Schlaf aus bindungstheoretischer Sicht

Dr. Kathrin Beckh

Foto Kathrin Beckh Schwarz-wei _

„Vielleicht trägt das Schreien eines Kindes, wenn sich die Schlafzimmertür schließt, mehr als wir ahnen dazu bei, dass manche Menschen nicht mehr fähig sind, ruhig über ihre Ansichten nachzudenken“ (Margot Sunderland)

Schlaftraining oder Co-Sleeping (das Baby schläft im Bett der Eltern), wie schlafen Kinder und Eltern am besten? Das Thema Schlafen wird unter Eltern, Kinderärzten und Hebammen immer wieder sehr kontrovers und leidenschaftlich diskutiert. Im folgenden Beitrag soll diese Frage unter Berücksichtigung bindungstheoretischer Überlegungen näher beleuchtet werden. Die Bindungstheorie als eine umfassende Theorie emotionaler Entwicklung kann Eltern in diesem Zusammenhang als Orientierung dienen, um herauszufinden, wie sie die Schlafsituation entsprechend den Bedürfnissen ihrer Kinder am besten gestalten, ohne dabei ihre eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen.

Bindung und Schlafen

Babys sind schlechte Schläfer. Mehrfaches nächtliches Erwachen ist in den ersten Lebensjahren normal und kein Grund zur Sorge. Es ist im Gegenteil völlig falsch, von Babys oder Kleinkindern zu erwarten, dass sie alleine im eigenen Bett ein- und durchschlafen und selbst bei Schulkindern können nachts noch Trennungsängste auftreten. Nur in sehr wenigen (westlichen) Kulturen ist es überhaupt üblich, dass Kinder vor dem Schulalter getrennt von den Eltern schlafen und das auch erst seit vergleichsweise kurzer Zeit, d.h. seit Beginn der Industrialisierung.

Aus bindungstheoretischer Sicht lassen sich Verhaltensweisen, die das Kind bei Müdigkeit und nächtlichem Erwachen zeigt, als Bindungsverhalten interpretieren. Als Bindungsverhalten werden Verhaltensweisen verstanden, die dazu dienen, die Nähe einer bevorzugten Bindungsperson herzustellen oder aufrechtzuerhalten, um dort Sicherheit und Geborgenheit zu finden. Gesteuert werden diese Verhaltensweisen durch ein angeborenes Bindungsverhaltenssystem, das bei Unwohlsein (z.B. durch Müdigkeit, Angst, Krankheit, Überforderung) aktiviert wird. Die Aktivierung des Bindungsverhaltenssystems im Zusammenhang mit der Schlafsituation wird durch evolutionspsychologische Überlegungen verständlich: In der Schlafsituation war das Kind drohenden Gefahren (durch Unwetter, Raubtiere, etc.) hilflos ausgeliefert, wenn es nicht durch die Nähe und Fürsorge der Eltern geschützt wurde. Die Nähe und Zuwendung der Eltern vermittelt dem Kind also ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, das es ruhig einschlafen lässt. Gerade bei Säuglingen und sehr kleinen Kindern spielt der Körperkontakt mit den Eltern eine hervorgehobene Rolle. Auch bei nächtlichem Erwachen war es im Laufe der Evolution für das Überleben des Kindes von Vorteil, wenn es sich zunächst über die Anwesenheit der Eltern vergewisserte, bevor es weiterschlief. Zwar gibt es Kinder, die ein starkes Vertrauen in ihre Umwelt aufgebaut haben und so problemlos im eigenen Bett schlafen, ohne je darauf trainiert worden zu sein, bei vielen Kindern werden jedoch zur Schlafenszeit primitive Alarmsysteme im Gehirn und Körper aktiviert. Diese Kinder benötigen die feinfühlige Unterstützung der Bindungsperson, um ruhig schlafen zu können.

Feinfühlige Zuwendung setzt voraus, dass die Bindungsperson die Signale des Kindes wahrnimmt, sie richtig interpretiert und prompt und angemessen darauf reagiert. Feinfühliges Elternverhalten ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung einer sicheren Bindung. Bezogen auf die Schlafsituation bedeutet dies, dass die Bindungsperson verstehen muss, dass das Kind durch sein Schreien oder Weinen eine intensive Trennungsangst zum Ausdruck bringt, die es alleine nicht regulieren kann. Die meisten Kinder suchen dabei vor allem den Körperkontakt der Eltern, aber auch die Stimme der Eltern kann beruhigend wirken. Viele Säuglinge lassen sich auch gerne in den Schlaf stillen und finden dadurch am besten zur Ruhe.

Aus bindungstheoretischer Sicht lassen sich somit die folgenden Empfehlungen für die Schlafsituation ableiten:

(1) Babys und Kleinkinder schlafen in der Regel in der Nähe der Eltern am besten, d.h. idealerweise im elterlichen Schlafzimmer, im Bett der Eltern, im Beistellbett oder im eigenen Bett im selben Raum. Soll das Kind schon früh im eigenen Zimmer schlafen, so muss sichergestellt sein, dass die Eltern die Signale des Kindes bei nächtlichem Erwachen trotzdem schnell wahrnehmen und direkt darauf reagieren, um zu verhindern, dass das Kind richtig wach wird und möglicherweise durch das Schreien oder Rufen nach den Eltern so erregt wird, dass es nur schwer wieder in den Schlaf findet.

