Entwicklungen ermöglichen – Ergebnisse und Folgerungen aus aktuellen Kinder- und Jugendstudien über Kinder im Alter von sechs bis zwölf

Prof. Dr. Lothar Krappmann
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In Befragungen von Kindern im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren zeigt sich, dass die Mehrheit der Kinder sich mit Eltern, Freunden und Schule wohl fühlt. Die Aussagen weisen jedoch auch auf bemerkenswerte Anteile unter den Kindern hin, die über fehlendes Gespräch mit Eltern klagen, über gesundheitliche Probleme berichten, Ängste über schulisches Versagen beschreiben und mehr Beteiligung an sie betreffende Entscheidungen verlangen. Kinder dieser Altersgruppen und ihre Entwicklungsbedingungen verdienen mehr Aufmerksamkeit der Erwachsenen.

Die wenig beachteten Jahre

Oft haben wir Mühe uns zu erinnern, was wir im Alter von sieben, neun oder auch zwölf Jahren – im Alter der Großen Kinder – getan haben, was wir gefühlt und vom Leben erwartet haben.(1) Wenn wir angestrengt nachdenken, fällt uns doch dies und das ein, darunter manches, was heute trivial erscheint, einiges, worüber wir im Nachhinein lachen müssen oder was uns aus jetziger Sicht einfältig vorkommt. So entsteht oft der Eindruck, dass diese Jahre nicht so wichtig sind, und es wird übersehen, wie vieles im Alter zwischen sechs und zwölf/dreizehn, in den Jahren des Heranwachsens der Großen Kinder, grundgelegt wird – oder eben auch nicht. Beides ist Thema der »Initiative für Große Kinder«:

  • die Entdeckungen, die Herausforderungen, die Aufgaben, mit denen sich die Großen Kinder aktiv auseinandersetzen und an denen sie ihr Können, ihr Verständnis und ihre Motivation entwickeln sowie
  • die Mängel, Unaufmerksamkeiten und Rücksichtslosigkeiten, denen die Kinder dieses Alters begegnen, denn die Großen Kinder brauchen für ihre Entwicklungsleistungen stützende und anregende Bedingungen, die wir, die Erwachsenen, ihnen bereitstellen müssen.

Vieles finden Kinder und Jugendliche in unserem Land vor, was sie benötigen. Das hat jüngst eine vergleichende UNICEF-Studie bestätigt, die Deutschland auf Platz 6 unter 29 entwickelten Ländern gesetzt hat (UNICEF 2013). Die Studie zeigt, dass in unserem Land ein großes Potenzial bereitsteht, um zu beheben und zu verbessern, was Kindern dennoch fehlt und ihre Entwicklung belastet.

Zwischen Sechs und Zwölf

Worum geht es in den Kindheitsjahren zwischen sechs und zwölf oder dreizehn? Wir haben Kinder vor Augen, die in diesen Jahren einen großen Schritt aus ihrer Familie hinaus in einen sozialen Raum tun, der von den Eltern nicht mehr voll kontrolliert wird – in Schule und Gleichaltrigengruppe, einen Raum, in dem sie mit zunehmend eigener Verantwortung handeln müssen:

> Dadurch ändern sich die Beziehungen zu den Eltern. Für die meisten Kinder sind sie immer noch sehr wichtige Bezugspersonen, obwohl ihnen klar wird, dass Eltern viele Probleme nicht mehr für sie regeln können. Es ist dringend, dass sich die Beziehung weiterentwickelt, damit aus einseitiger Anleitung und Aufsicht Schritt für Schritt gemeinsames Gespräch wird.

> Die anderen Kinder rücken für das Kind dieses Alters zunehmend ins Zentrum des sozialen Lebens. Kindergruppe, Freundschaft nehmen zeitlichen und physischen, aber vor allem auch psychischen Raum ein. Vieles wird unter Freunden und in Gruppen ausgehandelt, Verabredungen, Zusagen, Regeln werden entdeckt und erprobt. Was tut man, wenn jemand sein Versprechen bricht? Versucht man es noch einmal? Gibt man auf? Auch viel pragmatisches Verhalten lernen Kinder in Spiel und Streit sowie beim Experimentieren mit Grenzen.

> Die Lebensphase der Großen Kinder ist auch eine Zeit des Lernens – mit Fragen und Interessen weit über die Schule hinaus. Zusätzlich zur Schule bieten Medien aller Art Informationen, durch die, wie viele glauben, Kinder über Gott und die Welt, über Glück und Menschenleid viel mehr lernen als in der Schule – ein UNESCO-Gutachten über das informelle Lernen sprach von einem Anteil von 70 Prozent des Wissens, den wir außerhalb der Schule einsammeln (Faure u.a. 1982).

