Wie lernen Jugendliche Toleranz?
Prof. Dr. Peter Noack
Nachdem einleitend das Phänomen politisch-sozialer Toleranz enger umrissen wird, steht zunächst die Frage nach Zusammenhängen mit anderen Entwicklungsprozessen im Jugendalter im Zentrum. Als mögliche Einflussfaktoren werden dann vor allem Vorläufer in der Kindheit, die familiale Sozialisation und Erfahrungen in der Schule diskutiert. Dabei zeigt sich, dass die Entwicklung von Toleranz nicht erst im Jugendalter einsetzt und dann besondere Aufmerksamkeit verdient, aber auch in dieser Altersgruppe keine vergebliche Mühe darstellt.
Toleranz – Chancen und Risiken
Wenn wir “politisch-soziale Toleranz” hören, ist oft die erste Assoziation: Intoleranz – Ausgrenzung von Behinderten, abfällige Bemerkungen gegenüber Homosexuellen, aggressive Ausschreitungen gegen Ausländer, … die allgegenwärtigen Berichte in den Medien und die öffentliche Diskussion legen nahe, dass sowohl die Verbreitung von Intoleranz unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen als auch ihre Zunahme in den letzten Jahren besorgniserregend ist. Das gilt vor allem, wenn Gewalt im Spiel ist.
In der Tat haben in diesen Altersgruppen Gewalttätigkeiten wie symbolische Übergriffe, die sich gegen Minderheiten in der Gesellschaft richten, in den letzten 15 Jahren erheblich zugenommen. Ohne die physische und symbolische Aggression schönreden zu wollen, gibt es gute Gründe dafür, diese Aggressionen und intolerante Orientierungen Jugendlicher nicht in einen Topf zu werfen. Gleichzeitig gibt es aber ebenso gute Gründe dafür, auch intolerante Orientierungen als Problem zu betrachten, dem sich entgegenzuwirken lohnt.
Auch wenn Angriffe junger Deutscher gegen Ausländer und Mitglieder anderer Minderheiten in amtlichen Statistiken oft als ideologisch motiviert aufscheinen, ist das nur die halbe Geschichte. Systematische Auswertungen von Polizei- und Gerichtsakten (z.B. Willems, 1993) lassen vermuten, dass diese Deutung nur in etwa der Hälfte der Fälle die Beweggründe der Täter genau oder in etwa trifft. Ein Viertel der Täter sind offenbar eher als Mitläufer im Gruppengeschehen einzuordnen, ein weiteres Viertel als reine Gewalttäter, die ihre wohlfeilen Opfer gefunden haben. Auch andere Studien bestärken die Vermutung, dass Gewaltbereitschaft und die Dynamik in jugendlichen Cliquen mindestens ebenso bedeutsam sind für die Taten wie ausgeprägte Intoleranz. Für diese Sicht spricht auch die erschreckend weite Verbreitung intoleranter und fremdenfeindlicher Orientierungen, die mit einigen Schwankungen je nach Erfassungsform mit vielleicht einem Drittel in den fraglichen Altergruppen deutlich über den relativ kleinen Kreis aggressiver Täter hinausgeht.
Verbreitete intolerante Einstellungen stellen ein Problem für die Gemeinschaft dar. Das gilt wegen der Auswirkungen auf das Klima des Zusammenlebens ebenso wie für die Wahrnehmung des Landes aus der Außenperspektive. In einer Zeit, in der Jugendliche jedoch in eine zunehmend globalisierte Welt hineinwachsen, in der Kontakte und der Austausch mit Mitgliedern anderer Gruppen zur Tagesordnung gehören, bedeutet Intoleranz aber auch ein individuelles Entwicklungsrisiko für die, die sich in einer solchen Welt einmal selbständig zurechtfinden müssen.
Vor diesem Hintergrund beschränkt sich das Interesse im Folgenden auf tolerante und intolerante Orientierungen und klammert die Frage physischer und symbolischer Gewaltausübung weitgehend aus. Zunächst wird die Toleranzentwicklung mit Blick auf ihre Stellung im Rahmen allgemeinerer Entwicklungsprozesse während des Jugendalters erörtert. Dann wird es um Bedingungen gehen, die auf Stabilität und Veränderung von Toleranz Einfluss nehmen. Abschließend werden Schlussfolgerungen für die Sozialisation im Jugendalter diskutiert.
