Wie Kinder Verlust erleben: und wie wir hilfreich begleiten können
Stephanie Witt-Loers
Wie reagiere ich am besten, wenn der geliebte Hamster meines Kindes stirbt oder wenn der geliebte Teddybär verloren geht? Wenn Kinder trauern, brauchen sie Unterstützung und Halt. Stephanie Witt-Loers bietet in dem vorliegenden Artikel zum gleichnamigen Buch „Wie Kinder Verlust erleben: und wie wir hilfreich begleiten können", eine Orientierungshilfe für Eltern, Großeltern und wichtige Bezugspersonen, damit Kinder in Verlustsituationen bestmöglich begleitet und unterstützt werden. Trauer gehört auch für Kinder zum Lebensalltag. Kinder trauern, aber sie trauern anders und empfinden andere Dinge als Verlust als Erwachsene. Im Vordergrund steht nicht der Tod eines geliebten Menschen, sondern all jene Abschieds- und Trennungssituationen, die für Kinder bis ca. 12 Jahre belastend sein können.
Frida (4 Jahre) ist untröstlich. Sie vermisst ihr Kuscheltier Charlie, einen kleinen Elefanten, den sie zur Geburt von einer Nachbarin geschenkt bekommen hat. Charlie war Fridas ständiger Begleiter am Tage und in der Nacht. Er muss beim Einkaufen mit Oma verloren gegangen sein. Oma hat Frida gleich einen neuen Elefanten besorgt. Den hat Frida in eine Ecke geschmissen und gesagt, dass sie ihren Charlie wiederhaben möchte und Oma diesen blöden Elefant wieder mitnehmen soll. Fridas Eltern haben sich über Fridas Verhalten der Oma gegenüber geärgert. Sie hat es doch gut gemeint und Charlie war doch nur ein ganz gewöhnliches und sogar preisgünstiges Kuscheltier von einer Nachbarin. Ihrer Ansicht nach muss darum nicht so ein Zirkus gemacht werden. Aber seit Charlie weg ist schläft Frida schlecht ein. Sie ruft immer wieder nach den Eltern und möchte bei ihnen im Bett schlafen. Bis Frida endlich zur Ruhe kommt, sind ihre Eltern im höchsten Maße genervt.
Kinder brauchen mitfühlendes Verständnis, wenn sie schmerzhafte Verluste und Abschiede erleben. In unserer Erwachsenenwelt vergessen wir allzu leicht, was im Leben eines Kindes Verlust, Trauer und Abschied bedeuten können und worum Kinder in ihrer Lebenswelt trauern. Wir können zur gesunden Entwicklung eines Kindes beitragen, wenn wir es in seiner persönlichen Trauer wahrnehmen, hinhören, seinen Schmerz anerkennen, es angemessen begleiten und dabei unterstützen, mit dem Verlust zurechtzukommen. Den Umgang mit Verlust zu »üben« und ihn als natürlichen Teil des Lebens zu akzeptieren, hilft dem Kind, mit anderen, schweren Verlusten, die unweigerlich in das Leben eines jeden Menschen treten, zurechtzukommen.
Warum sollten Kinder trauern dürfen?
Gerne möchten wir unsere Kinder von Schmerz und Trauer fernhalten, möchten ihnen leidvolle Verlusterfahrungen ersparen. Wir möchten, dass sie eine schöne, unbeschwerte Kindheit genießen. Kleine und große Abschiede, schwere Verluste, belastende und schmerzhafte Lebenserfahrungen gehören jedoch zu unserem Leben – auch zum Leben eines Kindes. Wir fördern Kinder in ihrer gesunden Entwicklung, wenn wir zulassen, dass sie Abschiede durchleben und ihre Trauer spüren dürfen.
