Das Traglingskonzept

Teil 1: Steinzeitbabys in der modernen Welt 

Dr. Evelin Kirkilionis
Kirkilionis - Photo

Einen Großteil seiner Stammesgeschichte zog der Mensch auf der Suche nach Nahrung umher. Noch heute sind wir von unserer Verhaltensausstattung her Jäger und Sammler und angepasst an ein Zusammenleben in kleineren Sozialverbänden. Die Notwendigkeit, auf der Suche nach Nahrung umherwandern zu müssen, prägte auch die Art der Betreuung des Nachwuchses. Nur das ständige Mitnehmen bzw. Tragen garantierte in stammesgeschichtlicher Vorzeit das Überleben im Säuglingsalter. Unsere Kinder zeigen folglich eine Reihe von Verhaltensweisen, anatomischen Besonderheiten und Entwicklungseigenarten, die diese Anpassung an das Getragenwerden belegen. Ein Blick in unsere Stammesgeschichtlichen lässt uns heute viele der kindlichen Eigenarten und Bedürfnisse besser verstehen.

Ein kleiner Streifzug durch die Stammesgeschichte des Menschen

Mehr als 90 % unserer Evolutionsgeschichte zogen wir als Jäger und Sammler in kleinen Gruppen auf der Nahrungssuche umher. Erst vor etwa 10.000 Jahren begann der Mensch diese Lebensweise nach und nach aufzugeben. Doch auch heute finden wir noch Kulturen, die eine derartige Lebensweise pflegen. Die meisten genetisch begründeten Verhaltensanpassungen des Menschen stammen somit aus der Jäger-und-Sammler-Zeit, d.h. wir sind von unserer Verhaltensausstattung nach wie vor Jäger und Sammler und selbstverständlich unsere Kinder ebenso. Dieser mobile Lebensstil erforderte auch eine ganz bestimmte Art der Betreuung des Nachwuchses, er musste stets mitgenommen werden. Für die Säuglingszeit bedeutete dies, dass nur das Getragenwerden seine Sicherheit und sein Überleben garantierte.

Ein Säugling – noch immer ein kleiner Tragling, wenn auch ein ungewöhnlicher

Dieser mobile Lebensstil, der unsere Stammesgeschichte kennzeichnet, erforderte demnach das Mitnehmen des Nachwuchses. Hier wird unsere nahe Verwandtschaft mit Schimpansen und Gorillas und vergleichende Betrachtungen interessant. Gorilla- oder Schimpansenjunge halten sich – so wie die Jungen der verschiedenen anderen Affenarten auch – mit Händen und Füßen im Fell der Mutter fest.

Abb 1 - Javaner Affe

Abb. 1

Sie sind physiologisch, anatomisch und verhaltensbiologisch daran angepasst, sich an der Mutter festzuhalten und überall hin mitgetragen zu werden. Irgendwo zurückgelassen sein und alleine bleiben, bedeutet für diese Jungen absolute Lebensgefahr. Der Nachwuchs mit diesen besonderen Anpassungen wird in der Biologie als „Tragling“ bezeichnet.

Während unserer vor-menschlichen Stammesgeschichte zählten unsere neugeborenen kleinen Vorfahren ohne Frage ebenfalls zu den Traglingen und hielten sich ursprünglich ähnlich wie Schimpansenkinder mit Händen und Füßen fest. Die menschliche Stammesgeschichte ist jedoch von Anfang an vom aufrechten Gang gekennzeichnet, d.h. die hinteren Extremitäten waren zu einem Lauffuß umgestaltet. Daher konnten sich auf der einen Seite die kleinen Vertreter unserer frühen Stammesgeschichte nicht mehr sicher in der Art wie seine kleinen Menschenaffenverwandten an der Mutter festhalten.

Abb 2 - Hüftsitz

Abb. 2

Auf der anderen Seite erforderten aber die ständigen Wanderungen, um Nahrung zu finden, dennoch das Mitnehmen des Nachwuchses. Dieses Dilemma „löste“ der menschliche Tragling schon zu Beginn unserer Stammesgeschichte durch eine ganz spezielle Strategie, die ihm erlaubte seinen bisherigen Traglingsstatus mit der damit verbundenen Art der Betreuung aufrechtzuerhalten. Er „entdeckte“ einen neuen Platz am Körper der Mutter: die Hüfte (Abb 2).

Diesem „Rutsch“ von der frontalen Trageweise zur Seite hin kamen die anatomischen Besonderheiten der Menschenmutter entgegen. Nur die menschliche Frau besitzt einen solch ausgeprägten schmalen Taillen-Bereich, während das Becken bzw. die Darmbeinschaufel auffallend ausladend ist (Abb. 3).

Abb 3 - weibliches Becken

Abb. 3

Testbild 780x450px

Diese anatomische Besonderheit unterstützt den seitlichen Hüftsitz, bei dem ein Säugling die Schmalseite der Mutter mit stark angehockten und mäßig gespreizten Beinchen (Spreiz-Anhock-Haltung) umfassen kann (vgl. Abb. 2).

Durch anpressen des gesamten Beins kann der menschliche Tragling seinen Halt in der Taille und auf der Hüfte sitzend stabilisiert. Nicht nur am Hüftsitzes selbst ist ein Kind aktiv beteiligt, auch an dessen Vorbereitung (Abb.-Serie 4).

ERROR: Modul „flex/master_2020_textmodul3:master_2020_vg_wort“ nicht installiert