(2) Gerade bei Säuglingen spielt der enge Körperkontakt mit der Bindungsperson eine zentrale Rolle bei der Regulation von Stress- und Erregungszuständen. Sich zum Einschlafen neben das Kind zu legen oder das Kind zumindest zu berühren, sowie auch das Co-Sleeping vermitteln dem Kind ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, was einen ruhigen Schlaf fördert.

(3) Das Schlafbedürfnis von Kindern ist zudem individuell sehr unterschiedlich und variiert auch in Abhängigkeit von Tageszeit, Jahreszeit und anderen Faktoren. Feinfühligkeit für die Bedürfnisse des Kindes beinhaltet deshalb auch, das Kind dann ins Bett zu bringen, wenn das Kind wirklich Müdigkeit zeigt, und nicht zu einer festgelegten Uhrzeit. Für Einschlafprobleme ist häufig die Ursache, dass das Kind einfach noch nicht müde ist oder (seltener) dass das Kind schon zu müde ist. Kinder, die müde sind, wollen auch schlafen, und signalisieren das in der Regel auch deutlich.

(4) Auch das Befinden der Eltern spielt hier eine wichtige Rolle: Sind die Eltern selbst gestresst, so wird es ihnen nur schwer gelingen, ihr Kind zu beruhigen. Ärger und Stress kann die Alarmsysteme im Gehirn des Kindes aktivieren und es fühlt sich zu unsicher, um zu schlafen.

(5) Sind die Eltern durch dauerhaft anstrengende Nächte so erschöpft, dass sie sich durch die chronische Müdigkeit den Anforderungen des Alltags nicht mehr gewachsen fühlen oder entwickeln sie aufgrund der Schlafsituation sogar negative Gefühle dem Kind gegenüber, so sollte gehandelt werden. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil Stress und Erschöpfung auch die Feinfühligkeit der Eltern beeinträchtigt, worunter die Beziehung und Bindung zum Kind leidet. Ein erster Schritt kann dabei die Analyse der Schlafsituation vor dem Hintergrund bindungstheoretischer Überlegungen sein. So ist beispielsweise häufiges nächtliches Stillen für die Mutter deutlich weniger belastend, wenn das Kind im Elternbett oder im Beistellbett schläft als wenn die Mutter mehrmals pro Nacht aufstehen muss. Auch eine Veränderung der Schlafzeiten entsprechend den Bedürfnissen des Kindes kann eine Veränderung bringen. Bleiben derartige Versuche erfolglos, so lohnt es sich auch, einen Blick auf den Tagesablauf der Familie zu werfen und die Gestaltung der Bindungsbeziehung(en) des Kindes im Alltag zu betrachten. Bei schwerwiegenden oder chronischen Schlafproblemen kann es hilfreich sein, dazu eine Erziehungsberatungsstelle aufzusuchen.

Bei all diesen Überlegungen darf nicht vergessen werden, dass sich Babys und Kinder von Geburt an auch in ihrem Temperament sehr unterscheiden und es natürlich Kinder gibt, die irritierbarer sind, sich nur schwer beruhigen lassen und somit häufig auch zu Schlafproblemen neigen. Gerade für diese Kinder ist ein feinfühliger Umgang mit ihren Bedürfnissen jedoch von besonderer Bedeutung – was für die Eltern eine große Herausforderung darstellen kann.

Schlafprogramme aus bindungstheoretischer Sicht

Wird die Schlafsituation von den Eltern als anhaltend belastend erlebt, so beginnen viele Eltern mit einem Schlaftraining. Die Durchführung von Schlafprogrammen, mit Hilfe derer das Kind durch kontrolliertes Schreien lassen lernen soll, selbständig ein- und durchzuschlafen, ist aus bindungstheoretischer Sicht nicht oder nur in Ausnahmefällen zu empfehlen.

Bindungstheoretisch betrachtet ist Schlafen ein physiologisches Grundbedürfnis wie Essen oder Trinken und muss nicht gelernt werden. Die bekannten, auf Annahmen der Verhaltenstherapie basierenden Schlafprogramme wie der Bestseller „Jedes Kind kann schlafen lernen“ von Anette Kast-Zahn, zielen darauf ab, dass das Kind lernt, dass nächtliches Weinen und Schreien (nach den Eltern) nicht den gewünschten Erfolg hat und auch nicht notwendig ist, um ein- oder weiterschlafen zu können. Hierbei handelt es sich um einen Konditionierungsprozess, durch den das Kind lernt, unerwünschte Verhaltensweisen, die durch die Eltern nicht verstärkt werden (die Eltern reagieren auf die kindlichen Signale konsequent nicht, bzw. erst verzögert und nicht in der vom Kind erwünschten Form), nicht mehr zu zeigen. Bei vielen Babys und Kleinkindern führt dies tatsächlich dazu, dass sie innerhalb weniger Tage oder Wochen alleine in ihrem Bett ein- und durchschlafen.