Toleranz und Entwicklung im Jugendalter
Im Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter stehen vielfältige Veränderungen an. An ihrer Bewältigung und Gestaltung haben Jugendliche selbst aktiv Anteil. Anstöße gehen aus von körperlichen Veränderungen in der Pubertät, einem deutlichen Entwicklungsschub der geistigen Fähigkeiten um dieselbe Zeit herum sowie gesellschaftlichen Erwartungen mit Blick auf Entwicklungsschritte in verschiedenen Bereichen, die über die Eltern, die Schule, Medien und andere Sozialisationsinstanzen an Jugendliche herangetragen werden. Eine zentrale und übergreifende Anforderung ist dabei die Auseinandersetzung mit der eigenen Person. Das Ziel ist, eine erwachsene Identität zu entwickeln, die die Geschichte der eigenen Person, Vorstellungen und Pläne für die Zukunft sowie das eigene Leben in den unterschiedlichen Lebenszusammenhängen des Alltags integriert (Oerter & Dreher, 2002).
Eine wesentliche Anforderung betrifft die Entwicklung zum verantwortungsvollen und mündigen Mitglied des Gemeinwesens. Dazu gehört die Wahrnehmung und gedankliche Organisation der weiteren sozialen Umwelt jenseits persönlicher Beziehungen im Nahbereich. Auf der anderen Seite entwickelt sich in diesem Prozess eine Vorstellung vom eigenen Platz, den man in der Gemeinschaft einnimmt. Ein zentraler Aspekt dabei ist die Wahrnehmung der verschiedenen sozialen Gruppen, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt und die Verortung der eigenen Person in diesem System: Wo gehöre ich dazu, welches sind Mitglieder meiner Gruppe(n), was bin ich nicht? In sozialpsychologischer Terminologie geht es um die soziale Identität (Tajfel & Turner, 1986), für deren Bestimmung der Bezug zu verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft, Männer und Frauen, Reiche und Arme, Ost- und Westdeutsche, Ausländer und Inländer, ebenso entscheidend ist wie nahe soziale Beziehungen für die sogenannte personale Identität.
Bei den Konzepten, die Jugendliche von der Gesellschaft bilden, den zugehörigen Grenzziehungen, der eigenen Lokalisierung in diesem gedanklichen Koordinatensystem handelt es sich nicht nur um kalte Kognitionen. Es sind Wertungen und Emotionen damit verknüpft: Welchen Rang haben Gruppen, hat meine Gruppe in der Gemeinschaft? Mag ich die andere Gruppe, ist sie mir egal oder lehne ich sie ab? Die Antworten auf diese Fragen sind persönlich nicht unerheblich. So ist es für das eigene Selbstwertgefühl zumeist günstig, sich einer Gruppe mit höherem Rang zugehörig zu fühlen. Und wir alle scheinen entsprechend eine Tendenz zu haben dazu beizutragen, die eigene Gruppe in eine relativ vorteilhaftere Position zu bringen. Es ist in diesem Sinne, dass hier von Toleranz bzw. Intoleranz gesprochen wird.
Einflüsse auf Toleranz und Intoleranz Jugendlicher
Einfluss auf Denken, Verhalten und Fühlen einer Person zu nehmen, setzt voraus, dass das entsprechende Merkmal der Person überhaupt veränderlich ist. Auch wenn die soziale Identität im Jugendalter einer beträchtlichen Entwicklung unterliegt, zeigen längsschnittliche Studien in der Altersgruppe an, dass für Toleranz schon bei Jugendlichen eine deutliche Stabilität gegeben ist. Im Mittel über die Altersgruppen hinweg zeigen sich wenige Veränderungen, wenn diese beobachtet werden, dann im Sinne einer leichten Toleranzzunahme. Auch relativ gesehen beeindruckt die Stabilität. Wer im frühen Jugendalter zu den Toleranteren gehörte, hat auch eine höhere Wahrscheinlichkeit als andere, dies am Ende des Jugendalters zu tun, und die Intoleranten werden sich Jahre später auch eher wieder unter den Intoleranteren finden. Das lässt zum einen vermuten, dass es frühe, nicht im engeren Sinne politische Vorläufer toleranter bzw. intoleranter Einstellungen gibt, die die Orientierungen Jugendlicher mit bestimmen. Gleichzeitig ist die Stabilität nicht dergestalt, dass Erfahrungen und Erziehungseinflüssen im Jugendalter keine Bedeutung haben.