> Den Kindern wird bewusst, dass sie mit einem Körper ausgestattet sind, der vieles kann und manches nicht; ein Körper, in dem man sich wohl fühlt oder nicht, der einem gefällt oder einen vor anderen unsicher macht, der möglicherweise bei Stress versagt, von Umweltverunreinigungen geplagt wird und der ernährt und gesund erhalten werden muss.

> Aber das Wichtigste sind doch die Schritte in der Entwicklung der Person. Die neuen Erfahrungen fördern Selbstständigkeit, Selbstvertrauen und die Überzeugung, etwas bewirken zu können –, oder sie wecken Misstrauen und Ängste und verleiten sogar zum Rückzug. Sie stärken auch die Fähigkeit, das Handeln anderer einschätzen und sich darauf einstellen zu können. Kinder erleben sich als soziale Wesen, wollen dazugehören und beteiligt werden – nicht zuerst im Sinne von formaler Mitbestimmung, sondern durch Gehörfinden und Anerkennung im täglichen gemeinsamen Leben.

Was sagen die Kinderstudien über Entwicklungsbedingungen und -chancen?

Eine Fülle von Studien hat die Lebens- und Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen im letzten Jahrzehnt erkundet, jedoch in vielen Fällen nur einzelne Jahrgänge der Altersgruppen der Großen Kinder einbezogen. Nicht immer sind es repräsentative Studien. In den folgenden Überblick über die Ergebnisse werden jedoch nur Studien einbezogen, die sich auf die Aussagen vieler Kinder stützen. Da die Fragen, die dabei an Kinder gestellt wurden, unterschiedlich waren und die Antworten aus verschiedenen Jahren stammen, stimmen ermittelte Häufigkeiten und Prozentsätze oft nicht genau überein. Die Grundmuster der Antworten sind jedoch sehr konsistent und die Trends in den Aussagen sehr deutlich.

Die Daten lassen erkennen, dass sowohl im Guten als auch im Bedenklichen nie alle Kinder betroffen sind, wenngleich sich Belastungen bei Kindern aus benachteiligten Lebensverhältnissen häufen. Insgesamt entsteht ein sehr differenziertes Bild, das die Forschung weiter entfalten sollte. Es wäre besonders wichtig, mit langfristigen Untersuchungen herauszuarbeiten, welchen Kindern es unter welchen Bedingungen gelingt, sich auch unter ungünstigen Voraussetzungen einen befriedigenden Platz im Leben zu sichern.

Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass beunruhigende Befunde über die Lebenssituation der Kinder dieses Alters nicht determinieren, wie die Entwicklung dieser Kinder weitergehen wird. Die Initiative für Große Kinder interessiert sich für diese Befunde nicht zuletzt deswegen, weil sie den weiteren Lebensweg der Kinder gerade in diesem Alter immer noch für offen hält, so viele Belastungen sich bereits angesammelt haben mögen. Eine neue Lebensphase eröffnet auch neue Chancen. Die Initiative mahnt, die Orientierungsversuche, Interessen und Rechte der Kinder in diesem Alter sehr ernst zu nehmen. Gleichgültigkeit oder gar Missachtung der Kinder können Fehlentwicklungen einleiten oder bestärken. Anteilnehmendes Eingehen auf Kinder, so sind wir allerdings überzeugt, hilft ihnen mehr als gesteigertes Lerntraining oder gar stimulierende Medikamente.

Daher soll der folgende Überblick anregen, darüber nachzudenken, ob und inwieweit Kinder in den eben genannten Kernbereichen ihrer Entwicklung die Unterstützung und Herausforderungen, aber auch die Räume und Zeiten für eigene Aktivität finden, die sie dringend benötigen. Sämtliche Daten stammen überwiegend aus Studien, die gedruckt oder im Internet veröffentlicht wurden. Im Text werden Abkürzungsnamen für die Studien verwendet, die in einer Liste am Ende des Beitrages erklärt werden. Außerdem wird dort die in der jeweiligen Studie untersuchte Kindergruppe knapp beschrieben.

Beziehungen zu den Eltern

Die Eltern bleiben auch in diesem Alter die ersten Bezugspersonen der Kinder. Über 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen geben in einer Umfrage ihrer Familie die Note 1 oder 2 (KJR 2010). Zwei Drittel der Kinder im Alter von sieben bis zwölf geben an, sich an die Eltern zu wenden, wenn sie in Schwierigkeiten sind, und nur in bestimmten Fragen zuerst an Freunde (Seibert/Kerns 2009, S.350).

