” angesehen wurden. Inzwischen hat sich die Perspektive jedoch verschoben. Die subjektive Sicht der Kinder gewinnt an Bedeutung. Der israelische Kindheitsforscher Asher Ben-Arieh spricht von einem regelrechten wissenschaftlichen Perspektivwechsel, der vor dem Hintergrund schärfer werdender Ungleichheiten in allen hoch entwickelten Gesellschaften den Kindern eine eigene Stimme gibt.[4] Unter diesen Umständen haben sich die Verwirklichungschancen für Kinder stark verändert, sodass die Fragen nach Lebensqualität und subjektivem Wohlbefinden der jüngsten Generation eine neue Brisanz bekommen haben.
Die subjektive Perspektive der Kinder stark zu machen bedeutet nicht, relevante Kontexte und die darin eingelagerten Perspektiven der Erwachsenen zu ignorieren. Im Gegenteil: Wie schon erwähnt, spielt die Kontrastierung von subjektiven Kindersichten und objektiven – das heißt vom Forscher erfassten – Lebensbedingungen eine entscheidende Rolle. Es ist elementar wichtig zu klären, wie etwa das Wohlbefinden von Kindern mit dem der Erwachsenen, insbesondere der Eltern, zusammenhängt. Ebenso ist wichtig, die Bedingungen in den Erziehungs- und Bildungsinstitutionen zu analysieren – und natürlich auch, wie Familie und Institutionen zusammenspielen. So lassen sich zum Beispiel aus dem qualitativen Forschungsprojekt zu “Familien als Akteure in der Ganztagsgrundschule”[5] Schlussfolgerungen ableiten, die den Zusammenhang kindlichen und elterlichen Wohlbefindens aufzeigen. In ihrer Bewertung von Ganztagsschulen und bei der Entscheidung, das Kind für den Ganztagsbereich etwa einer Offenen Ganztagsgrundschule (OGS) anzumelden, rangiert bei Eltern das Kriterium “Wohlbefinden des Kindes” weit oben.
World Vision Kinderstudien
Die ausführlichsten und differenziertesten Untersuchungen zum Wohlbefinden und zur Lebensqualität der Angehörigen der jüngsten Generation in Deutschland kommen in den vergangenen Jahren aus den Kinderstudien, die das international tätige Kinderhilfswerk World Vision in Auftrag gegeben hat. World Vision Deutschland hat nach dem gleichen Muster wie die Shell Jugendstudien ein unabhängiges Wissenschaftlerteam beauftragt, zusammen mit einem erfahrenen Forschungsinstitut Repräsentativbefragungen von sechs- bis elfjährigen Kindern in ganz Deutschland durchzuführen. Zusätzlich – auch hier nach dem Muster der Shell Jugendstudien – werden Fallstudien von Kindern erstellt, ausführliche Porträts, die auf mehrstündigen und meist auch mehrtägigen Kontakten zu Kindern in dieser Altersgruppe beruhen.
Die aufwändig gestalteten World Vision Kinderstudien wurden 2007 und 2010 zum ersten Mal vorgelegt.[6] Sie sollen künftig im Abstand von vier Jahren ständig wiederholt werden. Hierdurch wird es möglich, Kindern in Deutschland die von vielen Forschern geforderte “öffentliche Stimme” zu geben. In die World Vision Kinderstudien gehen die Erkenntnisse der aktuellen methodischen Ansätze in diesem Bereich ein. Mit einem Stab von über 450 sorgfältig geschulten Interviewerinnen und Interviewern hat das Institut TNS Infratest Sozialforschung die Direktbefragungen der Kinder in den Elternhäusern vorgenommen. Schon alleine durch diese Vorgehensweise wird symbolisch unterstrichen, wie ernst die Angehörigen der jungen Generation genommen werden. Sie werden nach genau den gleichen methodischen Verfahren befragt, wie sie auch für alle anderen Bevölkerungsgruppen typisch sind. Die wissenschaftliche Leitung der beiden World Vision Kinderstudien lag in den Händen der Autoren dieses Beitrags.