Den ersten großen Abschied erleben Kinder bereits bei ihrer Geburt. Wir müssen uns alle von der Geborgenheit des Mutterleibs verabschieden. Die Lebensthemen Abschied und Neubeginn begleiten uns also von Lebensbeginn an. Nach der Geburt folgen schnell neue Abschiede: kurzzeitige Trennungen von Bezugspersonen, wenn sie das Zimmer verlassen; die Ablösung von der mütterlichen Brust, vom Schnuller und der Windel. Diese Übergänge und Abschiede, die Kinder im weiteren Verlauf ihres Lebens erfahren, verlangen Loslösung und ermöglichen zugleich Wachstum, Entwicklung und mehr Selbstständigkeit (die Bewegungsfähigkeit nimmt zu, das Kind beginnt, alleine zur Toilette zu gehen, alleine zu essen …). Das Loslassen von Möglichkeiten einer Entwicklungsphase, von liebgewonnenen Gewohnheiten und selbstverständlichen Sicherheiten eines Lebensabschnittes kann als Verlust erlebt werden und Trauerprozesse auslösen. Eine gesunde, kindliche Entwicklung beinhaltet Lernprozesse und die Erkenntnis, dass auch seelischer und körperlicher Schmerz, Verlust, Krankheit, Trennung und Tod natürliche Bestandteile unseres Lebens sind. Wesentlich ist, dass Kinder lernen dürfen, mit solchen Erfahrungen umzugehen. Den bestmöglichen, individuellen Umgang mit Verlusten und Krisen, ob kleineren oder größeren, müssen Kinder erst erwerben. Je früher sie die Möglichkeit bekommen, sich mit kleinen Verlusten auseinanderzusetzen, umso eher kommen sie später mit schweren Verlusten zurecht und zerbrechen nicht daran. Deshalb dürfen wir unseren Kindern die Verarbeitung von Verlusten nicht vorenthalten, denn damit verweigern wir ihnen wichtige Entwicklungsschritte.
Worum trauern Kinder in ihrem Lebensalltag?
Jeder Mensch macht im Laufe seines Lebens unzählige Trauererfahrungen. Trauer wird durch Verlust ausgelöst. Verluste sind Abschiede von Dingen, Menschen, Tieren, Träumen, körperlichen und geistigen Fähigkeiten, von allem, womit wir uns innerlich verbunden fühlen. Ob es sich tatsächlich um einen Verlust, um eine als Belastung empfundene Lebensveränderung handelt oder eher nicht, hängt davon ab, ob das Kind den Abschied für sich persönlich als schmerzhaft erlebt oder nicht. Verluste entstehen nur, wenn Menschen, ob kleine oder große, sich von etwas verabschieden müssen, etwas verlieren, das sie nicht aufgeben möchten, an das sie sich innerlich eng gebunden haben. Das »verlassen müssen« erzeugt quälenden Schmerz. Schmerz wiederum ist ein wesentliches Merkmal für einen Verlust, der in einem Trauerprozess bearbeitet werden muss. Folgerichtig bedeutet das, dass die genannten möglichen Verluste nicht zwangsläufig als schmerzhaft empfunden werden müssen, sondern eben nur dann, wenn das Kind für sich schmerzvoll Abschied nimmt. Neben dem Verlust eines geliebten Spielzeugs wie Charlie kann das Verlassen einer vertrauten Umgebung, eines vertrauten Menschen (Abschied im Kindergarten oder am Schultor) oder die Abwesenheit einer Vertrauensperson (Vater oder Mutter sind bei der Arbeit, beim Sport, einer Einladung am Abend) als Verlust empfunden werden. Selbst das Schlafengehen am Abend kann für kleine Kinder ein schmerzhaftes Abschiednehmen von Bezugspersonen und zugleich vom Tag sein. Kinder leiden unter Veränderungen und trauern: zum Beispiel, wenn sie umziehen müssen, ihre Eltern sich trennen, der große Bruder oder die ältere Schwester auszieht, der Opa oder die Oma ins Altersheim kommt, die Tagesmutter geht, ein Schulwechsel oder das Ende der Kindergarten- oder Schulzeit ansteht, sie sich von