Auch im Einzelnen äußert sich die Mehrzahl der Kinder weithin positiv über Familie und Eltern. Aber es gibt auch Beobachtungen, die nachdenklich machen: Denn da sind doch Kinder, die sich zu Hause nicht gut aufgehoben fühlen – etwa jedes sechste bis siebente Kind im Alter der Großen Kinder (LBS 2011; WV 2010). Da wir wissen, wie schwer sich Kinder tun, vor anderen über ihre Eltern zu klagen, sind diese Aussagen ernst zu nehmen.

Kinder haben durchaus Verständnis für elterliche Belastungen. Dennoch wünschen sie sich mehr Zeit mit den Eltern. Das wird in konkreten Nachfragen besonders deutlich: Dann wollen Kinder mehr gemeinsame Mahlzeiten, die Gelegenheit zum Gespräch bieten, und ausdrücklich mehr Unterhaltungen über alltägliche Erfahrungen – mehr als ein Viertel der Kinder dieses Alters äußert solche Wünsche, und zwar insbesondere die älteren unter den Großen Kindern (LBS 2011). Gespräch ist so wichtig in dieser Lebensphase, in der äußerliche Kontrolle in gemeinsam erzeugte Einsicht und Verabredung von Regeln übergehen muss.

Daten der Untersuchungen zeigen auch, wie sehr Kinder danach streben, ihr eigenes Leben auszugestalten: Kinder dieser Altersgruppe wollen einen Raum, für den sie selbst Verantwortung übernehmen. Sie verlangen den eigenen Platz in der Wohnung. Sie fordern aber auch eine Privatsphäre, einen inneren Eigenraum des Nachdenkens und Sich-Besinnens (KJR 2010; LBS 2011; WV 2010). Beides, der eigene Raum und die respektierte Privatsphäre, sind für sich entwickelnde junge Menschen ganz entscheidend – die Kinderrechtskonvention erklärt dies zum Menschenrecht der Kinder (Art. 16).(2)

Etwa die Hälfte der Kinder sieht ihre Meinung von den Eltern anerkannt und einbezogen, deutlich mehr von der Mutter als vom Vater (WV 2010). Aber etwa ein Drittel der Kinder beschwert sich, dass sie Probleme haben, mit Vater oder Mutter zu sprechen, ihre Meinung beizutragen oder sich an Entscheidungen in der Familie zu beteiligen (KJR 2010). Kinder ohne Gespräche mit den Eltern sind in einer sehr riskanten Lebenslage, falls sie keinen anderen erwachsenen Menschen haben, der sie wie Eltern begleitet.

Die anderen Kinder

Starke Impulse für die Entwicklung geben die anderen Kinder – vor allem die gleichaltrigen Kinder, wie die Kinderforschung belegt. Sogar in der Bindungsforschung, die zunächst nur die Mutter, dann andere Erwachsene im Blick hatte, wird untersucht, ob nicht auch Bindungen an andere Kinder entstehen, in denen Kinder Sicherheit und Unterstützung angesichts der für sie zu bewältigenden Aufgaben und Probleme suchen und erhalten (Gorrese /Ruggieri 2012).

Fast alle Kinder setzen Freundschaften zu anderen Kindern an den ersten Platz ihrer Interessen, mehrere Plätze vor Internet und Computerspiel (KIM 2010); nirgends fühlen sich Kinder dieses Alters rundum wohler, nur sehr wenige sagen, dass es ihnen unter den Gleichaltrigen schlecht geht (LBS 2011). Mobbing, mit dem Alter zunehmend, vergällt allerdings etwa jedem zehnten Kind das soziale Leben und oft auch das Lernen in der Schule (HBSC 2009/10).

Die Mehrzahl der Kinder nennt mehr als sechs Freundinnen oder Freunde, mit zunehmenden Alter noch mehr (WV 2010). Nicht alle Freundschaften sind eng, zunächst stehen meist Spielinteressen im Vordergrund; Offenheit und Vertrauen entwickeln sich erst, wenn mehr persönliche Erfahrung geteilt wird (Wehner 2009).

Fast die Hälfte der Kinder sieht Freunde / Freundinnen fast jeden Tag, die anderen wenigstens einmal in der Woche – nicht allzu oft (DJI 2002; KIM 2010). Nach einer Studie über Wochenzeitpläne sind es dennoch etwa elf Stunden, die mit den zahlreichen Freunden verbracht werden – allerdings weniger als mit Internet und Computerspiel (UNICEF 2012).