Die World Vision Kinderstudien für Deutschland haben in Politik, Öffentlichkeit und Praxis ein sehr großes Echo gefunden. Wir haben darin nicht direkt die Perspektive von Kindern auf “Glück” untersucht, sondern sind den erwähnten internationalen Ansätzen gefolgt und haben das subjektive Wohlbefinden in den Vordergrund gestellt. Gleichzeitig wurden die Untersuchungen so angelegt, dass den Bedingungen nachgespürt wurde, die gegeben sein müssen, um das subjektive Wohlbefinden zu sichern, das wir als Voraussetzung für Glücksempfinden definieren. Wichtig für die Forschung in diesem Bereich ist es, treffsichere Definitionen zu finden, um einen Maßstab zu entwickeln, der unterschiedliche Ausprägungen von Wohlbefinden abbilden kann. Dazu sind die Indikatoren genau zu benennen, die verschiedene Dimensionen des Wohlbefindens bezeichnen.
Wir konnten uns bei der Anlage der World Vision Kinderstudien an international vergleichenden Untersuchungen orientieren. Meilensteine setzten hier vor allem Untersuchungen des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) und der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD). Eine bahnbrechende Untersuchung zur Erhebung und Analyse von Wohlbefinden in den Industrieländern war die UNICEF-Studie “Child Poverty in Perspective: An Overview of Child Well-being in Rich Countries” aus dem Jahr 2007.[7] Die darin verarbeiteten Dimensionen zur Erfassung des Wohlbefindens schlagen sich auch in unseren Studien nieder. So haben wir Wohlbefinden aus Sicht der Kinder als Zufriedenheit in drei für Kinderleben wesentlichen Bereichen definiert: Elternhaus, Schule und Freunde. Wir fragten nach der Zufriedenheit mit den Freiheiten, die Kindern im Alltag von Eltern gewährt werden, nach ihrem allgemeinen Wohlbefinden in der Schule und nach der Zufriedenheit mit der Anzahl der Freundinnen und Freunde.
Freiheitlicher Erziehungsstil der Eltern, das Klima in der Schule und die Bedeutung der Freunde zielen auf die Beziehungsqualitäten, die Kinder mit Erwachsenen und Gleichaltrigen erleben. Die Ergebnisse des allgemeinen Wohlbefindens, in dem alle drei Dimensionen berücksichtigt werden, waren eindrucksvoll: Die überwiegende Mehrheit von fast neunzig Prozent der Kinder fühlte sich sehr wohl oder zumindest ziemlich wohl.
Ein wichtiger Faktor, der den Mangel an Wohlbefinden bei Kindern erklärt, ist die soziale Herkunft. Kinder, die sich unwohl fühlen, stammen häufig aus Elternhäusern mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, sie haben bereits Armut erlebt oder die Verunsicherung der Eltern durch Arbeitslosigkeit. Diesen Kindern fehlen die stabilisierenden und stärkenden sozialen Kontakte zu wichtigen Bezugspersonen, die einen Gegenpol zu den verunsichernden Lebensbedingungen bilden. Die World Vision Kinderstudien zeigen deutlich, wie wichtig soziale Beziehungsinseln als Ankerpunkte für die Entwicklung von Kindern und ihren Aufbau eines Selbstwertgefühls, eines Selbstbildes und persönlicher Integrität sind. Die Studien verdeutlichen auch, welche entscheidende Rolle Freundschaft und damit vertraute soziale Kontakte hierfür spielen. Mirjam Pressler hat in ihrem Roman sehr geschickt viele Dimensionen herausgearbeitet, die Wohlbefinden und Glück von Kindern sichern und die durch die neuere interdisziplinäre Kinderforschung bestätigt werden.
Was ist “Glück” für Kinder?
