Die Bedeutung des Spiels für die Entwicklung der Kinder in einer mediengeprägten Alltagswelt

Prof. Dr. Dieter Spanhel
Spanhel

Spiel ist für Kinder lebensnotwendig und fördert ihre Entwicklung. Aber in der von Medien geprägten Alltagwelt heute haben sich die Spielwelten der Kinder tiefgreifend verändert. Kinder wenden sich immer mehr den elektronischen Spielen am Computer oder anderen digitalen Medien zu. Damit sind nach Meinung vieler Wissenschaftler große Gefährdungen der kindlichen Entwicklung bis hin zur Spielsucht verbunden. Welche Spielformen zeigen die positiven, entwicklungsfördernden Wirkungen und warum kommen diese bei den elektronischen Spielen nicht zur Geltung? Wie können Eltern ihren Kindern die lebensnotwendigen Spielräume eröffnen, die sie für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit brauchen?

Die Lebenswelt unserer Kinder hat sich in den vergangenen Jahren tiefgreifend gewandelt. Diese Veränderungen beziehen sich auf alle Bereiche ihrer Alltagswelt, auf die Familie und ihr Wohnumfeld, auf den Wandel der Wertorientierun­gen und Erziehungsziele, auf den Einbruch der elektronischen Medien und der neuen Informa­tions- und Kommunikations­techniken in ihre Freizeitwelt und auf die Verlockungen der Konsum- und Freizeit­industrie. Damit verbunden ist eine Tendenz zur Abgrenzung der Kinder in eigenen Räumen und eine zunehmenden Pädagogisierung dieser Bereiche. Häufig wird die These vertreten, diese Lebensbedingungen schränkten sowohl die Spielmöglichkeiten der Kinder als auch ihre Spiel­fähigkeiten ein. Empirische Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass sich die Heranwachsenden immer stärker den Computerspielen und dem Spiel mit anderen elektronischen Medien widmen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: KIM-Studie 2012, S.13 und S. 48f.). Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Veränderungen für ihren Entwicklungsprozess? Zur Beantwortung dieser Frage wähle ich eine ökologische Betrachtungsweise von Erziehung und Spiel, um die pädagogische Bedeutung des Spiels in einer veränderten Lebenswelt und die Auswirkungen der neuen Spielformen auf den Entwicklungsprozess der Kinder beschreiben zu können (Spanhel 1992).

1. Der Zusammenhang von Spiel, Entwicklung und Erziehung

In einer ökologischen Betrachtungsweise stellt sich die Lebenswelt unserer Kinder als ein außerordentlich komplexes Wirkungsgefüge dar, in das sowohl die Entwicklungsprozesse der Kinder, als auch ihre Erziehung und ihr Spiel integriert sind. Die Frage ist, wie die tiefgreifenden Veränderungen in den Strukturen dieses Beziehungsgeflechts “Lebenswelt” auf die Strukturen und Prozesse von Entwicklung, Erziehung und Spiel bei Kindern einwirken und wie veränderte Formen von Spiel und Erziehung auf die Lebenswelt der Kinder zurückwirken.

Erziehung ist aus dieser Sicht ein Handlungsrahmen oder ein soziales System, das auf einen spezifischen Sinn ausgerichtet ist. Dieser pädagogische Sinn liegt in der Absicht, dem Kind bei der Bewältigung seiner aktuellen Lebensprobleme oder Entwicklungsauf­gaben in der Auseinandersetzung mit seiner Alltagswelt so zu helfen, dass es immer besser fähig wird, eigenständig seine Probleme und Aufgaben zu lösen und eigen­verantwortlich sein Leben unter den sich rasch ändernden Lebensbedingungen zu führen. Dieser pädagogische Sinn (das pädagogische Sinnkriterium) gibt den einzelnen Handlungen innerhalb des Systems eine spezifische Organisation und Bedeutung als Erziehung und grenzt zugleich diesen Erziehungsrahmen von anderen Handlungs- oder Sinnsystemen, wie z.B. dem Spiel ab. Aus dieser Perspektive erscheint dann Spiel in Abgrenzung zur Erziehung als ein eigener Handlungsrahmen mit einer anderen Sinnorientierung. Dann fragt sich, wie diese beiden Handlungssysteme zueinander in Beziehung stehen, woraus die besondere pädagogische Bedeutung des Kinderspiels resultiert und auf welche Weise das Spiel in übergeordnete Handlungssysteme (Familie, Gleichaltrigengruppe, Kindergarten, Schule) eingebettet ist. Wie sehen unter den Bedingungen der durch Medien veränderten Lebensweltstrukturen die spezifischen “Spielwelten” der Kinder aus und wie müssten sie pädagogisch gestaltet werden?