ihren Eltern lösen müssen, eine Freundschaft zu Ende geht, ein nahestehender Mensch oder ein nahestehendes Tier krank ist oder stirbt. Kinder trauern, wenn die geliebte Erzieherin in eine andere Einrichtung wechselt oder einfach nur lange Urlaub hat und deshalb fehlt. Sie trauern um ihre verlorenen Zähne; den verlorenen Teddy; um Haare, die zu kurz geraten sind; um einen kaputten Stift; die Schokolade, die der kleine Bruder einfach aufgegessen hat; die zu heiß gewaschene Hose, die nun nicht mehr passt, oder das Fahrrad, dass beim Sturz kaputt gegangen ist. Kinder trauern, wenn sie an Anerkennung in der Tanzgruppe oder dem Sportverein verlieren; Ziele, die sie sich gesteckt haben, nicht erreichen oder häusliche Sicherheiten aufgeben müssen. Kinder wie Erwachsene trauern um Verlorenes. Liebe, Zärtlichkeit und Zuneigung, Sicherheiten, verpasste Chancen, nicht gesagte Worte, zerplatzte Träume und Zukunftsperspektiven, nicht gelebte Beziehungen, nicht vorhandene Möglichkeiten, der private oder auch weltliche Frieden: All das kann betrauert werden.
Trauerprozesse können entstehen, wenn ein Eltern- oder Geschwisterteil, ein naher Angehöriger oder guter Freund leicht oder auch schwer erkrankt ist. Manche Krankheiten oder Unfälle sorgen für die Abwesenheit eines bedeutenden Menschen oder schränken dessen Handlungsfähigkeit ein, sodass sich der Lebensalltag des Kindes verändert. Zuvor vorhandene Familienstrukturen, familiäre Perspektiven, Zukunftsentwürfe und Rituale existieren eventuell nicht mehr. Es fehlt den Kindern auf einmal an Zuneigung und Fürsorge. Sie müssen sich in der neuen Lebenssituation zurechtfinden und trauern dem „alten Leben“ nach. Kinder können in Trauerprozesse geraten, wenn sie selbst krank sind, zeitweise oder dauerhaft körperliche und/oder geistige Fähigkeiten verlieren. Ist ein Kind im Krankenhaus – sei es auch nur für wenige Tage –, muss es mit dem Abschied vom Zuhause zurechtkommen, mit dem viele zusätzliche Verluste (Menschen, vertraute Abläufe, sichere Gewohnheiten, liebevolle Zuneigung, Fürsorge) einhergehen. Auch die Geburt eines Geschwisters können Kinder als schmerzhaften Verlust erfahren. Sie erleben in ihrem Leben mit hoher Wahrscheinlichkeit – ebenso wie wir Erwachsenen – nicht nur leichte, sondern auch schwere Verluste, die sie aus der Lebensbahn werfen können.
Wie reagieren Kinder auf Verluste?
Jeder Lebensweg ist geprägt von großen und kleinen Abschieden. Manche Verluste können wir leicht verkraften. Wir gewöhnen uns schnell an die veränderte Lebenssituation, die der Verlust mit sich gebracht hat. Andere Verluste sind schwerer zu bearbeiten, es braucht Zeit, sich wieder zurechtzufinden. Der Tod eines nahestehenden Menschen ist eine sehr einschneidende und schmerzvolle Verlusterfahrung. Kinder reagieren auf diese oftmals auf eine Weise, die wir Erwachsenen nicht erwarten. Weil sich die Trauer von Kindern anders ausdrückt als unsere, wird sie oft als solche nicht erkannt. Daher ist es wichtig, sich einige grundsätzliche Aspekte im Hinblick auf die Trauer von Kindern bewusst zu machen.
Kinder zeigen ihre Trauer mehr über ihr Verhalten als über verbale Äußerungen
Kinder verwenden Bilder und zeigen durch ihr Spiel, wie sie sich fühlen. Sie verfügen noch nicht über die gleichen Voraussetzungen, sich mit Trauer auseinanderzusetzen, wie Erwachsene. Zu diesen Voraussetzungen gehören die Fähigkeit zu abstraktem Denken, das Gefühl für Zeit und deren Ablauf und die Möglichkeit, sich sprachlich komplex auszudrücken.
