Schreibabys: Wenn bei Eltern die Nerven blank liegen

Dr. Mauris Fries

Das Kind brüllt und brüllt. Dabei ist es gesund, satt und frisch gewickelt. In dieser Situation die Ruhe zu bewahren fällt schwer. Doch es gibt Hilfe für verzweifelte Eltern.

Mia kam auf die Welt und schrie. Wie alle Kinder. Doch Mia hörte einfach nicht mehr auf. Mit drei Wochen brüllte sie acht Stunden am Stück, nahezu ohne Pause und scheinbar ohne Grund. Mia war ein Schreibaby – und ihr Vater Thomas Bruch mit den Nerven fast am Ende. Eltern, die am Weinen ihres Kindes zu verzweifeln drohen, sollten sich Unterstützung holen. Die finden sie mittlerweile in vielen Städten in speziellen Schreibabyambulanzen.

“Wenn ein Kind über mindestens drei Wochen an mehr als drei Tagen in der Woche mindestens drei Stunden lang schreit, sprechen wir von einem Schreibaby” , erläutert Margret Ziegler, Ärztin in der Schreibabysprechstunde des Kinderzentrums München. Meist handele es sich um Kinder, die schlecht zur Ruhe kommen, offen für Reize sind und Schwierigkeiten haben, einen eigenen Rhythmus zu finden.

“In diesen Phasen schrauben die Kinder ihre Energie immer weiter nach oben” , beschreibt Evelyn Taplik-Kossak, Therapeutin in der Schreibabyambulanz Hamburg, das Verhalten. Nach stundenlanger Anstrengung sinken die Kinder erschöpft in den Schlaf, aus dem sie schnell wieder hochschrecken. Da sie die Tiefschlafphase nicht erreichen, gebe es nahezu keinen Übergang: “Die Kinder wachen auf und schreien sofort wieder.”

Nicht zu viele Reize bieten

Peter Hiermann rät, den Kindern in den ersten Lebensmonaten nicht zu viele neue Reize zu bieten. “Schreibabys reagieren auf starke Reize, wie etwa Hüpfen auf dem Pezziball, nur kurzzeitig mit Beruhigung” , sagt der Therapeut von der Schreisprechstunde an der Universitätskinderklinik Leipzig. Das Kind sollte regelmäßig schlafen und möglichst kurze Wachzeiten von höchstens eineinhalb Stunden haben, rät Ziegler. “Viele Eltern haben Angst, dass ihr Kind nachts nicht schläft, wenn es tagsüber viel geschlafen hat. Das stimmt in diesem frühen Alter nicht.” Aus eigener Erfahrung weiß Thomas Bruch, dass es helfen kann, mit einer ruhigen und tiefen Stimme mit dem Kind zu reden.

Wichtig ist es auch, nach den Ursachen des Schreiens zu forschen. Diese sind in aller Regel nicht, wie von vielen Eltern angenommen, Schmerzen oder die berühmten Drei-Monats-Koliken. “Natürlich sollten Sie zunächst mit dem Kinderarzt abklären, ob körperliche oder organische Ursachen eine Rolle spielen” , sagt Evelyn Taplik-Kossak. “Auch zu wenig Milch der Mutter oder eine Nahrungsmittelunverträglichkeit können ein Grund für Schreien sein” , ergänzt Margret Ziegler. Doch bei vielen Schreibabys greifen diese Erklärungen nicht.

Aggressionen in den Griff bekommen

Einig sind sich die Experten, dass Stress eine besondere Bedeutung zukommt. “Viele Mütter haben während der Schwangerschaft chronischen Stress erlebt” , sagt Hiermann. Ebenso kämen Wochenbettdepressionen als Auslöser in Frage. Für Taplik-Kossak ist auch der Geburtsverlauf ausschlaggebend. Möglicherweise sei die Geburt sehr schnell gewesen oder vor der Zeit. “Für die Babys bedeutet das Stress.” Schließlich spielt das Temperament des Kindes eine Rolle. “Es gibt einfach Kinder, die mehr Start-Schwierigkeiten haben als andere” , erklärt Hiermann.

Dauerndes Schreien, Erschöpfung, Ohnmachtsgefühle, Wut – in vielen Familien mit Schreibabys wird die Situation nach und nach immer angespannter. “Die Eltern fühlen sich von ihrem Kind angeschrieen und haben das Gefühl, alles falsch zu machen” , sagt Taplik-Kossak. Viele Eltern hätten Gewaltfantasien wie “… ich könnte es an die Wand klatschen” , weiß Ziegler. Peter Hiermann rät Eltern deshalb, den Raum zu verlassen, sobald sie merken, dass Aggressionen aufsteigen. “Legen Sie das Baby sicher hin und gehen Sie raus.”

Ein neues Verhältnis zueinander finden

Mit Gesprächen und Entspannungstechniken versuchen die Mitarbeiter der Schreiambulanzen, den Familienfrieden wiederherzustellen. “Wir überlegen zusammen, wie die Eltern, speziell die Mütter, entlastet werden können” , sagt Taplik-Kossak. Margret Ziegler hält es für wichtig, dass Eltern auch bewusst schöne Momente mit ihrem Kind verbringen. “Dafür braucht man die beziehungsfähigste Zeit des Kindes, die Zeit, in der es ruhig, offen und wach ist.” Das sei meist am Vormittag der Fall – und meist der Moment, den Mütter schnell mal nutzen, um etwas zu erledigen. “Lassen Sie alles liegen. Beschäftigen Sie sich mit ihrem Kind.”

Mia und ihre Eltern haben nach sechs Beratungssitzungen ein neues Verhältnis zueinander gefunden. “Sie ist wie ausgewechselt” , sagt Thomas Bruch, “ein ganz” normales “Kind, das mal schreit – und sich dann auch wieder beruhigt.” Er rät allen Betroffenen, sich Hilfe zu holen. “Man ist kein Versager, wenn man das tut. Und alleine kommt man aus der Situation nicht raus.”

Quelle

dpa / GesundheitPro

 

Erstellt am 4. Juni 2008, zuletzt geändert am 26. März 2010

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