Zur Klärung dieser Fragen müssen wir in der ökologischen Betrachtungsweise noch einen Schritt weiter gehen. In der Erziehung und im Spiel sind Erzieher und Kinder die Personen, die durch ihr Handeln eine bestimmte Absicht, einen subjektiven Sinn verwirklichen wollen, ob er ihnen nun immer klar bewusst ist oder nicht. Dieses ihr Handeln als Sinnverwirklichung ist das Ergebnis interner Regulationsprozesse. D.h., die Personen, Erzieher und Kinder, sind psychische Systeme, deren Handlungen auf einem komplexen Beziehungsnetz von inneren Bedingungsfaktoren, organischen, motorischen, sensorischen, ko­gnitiven, affektiven Strukturen beruhen.

Diese internen Regulationsprozesse sind durch Erziehung von außen nicht direkt beeinflussbar oder bestimmbar: Personen als psychische Systeme, aber auch soziale Systeme sind strukturdeterminiert, d.h. in ihrem Handeln durch ihre inneren Bedingungsfaktoren bestimmt. Wir können also als Erzieher niemals über ein Kind verfügen, sondern durch sinnorientiertes Handeln innerhalb eines Erziehungsrahmens nur Prozesse im Kind auslösen. Das gilt auch für das Spiel als Handlungsrahmen.

2. Merkmale des Spiels und seine Auswirkungen auf den Entwicklungsprozess der Kinder

Wir können durch Erziehung aber auch nicht den Ablauf eines Spiels bestimmen, weil auch das Hand­lungssystem Spiel nach eigenen internen Regelungen abläuft und seine eigene Dynamik entwickelt. Allerdings müssen dabei die grundlegenden Unterschiede zwischen den traditionellen Spielformen und den modernen elektronischen Spielen (Computer- und Videospiele am Handy, Smartphone, Tablet oder an der Spielkonsole) beachtet werden: Diese Spiele sind – im Gegensatz zum freien Kinderspiel – von Erwachsenen programmiert und mit gewissen Handlungsmöglichkeiten in ihrem Ablauf auf dem Gerät festgelegt. Bei Computer- oder Videospielen interagieren die Kinder also nicht mit Spielpartnern oder Spielsachen, sondern mit einem Computerprogramm (Spanhel 2006; Zacharias 2000).

a. Spiel ist keine Handlungsform, sondern ein Handlungsrahmen

Wenn die Kinder im freien Spiel ihre Handlungen auf besondere Art organisieren, bringen sie eine eigene Wirklichkeit hervor. Spiel bezeichnet aber nicht einzelne Handlungen, sondern einen Handlungsrahmen, in denen die Handlungen eine andere Bedeutung und Organisation erhalten, als sie in anderen Lebenssituationen haben würden. Bateson (1990) bezeichnet Spiel als ein “situiertes Aktivitätssystem”, das wie durch eine unsichtbare Wand von der Umgebung abgegrenzt ist. Entscheidend sind die Interaktionen der Kinder mit ihrer natürlichen, sozialen, medialen und kulturellen Umwelt im Spiel. Im Spiel begründen sie immer neue Beziehungsmuster zu den Gegebenheiten ihrer Umwelt, die sich als Spielsachen, Spielpartner oder Spielthemen eignen. Die Erfindung des Spiels und das Spiel müssen daher als ein einziges Phänomen angesehen werden. Eine Abfolge von Handlungen ist nur so lange spielbar, als sie einige Elemente des Kreativen und Unerwarteten enthält. Bei den Computerspielen sind die Spielinhalte fest vorgegeben und werden am Display bildhaft dargestellt. Die Kinder müssen nur die Spielregeln herausfinden, um dann in vielen Wiederholungen durch geschickte Anwendung immer bessere Spielergebnisse zu erzielen.

b. Die Offenheit ist das grundlegende Merkmal der Beziehungen des Kindes im Spiel