Was bedeutet also heute “Glück” für Kinder? In diesem Beitrag haben wir feststellen können, dass frappierende Übereinstimmungen zwischen literarischen und wissenschaftlichen Zugängen existieren. Glück von Kindern heute bedeutet, sich der elementaren Bedürfnisse sicher und sozial eingebunden und anerkannt zu sein. Der elfjährige Michael bringt das auf seine Weise zum Ausdruck, als er in der World Vision Kinderstudie gebeten wird, die fünf Dinge aufzumalen, die ein Kind braucht, um gut und glücklich leben zu können. Er malt und kommentiert eine Banane (“Zum Überleben, was zu essen – lecker”), ein Glas Wasser (“Zum Trinken, also viel trinken auch”), ein Haus (“Dach überm Kopf, also ein Haus”), ein Spielzeug (“Das ist ein Spielzeug”) und einen Freund (“Und ‘nen Freund”).[8]
Das ist nicht weit entfernt von dem, was das Heimkind Halinka in Mirjam Presslers Roman gesagt hätte. Die elementaren Bedürfnisse von Sicherheit, Nahrung, Schutz, Anregung und sozialer Einbindung müssen erfüllt sein, damit die Voraussetzungen für Glück gegeben sind. Die große Mehrheit der Kinder ist sich einig, es sind nicht alleine die materiellen Bedingungen, die gute Voraussetzungen schaffen, doch sie sind schon eine zentrale Grundbedingung.
In der World Vision Kinderstudie machen die Sechs- bis Elfjährigen deutlich, wie wichtig ihnen gute ökonomische Bedingungen der Familienhaushalte sind, um Wohlbefinden und Glück herstellen zu können. Armut ist für die befragten Kinder jedenfalls eine Horrorvorstellung, der sie unbedingt entrinnen wollen. Sie haben Extremvorstellungen von “sehr arm” und “sehr reich”, die das unterstreichen. Arm zu sein ist eine elementare Katastrophe, reich zu sein ist ein traumhafter und geradezu surrealer Zustand. So wie es der elfjährige Sebastian formuliert, als er gefragt wird, was arme und reiche Menschen kennzeichnet: “Arm. Also wenn jemand kein Geld hat, nix, vielleicht nur einen Cent und nix kaufen kann, wohnt auf der Straße und ist ein Penner. Und der macht immer so Musik und muss Geld verdienen. Und reich ist, wenn sie ganz viel Arbeit gemacht haben und Gymnasium geschafft haben, dann haben sie Tausenderscheine, Hunderte von Tausenderscheinen, mehr, 300, 400, 500, 1000 Millionen, Trilliarden von Tausenderscheinen.”[9]
Die elementaren Bedürfnisse kann der zehnjährige Sebastian klar benennen: “Also, eine Badewanne braucht jeder zum Baden, damit sie gut riechen. Ein Telefon braucht jeder zu Telefonieren. ‘Ne Brille braucht jeder, also wo die Augen nicht so gut sind. Ein Hemd, also ein Pulli, damit dem nicht kalt ist. Teller brauch ich zum Essen, und Essen braucht er, damit er gesund bleibt.”[10]
Die World Vision Kinderstudie zeigt zugleich klar, wie wichtig in den Augen der Kinder neben den materiellen und finanziellen Voraussetzungen die immateriellen sind, um glücklich zu sein. Sie können sogar störende und irritierende äußere Lebensbedingungen zurückdrängen und weniger bedeutsam werden lassen. Hier bestätigt die wissenschaftliche Kinderforschung die Erzählung im Roman von Mirjam Pressler, in dem dieses Spannungsverhältnis voll ausgezeichnet wird. Studien wie die unsere zeigen zugleich, wie ungewiss für die Kinder heute die Sicherung der materiellen Grundbedürfnisse geworden ist. Von Armut bedroht zu sein, ist ganz offensichtlich ein alltägliches Lebensgefühl in einer objektiv reichen Gesellschaft.