Etwa die Hälfte der Kinder spielt nicht täglich draußen, ebenfalls rund die Hälfte auch nicht täglich zu Hause (KIM 2010). Die Zahlen machen es schwer, die große Zahl an Freundinnen und Freunden und die Zeit, die für das Zusammensein mit ihnen während der Schulwoche zur Verfügung steht, in ein befriedigendes Verhältnis zu setzen. Das sieht bei vielen Kindern nicht nach intensivem Freundesleben und nach vielfältigen Entwicklungsanstößen aus, die in diesem Miteinander vermittelt werden könnten.

Leben und Lernen in der Schule

Mehr als zwei Drittel der Kinder fühlen sich in der Schule wohl, wenn man die Antwort »eher gut« mit einbezieht (LBS 2011). Fast ein Drittel der Sechs- bis Elfjährigen reagiert auf diese Frage jedoch zurückhaltend oder gar mit »schlecht« (WV 2010). Bei der Frage, was einem Kind am meisten Spaß macht, landet die Schule auf einem der nachrangigen Plätze (LBS 2011).

Gehört es zum Kinderjargon, über die Schule zu jammern? Wir sollten aber diese Klagen nicht abtun, denn Schule sollte doch zum Besten gehören, was die Erwachsenen den Nachkommenden anbieten. Hängen die Klagen mit den Ängsten zusammen, die bedrückend viele Kinder im Hinblick auf Lernen und Schule äußern? Fast ein Drittel neun- bis vierzehnjähriger Kinder nennt als größte aktuelle Angst, in der Schule zu versagen. In der Grundschule sind es weniger, aber immer noch jedes fünfte Kind (LBS 2007; Schneider 2005). Die Aussagen vieler Kinder, dass sie wegen Fehlern ausgelacht und beschämt werden, sind ebenfalls schockierend (KJR 2010; LBS 2007).

Schule macht Arbeit, und zwar bei Grundschulkindern bereits im Umfang vergleichbar mit der Wochenarbeitszeit Erwachsener; bei den älteren Kindern kann es weit über eine 40-Stunden-Woche hinausreichen (UNICEF 2012). Das sind viele Stunden, in denen Bewegung nur sehr eingeschränkt möglich ist, und auch Scherze und kleine Nebenthemen, die an vielen Arbeitsplätzen der Erwachsenen für Entspannung sorgen, oft als Störungen empfunden werden.

Kinder wurden nicht gefragt, als die Ausweitung von Schule auf den Nachmittag beschlossen wurde, freunden sich aber mit der Expansion an. Offenbar wirkt sich der verlängerte Aufenthalt in der Schule weniger negativ auf das Sozialleben der Kinder aus, als befürchtet wurde (Kanevski / von Salisch 2011). Vielleicht wird sie zum Platz, an dem man zuverlässig seine Freunde und Freundinnen trifft, allerdings in einer Umgebung, die Handlungsmöglichkeiten einengt.

Falls die Ausbreitung des ganztägigen Schulbesuchs dazu führt, dass der Schultag neu organisiert wird, gibt es jedoch neue Chancen, ihn kinderfreundlicher zu gestalten. Die Mehrheit der Kinder will keine Fortsetzung des üblichen Unterrichts am Nachmittag, sondern wünscht sich sozial intensive Sport- und Kulturangebote und Projekte, die andere Kommunikations- und Kooperationsweisen ermöglichen. Solcher Projektunterricht könnte auch Themen, die Kinder beschäftigen, aber in der Schule bislang wenig Platz finden, vermehrt aufgreifen (WV 2010).

Körperliche Entwicklung

Erfreulich ist, dass Kinder überwiegend ihren Gesundheitszustand als gut und sehr gut einschätzen, obwohl es einige Hinweise gibt, die diese rundum positive Einschätzung infrage stellen (KiGGS 2006).

Zum positiven Bild trägt bei, dass etwa zwei Drittel der sieben- bis zehnjährigen Kinder, mehr die Jungen als die Mädchen, Sport in einem Verein treiben (KiGGS 2006). Ärzte raten allerdings zu mehr, am besten einer Stunde Bewegung am Tag. Das erreichen viele Kinder nicht. Vor allem unter den elfbis dreizehnjährigen Mädchen ist fast die Hälfte nicht oder wenig körperlich aktiv (HBSC 2009/10; KiGGS 2006).