Diese Offenheit der Beziehungen des Kindes im Spiel beruht auf der freien und unbekümmerten Anwendung der Muster des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Wollens, Bewertens und Handelns, über die das Kind verfügt. Diese Assimila­tionsschemata sind selbstmotiviert und drängen von sich aus zur Betätigung, müssen aber immer auch an die Strukturen der Handlungsobjekte angepasst, d.h. akkommodiert werden. Piaget bezeichnet daher das Spiel als ein Überwiegen der Assimilation über die Akkommodation. Das bedeutet: Im Spiel dienen Spielsachen, d.h., die Gegebenheiten der Umwelt, lediglich als Material, als “Nahrung” für die selbstmotivierte, freie und lustvolle Betätigung der Handlungsschemata. Kinder können beim Spielen mit dem Sand am Spielplatz oder am Meeresstrand vielfältige Handlungsmuster einsetzen und ihr Tun dabei an die verschiedensten Spielideen anpassen, z.B. an die Vorstellung einer Sandburg. Sie können den Kieselstein am Weg als Fußball erproben oder aus einem Stück Baumrinde nach ihren Phantasievorstellungen schöne Dinge schnitzen. Das Kind kümmert sich dabei wenig um die “sozial festgeleg­ten” Bedeutungen der Spielgegenstände, -partner oder -inhalte oder um sachliche Notwendigkeiten. Es passt die Umwelt seinen Fähigkeiten und Vorstellungen, Bedürfnissen und Wünschen, Ideen und Gefühlen oder den vereinbarten Spielregeln an. Beim Spielen mit Lego-Steinen oder beim Puppenspiel sind der Spielphantasie der Kinder kaum Grenzen gesetzt.

Allerdings wird durch die Vorgabe einer unglaublichen Vielfalt von sehr realistischen, massenhaft produzierten Spielsachen diese Offenheit der Beziehungsmuster eingeschränkt, z.B. bei einem batteriebetriebenen Rennauto. Deshalb verstauben viele Spielsachen in den Regalen der Kinderzimmer. Auch bei vielen elektronischen Spielen ist diese Offenheit durch den vorprogrammierten Spielablauf sehr begrenzt, wenn die Kinder die Regeln erst einmal durchschaut haben, (außer bei anspruchsvollen Strategiespielen oder komplexen Abenteuer- oder Multiuser-Spielen).

c. Spiel als abgeschlossenes Handlungssystem bietet besondere Lernmöglichkeiten

Spiel ist wie durch eine unsichtbare Mauer von anderen Lebenskontexten und damit von einer Vielzahl potentieller Welten der Bedeutung und der Tätigkeit abgeschlossen. Genau darin liegen die spezifischen Lernmöglichkeiten im Spiel. In den offenen Beziehungen zu den Mitspielern, Spielsachen und Spielinhalten innerhalb dieses Rahmens produzieren die Kinder immer neue Interaktionsmuster und das Spiel wird integrierter und konsistenter. Bateson bezeichnet dies als “Lernen vom Kontext”. Dabei lernt das Kind nichts Neues von außerhalb, sondern es eignet sich neue Beziehungs- bzw. Interaktionsmuster im Spiel an:

Beziehungsmuster

1) zu den Spielsachen bzw. -themen, z.B., was man im Spiel alles mit den Dingen und aus ihnen machen kann, wie sie sich dabei verändern. Bei den Computerspielen sind oft Gewalt, Kampf und Action als Inhalte ein Problem; häufig geht es aber auch nur um primitive Geschicklichkeitsspiele.

2) zu den Spielpartnern, z.B., wie man sie für ein Spiel gewinnen, sie für eigene Spiel­inter­essen einspannen, sich mit ihnen auf den Spielablauf einigen oder mit ihnen streiten kann. Bei den elektronischen Spielen bieten Social Games selten die Möglichkeit zu sozialen Lernprozessen, weil man die Mitspieler nicht als Personen wahrnehmen und mit ihnen direkt interagieren kann.

3) zu sich selbst, z.B., wie man im Spiel seine eigenen Spielideen verwirklichen, sich selbst darstellen, seine Probleme bearbeiten und welche Gefühle man erleben kann.Den Computerspielen werden häufig besondere Lernmöglichkeiten hinsichtlich der Identitätsbildung zugeschrieben.