Frühe Vorläufer
In den einflussreichen Arbeiten zur “autoritären Persönlichkeit” , die von der Gruppe um Adorno und Frenkel-Brunswik (1950) durchgeführt wurden, nehmen frühe Erfahrungen in der Familie eine wesentliche Stellung ein bei der Erklärung von autoritären Orientierungen, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im späteren Leben. Auch einige neuere Forschungen (z.B. Hopf et al., 1995) weisen auf die Bedeutung der Familie, vor allem des Vaters, in der ersten Lebensdekade für die weitere Entwicklung autoritärer Haltungen hin. Die Informationen über Familienbeziehungen und -interaktionen entstammen allerdings durchweg rückblickenden Berichten, die nicht unbedingt der damaligen Realität entsprechen müssen. In jedem Fall zeigen aktuelle Studien, dass schon im Alter von drei Jahren Intergruppenvergleiche stattfinden, ab etwa dem fünften Lebensjahr eine deutliche Bevorzugung der eigenen Gruppe gegeben ist (Yee & Brown, 1992). Allerdings fehlen auch hier längsschnittliche Untersuchungen, die dieselben Personen durch die Kindheit ins Jugendalter hinein begleiten und die Zusammenhänge zwischen den Beobachtungen bei Kindern und den Ausprägungen der Toleranz im Jugendalter absichern könnten.
Manche Autoren gehen noch einen Schritt weiter und berichten aus Zwillingsstudien über Hinweise auf eine genetische Basis von Unterschieden in sozialen Einstellungen (Olson et al., 2001). Dass dabei nicht beispielsweise an ein Ausländerfeindlichkeitsgen gedacht ist, liegt auf der Hand. Inwieweit Aspekte der sozialen Informationsverarbeitung oder Merkmale wie Ängstlichkeit hier eine vermittelnde Rolle spielen mögen, muss an dieser Stelle offen bleiben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir zu wenig, um die Prozesse ausbuchstabieren zu können, die den Bogen zwischen frühen Sozialisations- oder auch genetischen Einflüssen und den Orientierungen schlagen, die bei Jugendlichen vorzufinden sind. Dass solche Vorläufer bedeutsam sind, ist jedoch sehr wahrscheinlich und ruft nach Forschungsbemühungen, diese Wurzeln aufzuklären.
Erziehung in der Familie
Auch wenn noch gewisse Unsicherheiten hinsichtlich der Effekte früher Erziehungserfahrungen in der Familie auf das Ausmaß an Toleranz oder Intoleranz unter Jugendlichen bestehen, gibt es inzwischen ausreichend Belege für elterliche Einflüsse während des Jugendalters. Dabei lassen sich vereinfachend zwei Einflusswege unterscheiden. Zum einen ist es das Modell der Eltern, die Haltungen, die Väter und Mütter selbst äußern. Neben einer solchen inhaltlichen Vermittlung von Einstellungen in der Familie tritt die Form des Umgangs miteinander, namentlich das Ausmaß, in dem Jugendliche autoritäre Aspekte in der eigenen Erziehung erfahren. Hier ist die Vermutung, dass autoritäre Erziehungsformen intolerante Orientierungen bei Söhnen und Töchtern fördern.