Etwa ein Viertel der Elfjährigen geht oft ohne Frühstück in die Schule, mit zunehmendem Alter steigt die Zahl weiter an (HBSC 2009/10). Im schon erwähnten Wunsch der Kinder nach mehr gemeinsamen Mahlzeiten mit den Eltern steckt vielleicht auch der Wunsch nach gut zubereitetem Essen. Jedenfalls könnten die Aussagen über nicht ausreichenden Obst- und Gemüseverzehr anzeigen, dass viele schnelle, ungesellige Mahlzeiten zum Alltag der Kinder gehören (KiGGS 2006).

Im Zusammenhang mit den verbreiteten Essgewohnheiten steht das Übergewicht jedes sechsten Kindes – auch mit dem Alter zunehmend (KiGGS 2006). Es ist ein deutliches Zeichen, dass ein Teil der Kinder zu wenig Bewegung hat und unausgewogen isst.

Psychische Gesundheit

Es sind die Aussagen der Kinder über Schmerzen, die mit psychischen Belastungen zusammenzuhängen scheinen – über Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und Schlafprobleme –, die Zweifel daran wecken, ob ihr körperlicher Zustand wirklich so zufriedenstellend ist wie von vielen angegeben (HBSC 2009/10). Generell nehmen solche Störungen zu, während »klassische« Kinderkrankheiten nach ärztlichen Einschätzungen abnehmen. Die BELLA-Studie spricht von einer Verschiebung hin zu einer »neuen Morbidität«, gegen die mit präventiven Maßnahmen vorgegangen werden müsse (Robert-Koch-Institut 2011, S.10).

Bei etwa einem Viertel der Kinder ballen sich diese Störungen zu multiplen Belastungen zusammen (LBS 207). Bei elf Prozent der Jungen und bei acht Prozent der Mädchen werden als ernst eingeschätzte psychische Auffälligkeiten ermittelt (BELLA 2006). Die Forscher rechnen sogar mit mehr Auffälligkeiten, über die das Erhebungsverfahren jedoch nicht ebenso schlüssige Ergebnisse liefert: Zusammen käme man auf etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen sieben und siebzehn mit Auffälligkeiten. In einer Schulklasse von 25 Kindern wären es also vier bis fünf Kinder: Eine für Lehrerinnen und Lehrer kaum zu lösende Aufgabe! Auch in Tageseinrichtungen bedürfen diese Kinder intensiver Zuwendung.

Hinzuweisen ist auf den geradezu astronomisch angestiegenen Ritalin-Konsum (Methylphenidat) von 34 Kilogramm im Jahr 1993 auf 1.791 Kilogramm im Jahr 2011, dokumentiert von der Bundesopiumstelle im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (3). Der steile Anstieg spiegelt die oft verzweifelten Mühen von Eltern wider, unangepasstes Verhalten von Kindern zu mildern, das oft besser mit mehr Bewegung und vielleicht auch mit anderer Ernährung kuriert würde.

Bemerkenswert ist, dass viele Kinder im Alter von zehn und elf Jahren Ängste vor sozialen, ökologischen und anderen weltweiten Problemen haben (WV 2010). Über die Hälfte dieser Kinder spricht über Krieg, Armut, Umweltverschmutzung, also über Probleme, die wirklich existieren und die Kindern nicht verborgen bleiben, über deren Bewältigung sie jedoch zu Hause und in der Schule wenig erfahren. Wieder fehlt das Gespräch!

Angesichts des hohen Anteils mit derartigen Ängsten ist es umso erstaunlicher, dass die Kinder im Alter von Schuleintritt bis elf Jahren eine überaus positive Erwartung an ihr zukünftiges Leben äußern. Ihr Leben werde »richtig schön«, ist die Überzeugung von mehr als 80 Prozent der befragten Kinder (WV 2010). Die erwähnte Vergleichsstudie von UNICEF stellt zwar fest, dass die deutschen Elf- bis Fünfzehnjährigen viel unzufriedener mit dem Leben sind als ihre Altergenossinnen und -genossen in vielen europäischen Ländern. Im Vergleich sind sie unzufriedener – aber auf hohem Niveau, denn auch nach der UNICEF-Studie sind 84 Prozent der Kinder und Jugendlichen zufrieden (UNICEF 2013).

Für Kinder ist wichtig, dass sie jemanden haben, an den sie sich wenden können, wenn sie in Unsicherheiten und Ängsten stecken oder nicht schaffen, was andere oder sie selbst von sich erwarten. Mehr als ein Viertel der Großen Kinder ist sich nicht sicher, jemanden zu haben, der ihnen hilft (WV 2010). Etwa ebenso viele haben nur eine geringe oder sehr geringe Erwartung, dass sie selber etwas bewirken können (WV 2010).