Glück bedeutet für Kinder, elementare Bedürfnisse des körperlichen Überlebens erfüllt zu finden, auf dieser Basis einbindende soziale Beziehungen zu erfahren und diese auch selbst gestalten zu können. Diese Kombination ist es, die nach den Erkenntnissen der World Vision Kinderstudien die beste Voraussetzung für subjektives Wohlbefinden von Kindern ist. Kinder benötigen festen Halt und klare Strukturen, davon ausgehend Freiheiten in Form von selbst verfügbaren sozialen und zeitlichen Spielräumen und außerdem das unverbrüchliche Recht, angehört und in die Gestaltung der Spielräume einbezogen zu werden.
Zu den Rahmenbedingungen gelingenden und im Idealfall glücklichen Aufwachsens gehört demnach wesentlich, Abhängigkeit und Autonomie in eine gelungene Balance zu bringen. Kinder wollen schon früh Erfahrungen der Selbstständigkeit machen, sind dazu aber von der Fürsorge und Liebe verantwortlicher Erwachsener und gleichaltriger Freunde abhängig. Es sind die Erfahrungen von Liebe und Freundschaft, von Anerkennung und Fürsorge, von Schutz und Zuwendung, die für eine glückliche Kindheit unverzichtbar sind. Das erfordert Rahmenbedingungen, in denen Kinder ihre individuelle Integrität erfahren können und spüren, eine einmalige Persönlichkeit zu sein, die von anderen Menschen wahrgenommen und geachtet wird.
Für den sechsjährigen Ben gehört aus diesem Grund neben Geld, einem Haus, einem Teller mit Essen und einem Auto zum Fortbewegen ein “eigener Name” zu den elementaren fünf Voraussetzungen des Glücklichseins dazu: “Damit wir nicht alle heißen ‘Namensloser’. Wenn man ‘Namensloser’ sagt, dann denkt der andere, er ist’s, und dabei ist er ein anderer.”[11]
Fußnoten
[1] Vgl. Mirjam Pressler, Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen, Weinheim-Basel 19953.
[2] Vgl. Anton Bucher, Was Kinder glücklich macht? Eine glückspsychologische Studie des ZDF, in: Markus Schächter (Hrsg.), Wunschlos glücklich? Konzepte und Rahmenbedingungen einer glücklichen Kindheit, Baden-Baden 2009, S. 94-195.
[3] Ebd., S. 179.
[4] Vgl. Asher Ben-Arieh, Where are the Children? Children’s Role in Measuring and Monitoring their Well-being, in: Social Indicators Research, (2005) 74, S. 573-596.
[5] Vgl. Sabine Andresen/Manfred Richter/Hans-Uwe Otto, Familien als Akteure in der Ganztagsgrundschule. Qualitative Fallstudien zur elterlichen und kindlichen Aneignung ganztägiger Bildungssetting, Abschlussbericht, Bielefeld 2010.
[6] Vgl. World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.), Kinder in Deutschland. 1. World Vision Kinderstudie, Frankfurt/M. 2007; 2. World Vision Kinderstudie, Frankfurt/M. 2010.
[7] Vgl. UNICEF, Child poverty in perspective: An overview of child well-being in rich countries. Innocenti Report Card No. 7, UNICEF Innocenti Research Centre, Florence 2007.
[8] World Vision Deutschland, 2010 (Anm. 6), S. 340.
[9] Ebd., S. 317.
[10] Ebd., S. 320.
[11] Ebd., S. 250.
Autoren und Kontakt
Prof. Dr. Sabine Andresen
Dr. phil., geb. 1966; Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Postfach 100131, 33501 Bielefeld.
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann
Dr. sc. pol., geb. 1944; Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance, Friedrichstraße 180, 10117 Berlin.
Das Essay ist zunächst in der Zeitschrift “Aus Politik und Zeitgeschehen” (38/2010) der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen.
Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und der Autoren.
Erstellt am 21. Dezember 2011, zuletzt geändert am 21. Dezember 2011