In der eigenen Arbeitsgruppe wurde beides untersucht (zsfd. Noack, 2001) und ein systematischer Einfluss der elterlichen Einstellungen auf jene der Söhne und Töchter im Jugendalter festgestellt. Ob Fremdenfeindlichkeit oder nationalautoritäre Intoleranz, äußerten Väter oder Mütter solche Haltungen vergleichsweise stark, fand sich in der Folgezeit eine Zunahme entsprechender Einstellungen bei den Jugendlichen. Interessanterweise konnten wir gleichzeitig auch Effekte in der Gegenrichtung beobachten. Söhne und Töchter im mittleren Jugendalter scheinen durch ihre Einstellungen in gewissem Maße die eigenen Eltern zu beeinflussen. Demnach würden sich Toleranz oder Intoleranz von Eltern und Jugendlichen in der Familie wechselseitig aufschaukeln. Dazu tritt noch ein weiteres Phänomen: Wenn der Blick von den tatsächlichen Einstellungen der Eltern und Kinder zu jenen Einstellungen wechselt, die Söhne und Töchter bei ihren Eltern wahrnehmen bzw. ihnen unterstellen, ist die Übereinstimmung nahezu perfekt (Gniewosz et al., eingereicht). In anderen Worten, Jugendliche sehen eine weitaus größere Einstellungsähnlichkeit zu ihren Eltern als sie ohnehin schon gegeben ist. Offenbar kommen hier Projektionen ins Spiel, durch die Jugendliche ihre eigenen Sichtweisen absichern und sich in diesen bestärken.
Gleichzeitig konnten wir feststellen, dass auch autoritäre Erziehungsmuster in der Familie Intoleranz bei Jugendlichen begünstigen. Allerdings könnte autoritäres Erziehungsverhalten eng mit intoleranten Einstellungen bei Eltern verbunden sein und kein eigenständiger Effekt der Erziehungsform vorliegen. Beides, Erziehungsverhalten der Eltern und Einstellungen bei den Jugendlichen wären dann Folgen der elterlichen Intoleranz. Gezielte Auswertungen unserer Daten zeigen allerdings, dass es tatsächlich einen eigenen Effekt autoritärer Erziehung gibt. Auch wenn er systematisch ist, bleibt er jedoch deutlich hinter jenem des elterlichen Einstellungsmodells zurück.
Schulische Bedingungen
Der Einfluss des Familienhintergrunds ist auch zu einem guten Teil verantwortlich für das vielleicht deutlichste und robusteste Ergebnis der einschlägigen Forschung: Unterschiede in der Toleranz Jugendlicher abhängig vom Schultyp in leistungsgegliederten Schulsystemen. So äußern sich beispielsweise Hauptschüler intoleranter als Realschüler und diese wiederum intoleranter als Gymnasiasten. Auch wenn dabei größtenteils Selektion im Spiel zu sein scheint, da sich ein Großteil des Effekts bei Kontrolle familialer Hintergrundmerkmale (sozioökonomischer Status der Familie, Einstellungen der Eltern, elterliches Erziehungsverhalten) verliert, bleibt ein systematischer Einfluss des Schultyps bestehen (Noack, 2003). Weniger klar ist, auf welchem Wege der Schultyp oder andere Merkmale der Schule ihre Wirkung auf die Einstellungen von Schülern im Jugendalter ausüben.
Auch wenn die Lernziele des schulischen Fachunterrichts über die bloße Vermittlung von Wissen hinausgehen und die Förderung von demokratischen Orientierungen wie auch Toleranz einschließen, muss hinter den Erfolg dieser systematischen Sozialisationsbemühungen zumindest ein Fragezeichen gesetzt werden (Ackermann, 1996). Die Wirksamkeit von Schule mag sich auf viel indirekteren Wegen einstellen. Ein möglicher Kandidat als mittelbarer Einflussfaktor ist in fachunspezifischen Anstößen für die kognitive Entwicklung zu sehen. In dem Maße, in dem es der Schule gelingt, vor allem die Differenziertheit des sozialen Denkens bei ihren Schülern zu steigern, dürfte auch die soziale Toleranz zunehmen. Jedenfalls weisen eine Reihe von Studien auf Zusammenhänge zwischen sozialkognitiver Kompetenz und der Toleranzdimension politischer Orientierungen hin (Emler & Frazer, 1999).
Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass Schulen eine Art Gemeinwesen im überschaubaren Format darstellen und mithin einen relevanten Erfahrungs- und Erprobungsraum für politisch-soziale Orientierungen bieten. Das meinen beispielsweise Torney-Purta und Kollegen (2001), wenn sie als ein Fazit der internationalen IEA-CIVICS-Studie die Bedeutung eines demokratischen und diskussionsfreudigen Schulklimas, das die Meinungsbildung und -äußerung von Schülern ermutigt, für deren Toleranzentwicklung unterstreichen. Auch wenn vieles für diese Annahme spricht, sind tragfähige empirische Prüfungen noch rar (Watermann, 2003). Eindeutig ist die Datenlage allerdings hinsichtlich Kontakten mit Mitgliedern anderer sozialer Gruppen, eines spezifischen Aspekts der Erfahrungen, die auch Schulen bereitstellen können. Metaanalysen einer größeren Zahl von Studien belegen deren toleranzförderliche Wirkung (Pettigrew & Tropp, 2000).
Erfahrungen in weiteren Kontexten
Bleibt man zunächst bei nahen Kontexten, müsste ein besonderes Interesse den Gleichaltrigen gelten. Jedenfalls ist vielfach auf die Rolle hingewiesen worden, die die innere Dynamik jugendlicher Cliquen bei der Entstehung von Gewalttätigkeiten gegenüber Mitgliedern von gesellschaftlichen Minderheiten spielt. Erstaunlich ist, dass wir bislang eher wenig Gesichertes über mögliche Einflüsse von Freunden oder Peergruppen auf Toleranz wissen.
Die Zusammenhänge zwischen den politisch-sozialen Einstellungen von Freunden entsprechen der Größenordnung nach etwa denen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern (Oswald et al., 1999). Zu bedenken ist allerdings, dass Ähnlichkeiten zwischen Freunden, jedenfalls partiell, Selektionsprozessen geschuldet sein dürften, die dem Prinzip “Gleich und Gleich gesellt sich gern” folgen. Hinweise gibt es auch darauf, dass die vermutete Übereinstimmung Jugendlicher mit ihren Freunden etwa im Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit sogar noch etwas über jene mit den Eltern hinausgeht und anders als in letzterem Fall mit dem Alter nicht abnimmt (Gniewosz et al., eingereicht).
Betrachten wir das weitere Umfeld, den gesellschaftlichen Kontext, scheinen die wesentlichen Prozesse auf der Hand zu liegen: Wer auf der gesellschaftlichen Leiter unten steht, vor allem wer zu den Verlierern des raschen sozialen Wandels gehört, reagiert mit Intoleranz. Diese These hat vor allem in der öffentlichen Diskussion eine zentrale Rolle gespielt. Dass sich systematisch negative Zusammenhänge zwischen dem Bildungshintergrund oder anderen Schichtmerkmalen und Intoleranz finden, reicht als Beleg aber ebenso wenig aus wie der Umstand, dass in vielen Umfragen ausländerfeindliche Slogans eine höhere Zustimmung unter ostdeutschen Jugendlichen finden. Ergebnisse von Studien, die die vermuteten Effekte der gesellschaftlichen Situation und ihres Wandels direkter zu erfassen trachteten, bleiben in ihrer Eindeutigkeit hinter der Plausibilität der Annahme zurück. In unseren eigenen Arbeiten ergaben sich in der Tat einige Anhaltspunkte dafür, dass Intoleranz zunehmen mag, wenn man mit den gesellschaftlichen Veränderungen nicht Schritt halten kann (Oepke, Kracke & Noack, 1997). Die Befundlage dabei ist aber eher gemischt.
Schlussfolgerungen
Auch wenn wir auf eine ganze Reihe von Fragen noch keine eindeutigen Antworten haben, scheint klar zu sein, dass Toleranz, obschon sie als Aspekt alterstypischer Entwicklungsaufgaben im Jugendalter Aufmerksamkeit verdient, nicht erst im Jugendalter entsteht. Neben Hinweisen auf frühe Vorläufer tragen dazu Vermutungen bei, die durchaus von empirischen Befunden inspiriert sind, dass auch genetische Einflüsse wirksam sind, etwa vermittelt über allgemeinere Orientierungen der Person zu ihrer Umwelt. Der Familienkontext, der sicherlich in den frühen Jahren eine wesentliche Rolle spielt, verliert seine Bedeutung auch nicht im Jugendalter. Die Erfahrungen, die Jugendlichen im Umgang mit ihren Eltern machen, speziell die Art der elterlichen Erziehung, und vor allem die von den Eltern selbst geäußerten Einstellungen und Überzeugungen formen die Sichtweisen der Söhne und Töchter mit. Wir können nur spekulieren, dass Ähnliches auch für Geschwister, jedenfalls ältere, gilt.