Ein “Lernen vom Kontext” im freien Kinderspiel ist grundsätzlich vom schulischen Lernen verschieden, weil es auf ganzheitlichen Erfahrungen von Beziehungen beruht, die körperliche, sinnliche, emotionale, motivationale, evaluative, symbolische und kognitive Momente zugleich umfassen. Dieses Lernen ist nicht nur selbst-motiviert, sondern selbst-bestimmt und in seinem Ablauf selbst-gesteuert und beruht auf Selbstbestätigung im Kontext. Dies trifft wiederum auf elektronische Spiele kaum zu.

d. Im Spiel dominieren die Ich-Prozesse über die Erkenntnisprozesse.

Spiel verändert auf spezifische Weise die inneren Strukturen, in denen das Kind sein Denken, Fühlen, Wollen und Handeln organisiert. Zunächst lassen sich die Kinder im Spiel von ihren noch unbewussten Trieben und Bedürfnis­sen, Gefühlen und Wünschen leiten. Die ganzheitlichen Erfahrungen, die sie in den spieleri­schen Interaktionen mit ihrer Umwelt machen, sind zu einem Großteil Selbst-Erfah­rungen, in denen sie sich ihrer selbst bewusst werden. In den Reaktionen der Spielpartner und der Spielsachen auf ihre Spielaktivitäten werden ihnen ihre eigenen Fähigkeiten und Schwächen, ihre Gefühle und Wünsche zurückgespiegelt. Auf diese Weise können sie ein Bild von sich selbst konstruieren und daran immer weiterbauen. Diese Möglichkeiten zur Selbstfindung und Selbstverwirklichung im Spiel fördern die Entwicklung der Kinder. Allerdings sind die vorprogrammierten Reaktionen des Computers weniger wirksam als die direkten Face-to-face-Rückmeldungen von anderen Kindern als Spielpartner.

e. Im Spiel entstehen Freiräume zur Selbststeuerung der Entwicklung

Wenn die Kinder ganz individuelle und je nach Alter unterschiedliche Spielpräferenzen und Spielgewohnheiten ausbilden, entwickeln sie Strategien, um das Spiel in den Dienst ihrer Selbstverwirklichung zu stellen. Sie finden die richtigen Spiele, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, sich bestimmte Gefühlserlebnisse zu verschaffen, innere Konflikte zu bearbeiten oder Wünsche zu erfüllen. Sie benützen die Spiele auch als hervorragende symbolische Ausdrucksmittel, um anderen ihre Sorgen und Freuden, Hoffnungen und Ängste mitzuteilen.

Im Zusammenspiel mit anderen müssen jedoch die Kinder auch lernen, ihre Ich-Prozesse den vereinbarten Spielregeln unterzuordnen und mit den Ich-Prozessen der Spielpartner in Ausgleich zu bringen. Dadurch werden sie gezwungen, die Beziehungen zwischen den inneren Strukturen des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und Wollens bewusst zu regulieren. Soziales Spiel führt zur Ausbildung fester Interaktionsmuster zwischen diesen inneren Strukturen und hilft dem Kind, seine eigene Identität zu finden und zu stabilisieren.

Auf der Grundlage dieser Beziehungsmuster im Spiel lässt sich die pädagogische Bedeutung des freien Spiels für den Entwicklungsprozess der Kinder kennzeichnen: Im freien Spiel konstruieren die Kinder eine eigene Welt, in der sie selbstgesteuert Handlungsmuster erfinden und in den offenen Beziehungsmustern zu den Spielsachen, Spielpartnern und Spielthemen einüben, neue Handlungsmuster lernen und dabei ihre Wahrnehmungs-, Wertungs-, Gefühls- und Denkmuster ausdifferenzieren und insbesondere ihre Ichprozesse und die Entwicklung ihrer Identität vorantreiben. All diese Entwicklungsimpulse und Chancen sind in den elektronischen Spielen der modernen Medien nur sehr begrenzt gegeben. Dabei gehen die Gefährdungen nicht nur von den problematischen Inhalten aus. Durch die Verfügbarkeit der mobilen Endgeräte werden die Kinder dazu verführt, jeden freien Moment zum Spielen zu nutzen und verfallen dem Sog der Spiele, in Wiederholungen immer schneller das Spielziel oder höhere Punktzahlen zu erreichen oder den Spielgegner zu besiegen. Sie grenzen sich dadurch mehr und mehr von ihrer Umwelt ab, verengen ihre Handlungsmuster auf die vom Programm geforderten Reaktionsmuster und versäumen dadurch Chancen auf andere Erfahrungen.