Aus bindungstheoretischer Sicht stellt sich jedoch die Frage, welchen Preis die Kinder und ihre Eltern dafür bezahlen. Das Baby oder Kind in der Schlafsituation schreien zu lassen und nicht in der Art und Weise darauf zu reagieren, durch die das Kind sich am schnellsten beruhigen lässt, kann als (bewusst) nicht feinfühliges Elternverhalten interpretiert werden, das das Ziel einer Verhaltensänderung beim Kind verfolgt. Das Kind lernt, dass der offene Ausdruck von Bindungssignalen nicht zum gewünschten Erfolg führt, die Nähe der Eltern zu sichern. Dieser Mechanismus ist in der Bindungstheorie im Zusammenhang mit der Entwicklung von einem unsicher-vermeidenden Bindungsmuster bekannt und empirisch gut belegt. Auch wenn dies nicht heißt, dass Kinder, mit denen erfolgreich ein Schlafprogramm durchgeführt wurde, zwangsläufig auch eine unsicher-vermeidende Bindungsbeziehung zu ihren Eltern entwickeln, so besteht doch die ernstzunehmende Gefahr, dass das Vertrauen in die emotionale Verfügbarkeit der Bindungsperson dadurch deutlich erschüttert wird, was den Aufbau und die Aufrechterhaltung einer sicheren Bindung erschweren kann.

Das wiederholte Ignorieren der kindlichen Signale löst beim Kind darüber hinaus auch eine anhaltende physiologische Stressreaktion aus, die dauerhaft negative Veränderungen im Gehirn der Kinder hervorrufen kann. Reagieren die Eltern, wie in einigen Schlafprogrammen empfohlen, auf das Schreien des Kindes nicht, so fühlt sich das Baby oder Kleinkind allein gelassen und starke Trennungsangst ist das dominierende Gefühl. Babys und Kleinkinder sind noch nicht dazu in der Lage, solche negativen Gefühle allein zu regulieren. Auch wenn die Kinder irgendwann aus Erschöpfung einschlafen, und der Instinkt, bei der Trennung von den Eltern zu schreien, mit der Zeit abtrainiert werden kann, wird das Gehirn des Babys mit Stresshormonen überschüttet und im Gehirn werden Schmerzschaltkreise aktiviert, die denen durch körperlicher Schmerzen sehr ähnlich sind. Die Stressreaktionssysteme des Gehirns können so dauerhaft auf Überempfindlichkeit programmiert werden. Ein möglicher Langzeiteffekt von wiederholter Trennungsangst ist demnach eine erhöhte Stressempfindlichkeit im Erwachsenenalter. Erwachsene mit einer derartigen Hypersensibilität haben häufig Probleme selbst zur Ruhe kommen, darüber hinaus kann auch die Anfälligkeit für Depressionen, Angststörungen, etc. erhöht sein. Wird ein schreiendes Kind dagegen in seinen Ängsten ernstgenommen und beruhigt, so entwickeln sich im Gehirn effektive Stressregulationssysteme, die ihm im späteren Leben helfen, belastende Situationen gut zu bewältigen.

Suchen die Eltern nach konkreten Handlungsempfehlungen im Umgang mit den Schlafproblemen ihrer Kinder, so sollten sie keine Methoden anwenden, die darauf basieren, das Kind schreien zu lassen. Alternativen bieten sanfte, an den Bedürfnissen der Kinder orientierte Schlafprogramme, wie beispielsweise in dem Buch „Schlafen statt Schreien“ von Elizabeth Pantley beschrieben.

Fazit

Aus bindungstheoretischer Sicht ist es entscheidend, die Schlafsituation unter Berücksichtigung der Bindungsbedürfnisse der Kinder zu gestalten. Die Nähe zu den Eltern und bei kleinen Kindern insbesondere der Körperkontakt zu den Eltern spielt dabei eine entscheidende Rolle. Aber auch die Bedürfnisse der Eltern dürfen dabei nicht zu kurz kommen, da Stress und Belastung wiederum die Feinfühligkeit der Eltern beeinträchtigen und sich so auf das Kind übertragen können.

Empfohlene Literatur

  • Sunderland, Margot (2006): Die neue Elternschule. London: Dorling Kindersley.
  • Solmaz, Eva (2013): Besucherritze. Weinheim und Basel: Beltz.
  • Elizabeth Pantley (2009). Schlafen statt schreien: Das liebevolle Einschlafbuch: Das 10-Schritte-Programm für ruhige Nächte. Stuttgart: Trias.

Autorin

Dr. Kathrin Beckh ist Diplom-Psychologinnen und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Staatsinstitut für Frühpädagogik. Arbeitsschwerpunkte: Bindungsforschung; Frühkindliche Erziehung, Bildung und Betreuung.

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