Die Studien im Überblick

Die große Zufriedenheit mit dem Leben ist gutes psychisches Startkapital für die Kinder. Sie sind offenbar keineswegs entmutigt, obwohl die berichteten Daten erkennen lassen, dass vieles das Leben dieser Kinder belastet: nicht genug Gespräche mit den Eltern, Zeitnöte mit Freundinnen / Freunden, Schulversagensängste, Stress-Symptome, Bewegungsmangel, dürftige Ernährung – nicht bei allen Kindern, aber bei mehr Kindern, als unserer Gesellschaft guttut (vgl. Enderlein 2012).

Beunruhigend ist die Beobachtung, dass die Belastungen, Störungen und Benachteiligungen sich bei einer Teilgruppe von Kindern kumulieren. Klaus Hurrelmann, Mitautor der World Vision Kinderstudie, spricht von einem Fünftel der Kinder, denen es »an Rückhalt, Anregungen und gezielter Förderung« fehle (4). Immer wenn Studien zusätzliche Faktoren kontrollierten, zeigte sich, dass die soziale Lage der Familie, Arbeitslosigkeit, die Zusammensetzung der Familie und der Migrantenstatus einen deutlichen Einfluss auf die nachteilige Lage von Kindern hatten (HBSC 2009/10; LBS 2011; WV 2010). Die Höhe der berichteten Prozentsätze zeigt jedoch an, dass auch zahlreiche Kinder außerhalb dieses Fünftel nicht die Sicherheit und Förderung erhalten, die sie für Entwicklung, Lernen und Selbstvertrauen benötigten.

Diese Studien und ihre Ergebnisse sollten von denjenigen gelesen werden, die in Parlamenten und Administration Verantwortung für die Bedingungen des Aufwachsens haben. Sie würden zahlreiche Hinweise für die Gestaltung von Kindertagesstätten, Schulen und Wohnumfeld finden, um Kindern sichere und attraktive Räume und ausreichend Zeit für Bewegung, Sport, Spiel und Zusammensein zu geben. Gleichfalls machen die Ergebnisse deutlich, welche Interessen Kinder beschäftigen und welche Ängste sie verfolgen, mit denen sie nicht alleingelassen werden sollten. Inklusion ist ein Begriff, der nicht nur Kindern mit Behinderungen Teilhabe versprechen soll, sondern allen Kindern gelten muss.

Viele Daten belegen, dass Kinder ein großes Verlangen nach mehr Gespräch mit ihren Eltern und anderen Erwachsenen haben, das nicht erfüllt wird. Gerade Gespräche helfen zu verhindern, dass aus den geschilderten Nöten und Defiziten tiefe Frustration, Depression oder destruktive Aggression werden.

Beteiligung der Kinder

Zweifellos muss man die wirtschaftliche Lage der Familien sichern. Und zweifellos muss man das gesamte Umfeld des Aufwachsens kindergerecht gestalten. Aber ein anderer Punkt scheint mir ebenfalls wesentlich. Ich komme auf die erwähnte UNICEF-Studie zurück, nach der elf- bis fünfzehnjährige Kinder in unserem Land weniger zufrieden leben als Kinder entsprechenden Alters in anderen Ländern, obwohl viele objektive Bedingungen des Aufwachsens in Deutschland besser sind als in den meisten Vergleichsländern.

Vermutlich hat die Unzufriedenheit von Kindern Land für Land andere Gründe und bezieht sich möglicherweise auf andere Lebensumstände als die, die in der UNICEF-Studie untersucht werden. Für deutsche Kinder erhält man einen Hinweis aus einem Bericht, den eine Gruppe von deutschen Kindern für den UN-Kinderrechtsausschuss ausgearbeitet hat. Gestützt auf eine Umfrage bei 1.700 Kindern hat diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen aufgezählt, welche Kinderrechte Kindern besonders wichtig sind. Die Kinder nennen viele Rechte, die den Bedingungen guten Aufwachsens entsprechen, um die es in den eben referierten Studien geht. Am Schluss der Aufzählung steht, gleichsam als Klammer um alles: Kinder haben das Recht, »ihre Meinung zu sagen und gehört zu werden« und »dass ihre Meinung berücksichtigt wird«. Der Artikel 12 der Kinderrechtskonvention bestätigt ihnen dieses Recht.