3. Die Bedeutung des Spiels in der von Medien geprägten Alltagswelt

a. Die Einbettung des Spiels in die Kon­texte der Alltagswelt

Schon das Kleinkind organisiert sein Handeln spontan in unterschiedlichen Kontexten. Mit dem Spielen erwirbt es die Fähigkeit, Spiel von Nicht-Spielsituationen zu unterscheiden. Einen Aktionsrahmen als Spiel oder Nichtspiel kennzeichnen, heißt aber, eine Mit­teilung über den Rahmen zu machen, darüber, wie die Handlungen innerhalb dieses Rahmens zu verstehen sind. Durch den Rahmen erhalten die einzelnen Handlungen im Spiel oder in anderen Kontexten ihre je spezifische Bedeutung. Diese Fähigkeit zur Meta-Kommunikation wird dann sichtbar, wenn Kinder aus dem Spiel heraustreten, um den weiteren Spielverlauf zu besprechen, sich auf die Spielregeln zu einigen oder vorgegebe­ne Regeln abzuwandeln. Bei den programmierten Regeln der Computerspiele sind keine Aushandlungsprozesse möglich. Mit der Unterscheidung des Spiels von anderen Kontexten lernen die Kinder zugleich, dass Spielen nicht bei jeder Gelegenheit möglich ist. Von den Eltern, den Erziehern und der sozialen Umwelt wird ihnen beigebracht, in welchen Situationen ihrer Alltagswelt es verboten ist, im Spiel zu lernen. Aber viele Eltern schaffen es nicht, eine extensive und unsinnige Nutzung der elektronischen Spiele zu begrenzen.

Auf diese Weise erfahren die Kinder, wie sie bestimmte Bereiche ihres Alltagslebens, z.B. ihren Tagesablauf, die Erledigung der Hausaufgaben oder ihre Freizeit organisieren können. Sie lernen von der sozialen Umwelt, welche Handlungsrahmen bei der Gestaltung ihres Alltags erlaubt sind und auf welche Weise und in welchem Umfang Spiel in den Alltag eingebaut werden kann. “Spielräume” kennzeichnen die Möglichkeiten der Kinder, ihre Alltagswelt selbständig und entsprechend ihren Fähigkeiten, Bedürfnissen und Interessen in der Form vielfältiger Kombinationen von Spiel und anderen Handlungsrahmen zu organisieren. Handy oder Smartphone haben viele Kinder als Spielgeräte zwar immer dabei, aber sie eröffnen weniger Spielräume, sondern begrenzen die Aufmerksamkeit auf die am kleinen Display gezeigten Bilder oder Zeichen.

b. Einschränkungen der Spielräume und Spielmöglichkeiten in der von Medien geprägten Alltagswelt

Eine wichtige Einschränkung ergibt sich aus der Tatsache, dass der Mensch in einer symbolischen Umwelt lebt. Eltern, Erzieher und die Erwachsenengesellschaft insgesamt schreiben allen Gegebenheiten der Umwelt feststehende Bedeutungen zu. Sie zwingen die Kinder häufig, diese Bedeutungen rasch zu lernen und danach zu handeln. Die Erwachsenen haben meist wenig Verständnis und keine Geduld dafür, dass die Kinder im Spiel erst ihre eigenen Bedeutungen der Welt konstruieren und sich eigene Spielwelten aufbauen müssen, um die Dinge aus verschiede­nen Perspektiven zu betrachten. Die zweck­rationalen und funktionalen Prinzipien, Interessen und Zwänge der Erwachsenenwelt haben oft Vorrang gegenüber dem, was für die Kinder lebenswichtig und entwicklungsnotwendig ist. Daher kommt es auch, dass die Alltagswelt oft nicht nach ihren Bedürfnissen der Kinder oder nach pädagogischen Erkenntnissen gestaltet ist (Spanhel 1991).