Ob die Schule gezielt, über die direkte Instruktion im Fachunterricht, Jugendliche in ihrer Toleranz oder Intoleranz erreicht, ist eine zumindest offene Frage. Dass Schule auf anderen Wegen Einfluss nimmt, ist indessen anzunehmen. Wichtig scheint hier nicht zuletzt die Erfahrung von Demokratie und Toleranz im Miteinander zu sein. Diese Beobachtung dürfte sich auf weitere Erfahrungsbereiche von Jugendlichen extrapolieren lassen, über die uns die Forschung bislang weniger sagt.
Schließlich darf nicht aus dem Auge verloren werden, dass (nicht nur) Jugendliche ihre Entwicklung selbst mitgestalten. Das muss nicht notwendigerweise bewusst geschehen. Unter dieser Perspektive lassen sich Studien deuten, die auf eine Diskrepanz zwischen der von Jugendlichen wahrgenommenen Übereinstimmung ihrer Einstellungen mit jenen von Personen in ihren Alltagskontexten und der tatsächlichen Übereinstimmung hinweisen – Jugendliche fühlen sich durch ihr Umfeld in ihrer Sicht deutlich stärker bestätigt, als dies tatsächlich der Fall ist. Projektionsprozesse, die hier vermutlich wirksam sind, kennen wir auch aus anderen Bereichen.
Jeder der genannten Aspekte eröffnet Möglichkeiten, zur Entwicklung von Toleranz bei Jugendlichen beizutragen. Erziehungsstil, gelebte Toleranz und in der Sache klare Stellungnahmen zu politischen und sozialen Fragen, auch wenn Meinungsunterschiede dabei zu Tage treten, sind Beispiele, die zwar Jugendliche in ihren Haltungen nicht vollkommen “umdrehen” werden, selbst wenn dies gewünscht wäre. Sie sollten aber bei vielen Jungen und Mädchen in der zweiten Lebensdekade nicht ohne Wirkung bleiben.
Literatur
- Ackermann, P. (1996). Das Schulfach ‚Politische Bildung‘ als institutionalisierte politische Sozialisation. In B. Claussen & R. Geissler (Hrsg.), Die Politisierung des Menschen – Instanzen der politischen Sozialisation (S. 91-100). Opladen: Leske + Budrich
- Adorno, T.W., Frenkel-Brunswik, E., Levinson, D.J. & Sanford, S.R. (1950). The authoritarian personality. New York: Norton.
- Emler, N. & Frazer, E. (1999). Politics: The educational effect. Oxford Review of Education, 25, 251-273.
- Gniewosz, B., Noack, P., Funke, F. & Wentura, D. (eingereicht). Ausländerfeindliche Einstellungen von Schülern und wahrgenommene Einstellungen im sozialen Umfeld.
- Hopf, C., Rieker, M., Sanden-Markus, M. & Schmidt, C. (1995). Familie und Rechtsextremismus. Weinheim: Beltz.
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- Willems, H. (1993). Fremdenfeindliche Gewalt. Opladen: Leske + Budrich.
- Yee, M. & Brown, R. (1992). Self-evaluations and intergroup attitudes in children aged three to nine. Child Development, 63, 619-629.
Autor
Peter Noack ist Professor für Pädagogische Psychologie am Institut für Psychologie der Universität Jena.
Hauptarbeitsgebiete: Psychologische Familienforschung, Jugendentwicklung, Politische Sozialisation.
Adresse
Prof. Dr. Peter Noack
Institut für Psychologie
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Humboldtstr. 27
07743 Jena
Tel.: 03641-945240
Erstellt am 5. Mai 2004, zuletzt geändert am 5. Februar 2014