Kinderrechtler wissen, wie überaus wichtig es Kindern ist, gehört zu werden und Antwort zu bekommen – in Familie, Schule, Tagesstätte, Hort und Kommune. In vielen der Wünsche und Klagen der Kinder schimmert auf, dass ihnen diese Anerkennung als Gesprächspartner und Beteiligte fehlt. Hier, so glaube ich, wurzelt ein großer Teil der Unzufriedenheit und Frustration der Kinder unseres Landes.

Ich sage jetzt vielleicht etwas politisch Unkorrektes: Ich befürchte, wir werden trotz aller Anstrengungen Armut nicht beseitigen; der Arbeitsmarkt wird weiter Zwänge ausüben, der internationale Wettbewerb lastet auf der Arbeit; viele Eltern werden unter Druck stehen und gehetzt bleiben; Unterricht und Lernen werden nicht so kindorientiert reformiert, wie erhofft; Haushaltsschulden werden weiterhin drücken und als Argument dienen, die Einrichtungen für Kinder knapp zu halten; Wohnumfeld und Verkehr bleiben kinderunfreundlich – all das zu ändern, ist wünschenswert. Aber können wir mehr als kleine Schritte erhoffen?

Aber es gibt einen großen Schritt, der kaum Geld kostet und sofort getan werden kann: Kinder zu beteiligen, und zwar an allen Orten ihres Lebens. Dann würden Kinder sich als einbezogen erleben, wenn es darum geht, sich mit den nun einmal bestehenden restriktiven Bedingungen des Lebens einzurichten. Sie würden für ihren Anteil an den knappen Gütern streiten und helfen, Lösungen zu finden, die auch ihre Rechte berücksichtigen. Wenn sie respektiert werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder auf erwachsenen Rat hören.

Wo Beteiligung der Kinder ernsthaft versucht wurde, hat sie Situationen entspannt, Gewalt in Schulen verringert, Stress abgebaut, Interessen ausgeglichen. Beteiligung beseitigt auch Kopf- und Bauschmerzen, senkt den Ritalin-Konsum und mindert Ängste.

Beteiligung ist der Weg zur guten, gesunden und mitverantwortlichen Entwicklung der Kinder, weil sie Kinder mit realen, lebensrelevanten Aufgaben konfrontiert. Es stärkt auch unser demokratisches Zusammenleben. Ich hoffe, dass die politisch Verantwortlichen und das Leitungspersonal aller Einrichtungen für Kinder dieses Recht der Kinder zur Kenntnis nehmen und mit den Kindern gemeinsam verwirklichen.

Literatur

  • Enderlein, O. (2012): Große Kinder: Die aufregenden Jahre zwischen 7 und 13. München. Faure, E. u. a. (1982): Wie wir leben lernen. Der UNESCO-Bericht über Ziele und Zukunft unserer Erziehungsprogramme.
  • Reinbek. Gorrese, A.; Ruggieri, R. (2012): Peer attachment: A meta-analytic review of gender and age differences and associations with parent attachment. In: Journal of Youth and Adolescence, 41, pp. 650– 672.
  • Kanevski, R.; von Salisch, M. (2011): Peer-Netzwerke und Freundschaften in Ganztagsschulen: Auswirkungen der Ganztagsschule auf die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen. Weinheim.
  • Ravens-Sieberer, U. u. a. (2007): Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus der BELLA-Studie. Bundesgesundheitsblatt, 50, S.871–878.
  • Robert-Koch-Institut (Hrsg.) (2011): KiGGS – Kinderund Jugendgesundheitsstudie Welle 1 Projektbeschreibung. Robert-Koch-Institut. Berlin.
  • Schneider, S. (2005): Lernfreude und Schulangst: Wie es 8- bis 9-jährigen Kindern in der Grundschule geht. In: Ch. Alt (Hrsg): Kinderleben – Aufwachsen zwischen Familie, Freunden und Institutionen. Bd. 2, Aufwachsen zwischen Freunden und Institutionen. Wiesbaden, S.199–230.
  • Seibert, A.C.; Kerns, K.A. (2009): Attachment figures in middle childhood. In: International Journal of Behavioural Development, 33, pp. 347–355.
  • Wehner, K. (2009): Freundschaften unter Kindern. In: K. Lenz; F. Nestmann (Hrsg.): Handbuch Persönliche Beziehungen. Weinheim, S.403–421.

