Du Schussel! Warum Kinder immer ihre Sachen verlieren
Gerlinde Unverzagt
Schulranzen vergessen, Turnbeutel verloren, Mütze liegen lassen. Kinder sind häufig schusselig. Was dagegen hilft.
Der Blick in die Fundkiste einer x-beliebigen Grundschule sagt doch schon alles: bunte Mützen stecken zwischen dicken Jacken, einzelne Handschuhe vermissen ihren Partner und dazwischen ringeln sich kuschelige Schals. Die kalte Jahreszeit lässt die Fundkiste überquellen, im Zimmer der Hausmeister sammeln sich das ganze Jahr über herrenlose Federmäppchen, Zirkelkästen, Turnbeutel, sogar komplett gepackte Schulranzen. Kein Zweifel: Die Schwundquote der lieben Kleinen ist enorm. Wenn die Kinder zu Hause einmal mehr achselzuckend den Verlust eines Accessoires melden, bringt das ihre Mütter und auch Väter regelmäßig auf die Palme.
Schusseligkeit nervt, und sie geht ins Geld. Eltern trösten, schimpfen und besorgen Ersatz. Nicht wenige fragen sich besorgt, warum ihr Kind ständig etwas verliert, vergisst oder verschusselt und offenbar mit seinen Gedanken woanders ist, wenn’s darum geht, seine Siebensachen zusammenzuhalten.
„Kleine Kinder erleben täglich hunderttausend Sachen neu“
„Vergesslichkeit ist ein zutiefst menschliches Phänomen, das sich durch die ganze Lebensspanne zieht,“ sagt der Hamburger Psychologe Michael Thiel, „das hat nichts mit Krankheit zu tun.“ Der französische Philosoph Théodule Ribot fasst es noch schärfer: „Vergesslichkeit ist keine Krankheit des Gedächtnisses, sondern eine Voraussetzung für seine Gesundheit.“ Man muss also weder allzu früh eine behandlungsbedürftige Aufmerksamkeitsstörung argwöhnen, noch später gleich das Alzheimer-Gespenst heraufbeschwören, wenn man Dinge vergisst und Gegenstände irgendwo liegen lässt – soweit die gute Nachricht.
Doch die Schusseligkeit ihrer Kinder ärgert Eltern, weil sie den Ablauf des Alltags stört und die guten Beziehungen zum Nachwuchs durchaus belasten kann.
Oft beginnt es mit dem Schulalter, wenn der äußere Druck zunimmt. „Kleine Kinder erleben täglich hunderttausend Sachen neu“, erklärt Michael Thiel. Das Gehirn leiste Schwerstarbeit bei der Aufgabe, zu unterscheiden, was bedeutsam sei und was nicht. Kleine Kinder müssten erst lernen, wie die Dinge zu bewerten seien.
Ein Fußballer vergisst seinen Ball nicht
Dabei spielen Stimmungen und Gefühle eine wichtige Rolle: „Wir behalten besonders gut, was für uns emotional bedeutsam ist. Wenn einem etwas am Herzen liegt, vergisst man es nicht.“ Deshalb erscheint einem Lego-Fan das abendliche Ranzenpacken nebensächlich. Ein begeisterter Fußballer wird kaum seinen Ball vergessen, wenn er versehentlich im T-Shirt vom Bolzplatz nach Hause geht und keine Ahnung hat, wo seine Jacke abgeblieben ist.
Gern wird vergessen, was mit weniger guten Gefühlen verbunden ist. „Wer den Sportunterricht nicht mag, lässt den Turnbeutel liegen,“ sagt Michael Thiel, „wer vom Pausenbrot nicht fasziniert ist, vergisst halt, es einzupacken.“
Aber es hilft ja nichts: Irgendwann muss ein Kind lernen, seinen Kram zusammenzuhalten. Spätestens mit Blick auf den Übergang in die weiterführende Schule fragen sich Eltern, wie das eigentlich werden soll, wenn die Anforderungen an das Kind, sich selbst zu organisieren, noch viel größer werden und der innige Zusammenhang zwischen Vorlieben und Verschwinden einer gewissen Geistesgegenwart weichen soll.
Kinder verlassen sich zu oft auf ihre Eltern
Strafen erreichen das Gegenteil, trösten statt schimpfen wäre das Gebot der ersten Stunden. Doch beim dritten verschusselten Füller, der siebten verlorenen Mütze, der dritten verschwundenen Sporttasche kann man das Kind an den Konsequenzen der Unachtsamkeit behutsam beteiligen, sei es zum Mitsuchen auffordern, das Fundbüro aufsuchen, die Wiederbeschaffung durch einen Beitrag aus dem Taschengeld zu finanzieren.
Es wird ja nicht besser, wenn man den Kindern alles hinterherträgt. „Ein Kind vergisst Dinge oft nur, wenn jemand da ist, der es daran erinnert und es bedient,“ schreibt der Pädagoge Rudolf Dreikurs in seinem Klassiker Kinder lernen aus den Folgen: „Es ist nicht natürlich, dass man seine Brote vergisst, daher deutet die Tatsache, dass ein Kind es tut, darauf hin, dass die Mutter sich weiterhin darum kümmert.“
Im Allgemeinen sorgen Eltern sich zu viel und wollen ihre Kinder vor Fehlern und Nachteilen bewahren. Nimmt das überhand, können Kinder wichtige Erfahrungen nicht machen. Schritt für Schritt Verantwortung abzugeben, mit jedem Geburtstag ein bisschen mehr, hilft beim Großwerden. Wenn Kinder sicher sein können, dass ihre Mütter schon an alles denken, gibt es keinen Grund für sie, das selbst zu tun.