Eine zweite Tendenz wird in der konsequenten Ver­mark­tung der kindlichen Bedürfnisse, Interessen und Sehnsüchte sichtbar. Durch die Spielzeug-, Medien- und Konsumindustrie werden die Kinder mit verlockenden Spielangeboten konfrontiert. Ihr Ziel ist Unterhaltung, Konsum, Anima­tion und damit vorrangig eine frühe Anpassung der Kinder an gesellschaftliche Normen, Hand­lungsmuster und Wertorientierungen. Dabei werden die freien Spielmöglichkeiten auf subtile Weise eingeschränkt. Die Kinder durch­schauen das nicht und haben diesen faszinierenden Angeboten daher wenig entgegenzuset­zen. Die mit diesen Handlungsmustern verbundenen fremdbestimmten und hohen Anforderun­gen können bei den Kindern das Gleichgewicht ihrer inneren Strukturen beeinträchtigen und zu psychischen Schäden führen.

c. Gesellschaftliche Tendenzen zur Einschränkung kindlicher Spiel­welten

In einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Tendenzen werden zudem die Mechanismen zur Planbarkeit und Beherrschbarkeit des Spiels und der im Spiel etablier­ten symbolischen Bedeutungen sichtbar:

  • Ausgrenzung des Spiels aus der Alltagswelt und Abgrenzung gegenüber anderen Lebensbereichen. Schaf­fung eigener Spielräume, (z.B. die modernen Medien als Spielzeuge und die Spiele in den Medien),
  • Institutionalisierung des Spiels in eigenen Einrichtungen mit eigenen strengen Rege­lungen (Spielplatz, Spielstube, Spielhalle, Spielstunde, Eltern-Kind-Spielgruppe, Spiel­mobil);
  • Kommerzialisierung des Spiels (Video- und Computerspiele; Sportspiele);
  • Entstehen einer eigenen Freizeit- und Spielzeugindustrie; Technik erlaubt immer wirklichkeitsgetreuere Spielsachen, die mit Themen und ganzen Spiel­geschichten gekoppelt werden.
  • Steuerung des Spielverhaltens und der Spielformen durch die Werbung der Spielzeug- und Medienindustrie: Medienver­bunds­systeme mit dem Leitmedium Fernsehen, Spielsendungen im Fernsehen.
  • Pädagogisierung des Spiels, d.h., seine Indienstnahme für das Lernen: Spiele als Lernmedium im Kindergarten, in der Schule (didaktische Spiele), Wirtschaft (Simulationsspiele), Freizeit (Kurse im sportlichen und musischen Bereich) und sogar als Spieltherapie bei Kindern.

4. Konsequenzen: Förderung des freien Spiels als Lebensform

Möglichst vielfältige freie Spielmöglichkeiten sind für Kinder bis herauf ins Jugendalter lebenswichtig und entwicklungsnotwendig. Die ökologische Betrachtungsweise von Spiel hat als Begründung dafür den inneren Zusammenhang der beiden Grundfunktionen von Spiel offen gelegt: Das Spiel leistet einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der Lernfähigkeit und Lernbereitschaft im Entwicklungsprozess. Gleichzeitig aber ermöglicht das Spiel zahlreiche Ich-Prozesse zur Bewältigung seiner Alltagsprobleme. Das bedeutet: Mit dem Lernen als Anpassung des Kindes an die Umwelt erwirbt, entwickelt und verbessert es im Spiel zugleich seine Instrumente und Strategien, mit denen es die Umwelt an die Ansprüche seines Ich anpasst. Mehr noch: Beim Lernen vom Kontext Spiel entwickelt, erprobt, übt und festigt das Kind innere Regulationsformen zur lebensnotwendigen Sicherung eines Gleichgewichts zwischen beiden Richtungen der Anpassung. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Kinder immer wieder neuen Anforderungen der Umwelt, z.B. den Lernaufgaben der Schule, zuwenden können.

Je schneller sich unsere moderne Lebenswelt verändert und je größer damit der Anpassungsdruck und die Lernanforderungen an die nachfolgende Generation werden, desto wichtiger wird das freie Spielen für die Kinder. In der Erzie­hung haben wir bisher zu einseitig versucht, das Spiel nur für eine Verbesserung, Beschleu­nigung und Effektivierung der Lernprozesse zu nützen. In Zukunft müssen wir stärker darauf achten, dass die Kinder im freien Spiel Strategien zur Selbstvergewisserung und Selbst­erhaltung, Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung erwerben. Nur dann werden sie die Herausforderungen ihrer Lebenswelt bewältigen und sich für die Zukunft eine humane und menschenwürdige Lebenswelt erhalten können.