Einbezogene Studien zur Lebenssituation der Großen Kinder

  • BELLA 2006 = BELLA Studie im Kinder- und Jugendsurvey KiGGS (2006/07) 2.863 Kinder im Alter von 7 bis 17 und ihre Familien
  • DJI 2002 = Kinderpanel 2002. Die Welt der Gleichaltrigen. www.cgi.dji.de/cgi-bin/inklude.php?in klude =kinderpanel/Deskriptionen/start.htm 1.042 Kinder im Alter von 8 bis 9 Jahren
  • HBSC 2009/10 = Health Behaviour of School-aged Children (HBSC) (2009/10). HBSC-Team Deutschland an der Universität Bielefeld (Leitung Prof. P. Kolip). www.hbsc-germany.de Repräsentative Stichprobe mit 5.005 Kindern der 5., 7. und 9. Klasse allgemeinbildender
  • SchulKiGGS 2006 = Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS). Robert-Koch-Institut Berlin 2006 17.641 Mädchen und Jungen im Alter von 0 bis 17 Jahren
  • KIM 2010 = Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2011). KIM-Studie 2010. Kinder + Medien, Computer + Internet 1.214 Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren (repräsentative Stichprobe)
  • KJR 2010 = Erster Kinder- und Jugendreport zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland 2010 (hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Jugendhilfe) 1.738 Kinder im Alter von 5 bis 19 Jahren (knapp die Hälfte von ihnen 10- bis 13-jährige)
  • LBS 2007 = LBS Kinderbarometer Deutschland 2006/7 6.100 Kinder im Alter von 9 bis 14 Jahren (repräsentativ für Bundesrepublik und 7 Bundesländer) LBS 2011 = LBS Kinderbarometer Deutschland 2011. Stimmungen, Meinungen, Trends von Kindern und Jugendlichen 10.348 Kinder im Alter von 9 bis 14 Jahren (repräsentativ für Bundesrepublik und Bundesländer)
  • UNICEF 2012 = UNICEF und Deutsches Kinderhilfswerk (2012). Online-Umfrage: Meine Woche Rund 2.000 Kinder aus den 1. bis 13. Schulklassen, die sich aus eigenem Interesse an der Online-Umfrage beteiligt haben
  • UNICEF 2013 = UNICEF Office for Research (2013). Child Well-Being in Rich Countries. A comparative overview. Innocenti Report Card 11 Eine Neuanalyse zahlreicher anderer Studien
  • WV 2010 = World Vision. Kinder in Deutschland. 2. World Vision Kinderstudie 2010. Frankfurt a.M. 2.529 Kinder im Alter von 6 bis 11 Jahren (repräsentative Studie)

Dieser Beitrag stellt eine überarbeitete Fassung eines Vortrags bei der Veranstaltung des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport des Bundeslandes Brandenburg gemeinsam mit dem Pestalozzi-Fröbel-Verband e.V. und der Initiative für Große Kinder e.V. dar zum zehnjährigen Bestehen der Initiative im April 2013. Die Initiative für Große Kinder ist ein Kreis von Praktikern und Wissenschaftlern aus vielen Bereichen, die sich an die für Kinder und ihre Einrichtungen Verantwortlichen und die Öffentlichkeit wenden, um sie auf notwendige Bedingungen für eine gute Entwicklung der Kinder in diesem Alter aufmerksam zu machen.

Fußnoten

(1) Die Initiative für Große Kinder verwendet die Bezeichnung »Große Kinder« für die Kinder der Altersgruppe von etwa sechs bis zwölf oder dreizehn Jahren, um hervorzuheben, dass diese jungen Menschen im Hinblick auf ihre Fähigkeiten, ihre Verantwortungsbereitschaft und ihr Verlangen nach Mitsprache die Vorstellungen überschreiten, die viele Menschen von Kindern haben. Der oft benutzte Ausdruck Schulkinder würde sie auf den Teil ihres Lebens reduzieren, der von der Schule beeinflusst wird.

(2) Deutschland hat die Kinderrechtskonvention 1992 ratifiziert und letzte Vorbehalte 2010 zurückgenommen. Die Konvention ist daher in vollem Umfange in Kraft – siehe hier.

(3) Tabelle siehe hier. Inzwischen nehmen auch Erwachsene dieses Medizinprodukt. Siehe dazu auch den 13. Kinder- und Jugendbericht

(4) Pressemitteilung zur Veröffentlichung der Studie hier.

Autor

Prof. Dr. Lothar Krappmann, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

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Quelle

pfv-Fachbuch / Förster, Ch.; Höhn, K.; Schreiner, S.A. (Hrsg.) (2013): Kindheitsbilder-Familienrealitäten. Prägende Elemente in der pädagogischen Arbeit. Freiburg im Breisgau, S. 102-110.

Der Beitrag wird hier mit freundlicher Genehmigung des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes e.V. übernommen.

Erstellt am 28. April 2015, zuletzt geändert am 28. April 2015

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