Mütter, die wie aufgescheuchte Hühner durch die Wohnung rennen
Kinder zum Beispiel, die morgens grundsätzlich zu spät aufstehen und in der dann gebotenen Eile weder ihre Turnschuhe noch ihren Zirkelkasten finden, können, wenn sie sich nur aufgeregt und verzweifelt genug gebärden, ihre Mütter immer wieder dazu bringen, wie aufgescheuchte Hühner durch die Wohnung zu rennen, mit der Taschenlampe unter Betten zu leuchten, herumliegende Plastiktüten zu durchforsten und in den Taschen sämtlicher, auch nur entfernt infrage kommender Hosen und Jacken zu suchen. Für diesen Einsatz lässt die Mutter oder auch Vater den Rest der Familie maulend am Frühstückstisch zurück und verschafft sich selbst einen unerfreulichen Start in den Tag.
Und das alles, weil sie das Gefühl nicht loswird, sich darum kümmern zu müssen, dass das Kind nicht zu spät und vollständig ausgerüstet in die Schule kommt und vom schlechten Gewissen geplagt wird, wenn das Kind nichts zu essen bei sich hat – jenes Kind, das allabendlich, wenn man ihm nahelegt, doch schon jetzt seine Mappe zu packen, ungerührt an der Lego-Raumstation weiterbaut.
In solchen Wiederholungssituationen hilft im Allgemeinen eine generelle Entscheidung weiter, die sich mit den Jahren als zielführend erweist: Ob und wann das Kind morgens seine Schulsachen findet oder nicht, seine Pausenbrote einpackt und nachmittags mit vollständiger Ausrüstung heimkehrt, das ist seine Angelegenheit. Und die möglichen Folgen hat es auch zu tragen. Das ist der Lauf des Lebens.
Zugegeben, diese Konsequenz kann im akuten Fall recht lieblos wirken und das fällt vielen Müttern und Vätern schwer. Es lohnt sich, innerlich einen Schritt zurückzutreten und die ganze Situation zu betrachten. „Eine gewisse Ordnung für wichtige Sachen im Alltag zu finden“, sagt Michael Thiel, „hilft Kindern, Strukturen zu entwickeln. Bestimmte Dinge wie Schlüssel, Ranzen, Jacken liegen immer am selben Platz. Mit einem Extra-Aufkleber kann man ein Federmäppchen bedeutsamer machen und sozusagen emotional aufladen.“
Reizüberflutung prägt unsere Tage
Vielleicht muss man den Terminplan entrümpeln, vielleicht etwas Tempo aus dem Alltag nehmen. Unordnung, dauernde Ablenkung, Hektik sind Außenreize, auf die das Gehirn gesund reagiert: Es versucht, Überflüssiges rauszuwerfen.
Kinder können das eigentlich ganz gut. Wer jemals ein hingebungsvoll im Spiel versunkenes Kind beobachtet hat, bekommt eine Ahnung davon, was höchste Konzentration bedeutet, die jede Ablenkung einfach ausblendet. Stören wir den Zauber nicht, indem wir sie mit der Aufforderung unterbrechen, jetzt zum Essen zu kommen. Auch so können wir Kinder unterstützen, sich zu konzentrieren – indem wir uns einfach möglichst wenig einmischen, wenn sie spielen.
Wir alle haben uns so sehr daran gewöhnt, meistens auf mehrere Dinge gleichzeitig zu achten. Eine gewisse Reizüberflutung prägt bei Erwachsenen wie Kindern den Alltag. Beim Kochen verfolgen wir die Geräusche der Waschmaschine, beim Lesen behalten wir im Kopf, dass wir in einer halben Stunde jemanden anrufen sollen, beim Schreiben hören wir gleichzeitig Radio. Beim Vorlesen springen wir zwischendurch auf, um etwas zu notieren oder ein Telefonat entgegenzunehmen. Während die Kinder uns etwas erzählen, laufen wir dabei ständig hin und her.
Ein bisschen von vielem – aber nirgends ganz zu sein, und am besten immer alles gleichzeitig zu tun, beschreibt eine Überforderung, auf die wir mit Schusseligkeit reagieren. Kindern geht es ganz ähnlich, aber ohne dass sie schon von sich aus in der Lage wären, der Flut von Reizen einen eigenen Entschluss entgegenzusetzen, die Dinge nacheinander zu tun und zwischen Anspannung und Entspannung zu wechseln.
Ruhige Inseln im Alltag zu schaffen, Entspannungsmomente, in denen man einfach zusammen sitzt und sich nicht ablenken lässt, das Handy ausmacht, vielleicht ein paar Kekse knabbert und eine Kerze anzündet – das wird nicht immer gehen, aber immer wieder mal. Da kommt uns doch die Jahreszeit mit den frühen Dämmerstündchen und der höchsten Schwundquote sehr schön entgegen.
Literatur
- Unverzagt, G. (2017): Generation ziemlich beste Freunde. Beltz
- Unverzagt, G. (2015). Selber fliegen. Warum Kinder keine Helikoptereltern brauchen. Herder
- Unverzagt, G., Hurrelmann, K. (2014): Herzenswärme, Freiräume und klare Regeln. Kreuz
Autorin
Gerlinde Unverzagt ist Journalistin und Buchautorin
Kontakt
Foto: Olivier Favre
eingestellt am 17. Januar 2020