Daraus ergibt sich in letzter Konsequenz für alle pädagogisch Verantwortlichen in den unterschiedlichsten Erziehungsbereichen, in Familie und Schule, in Kindergärten und Jugendarbeit, in Hort und Heim, den Kindern möglichst viele und offene Gelegenheiten zum freien, phantasievollen, selbstgestalteten Spielformen zu geben. Eine Überhäufung mit fertigen billigen Spielsachen ist daher ebenso zu vermeiden wie eine exzessive Nutzung primitiver elektronischer Spiele.

Kinder brauchen “Spielräume zum Leben” (G.E. Schäfer 1989):

als Freiräume,

in denen sie sich möglichst frei von einer pädagogischen Steuerung ihres Handelns und ungehindert von kleinlichen Geboten oder Verboten entwickeln, ihre Kräfte und Fähigkeiten entfalten und ihre grundlegenden Bedürfnisse ausleben können;

als Bewegungsräume,

in denen sie sich auf vielfältigste Art unbekümmert bewegen und dabei unterschiedlich­ste Handlungsmuster erwerben, ihre Körper kennen lernen, ihre Kräfte, Be­weglich­keit und Geschicklichkeit ausbilden sich bis zur totalen Ermüdung austoben können (laufen, springen, raufen, Ballspielen und die verschiedensten Bewe­gungs-, Geschicklichkeits- und Sportspiele);

als Handlungsräume,

in denen sie spontan aktiv sein, bauen, experimentieren, beobachten, basteln, werken, handarbeiten und sich dabei als Schöpfer bestimmter Werke erleben können; (ver­schieden­ste Materialien, Werkzeuge, Bau- und Experimentierkästen);

als Erfahrungsräume, als Lern- und Übungsräume,

in denen sie Neues entdecken und erforschen, Abenteuer erleben, Geheimnisse erkun­den und hüten können; in denen sie sich in sozialen Beziehungen bewähren und selbst erken­nen, Zu- und Abneigung, Freundschaft und Feindschaft, Solidarität und Streit erleben und erleiden können; in denen sie in verschiedene Rollen schlüpfen und bei ihrer Umsetzung das Handeln nach Spielregeln lernen und grundlegende soziale Verhaltensmuster, Tugenden und Wertorientierungen einüben können; in denen sie unterschiedlichste Fähigkeiten und Geschicklichkeiten erwerben und üben, Zusammenhänge erkennen und Detailwissen über die Gegebenheiten ihrer Umwelt sich aneignen können

als Phantasieräume,

in denen sie zur Erfindung neuer Spiele und zu kreativen Tätigkeiten angeregt werden und Spaß daran finden, in der Phantasie immer wieder die Grenzen der faktischen Gege­benheiten zu überschreiten.

Literatur

  • Bateson, G. (1990): Geist und Natur. Frankfurt;
  • Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2013): KIM-Studie 2012. Kinder+Medien, Computer+Internet. Stuttgart;
  • Schäfer, G. E. (1989): Spielphantasie und Spielumwelt. München;
  • Spanhel, D. (1988): Die Zukunft der Kindheit angesichts der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen. In: D. Spanhel, S. Hotamanidis (Hrsg.): Die Zukunft der Kindheit, Weinheim, S. 72-91;
  • Spanhel, D. (1991): Kinder an das Spiel freigeben. In: Spielmittel, H. 1, S. 17-32;
  • Spanhel, D. (1992): Das Spiel aus ökologischer und pädagogischer Perspektive. In: unterrichten/erziehen, H. 3, S. 52-58;
  • Spanhel D. (2006): Medienerziehung. Handbuch Medienpädagogik Bd. 3. München, S. 141ff.;
  • Zacharias, W.(2000): Interaktiv – Medienökologie zwischen Sinnenreich und Cyberspace. Neue multimediale Spiel- und Lernumwelten für Kinder und Jugendliche. München

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Prof. Dr. Dieter Spanhel
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Erstellt am 25. Oktober 2001, zuletzt geändert am 25. Juni 2014

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