Trauer hat viele unterschiedliche Gesichter
Kinder zeigen häufig Trauerreaktionen, die für Bezugspersonen unverständlich und verwirrend sein können, manchmal sogar Verärgerung und Wut auslösen. Deshalb ist sachliches Wissen zu Trauerreaktionen und Trauerprozessen hilfreich. Denn statt Bestrafung und Ablehnung brauchen Kinder in dieser Situation unbedingt Unterstützung und Verständnis.
Kinder erleben viele unterschiedliche, intensive und oft widersprüchliche Gefühle
Zu den Gefühlen, die trauernde Kinder erleben gehören Schmerz, Verzweiflung, Liebe, Angst, Panik, Sehnsucht oder Dankbarkeit. Ihre Gefühle reichen von Heiterkeit, manchmal auch Albernheit, bis hin zu Wut, Aggression und tiefer Traurigkeit. Auch starke Trennungsängste, Unsicherheit oder die Unfähigkeit, neue Beziehungen einzugehen, sowie Schwierigkeiten mit der Selbstkontrolle können auftreten. Kinder können die Motivation verlieren, die eigene Entwicklung anzutreiben, wirken lustlos, unbeteiligt und verlieren ihr Selbstwertgefühl. Sie können mit starken Gefühlen wie Weinen, Schreien, Verlassenheit und Einsamkeit reagieren.
Manchmal ist der Übergang zwischen den Gefühlen unerwartet schnell und sehr abrupt. Erwachsene meinen, wenn das Kind vom Weinen sofort ins Spielen übergeht, das Kind trauere gar nicht. Gerade dies ist jedoch ein typisches Trauermerkmal bei Kindern. Länger anhaltende Trauerreaktionen würden das Kind zu diesem Zeitpunkt überfordern. Aussagen wie: »Na, wenn du jetzt so schnell wieder spielen kannst, kann die Trauer ja nicht so groß gewesen sein« oder: »Da hast du dich eben aber ganz schön angestellt“, sollten deshalb vermieden werden.
Natürlich kann es möglich sein, dass Trauerprozesse tatsächlich schnell beendet sind. Andere Reaktionen auf einen Verlust können Magenschmerzen, Frieren, Schwitzen, Übelkeit, Verstopfung, Durchfall, Probleme beim Einschlafen, nächtliches Aufwachen oder motorische Unruhe sein. Kinder können darüber hinaus Reaktionen zeigen wie: Existenzsorgen, Zähneknirschen, Nägelkauen, Aufgeregtheit, Unsicherheit, Hilflosigkeit, Überreiztheit, Erleichterung, Enttäuschung, Todesangst, Schuldgefühle, Scham, Selbstvorwürfe oder Erschöpfung. Intensive Träume gehören ebenfalls zu den charakteristischen Reaktionen auf Verlust- oder Veränderungsprozesse. Sie können daher wichtige Hinweise auf die Trauerarbeit des Kindes geben. Manchmal kann der Verlust oder der Abschied dazu führen, dass das Kind versucht, bestimmte Situationen oder Orte zu meiden, weil diese mit dem Verlust in Verbindung stehen (z. B. nicht mehr in den Kindergarten möchte, weil die Erzieherin nicht da ist). Verluste können zudem Lustlosigkeit, mit anderen Kindern spielen zu wollen, auslösen. Kinder äußern möglicherweise den Wunsch, Hobbys aufgeben zu wollen. Sie reagieren mit Auffälligkeiten oder großer Angepasstheit in der Kita oder Schule. Es ist gut möglich, dass sie sich nach der Trennung der Eltern oder bei anderen Trauerprozessen (schwerer Krankheit einer Bezugsperson, dem Tod eines Eltern- bzw. Großelternteils oder eines Geschwisters) für Angehörige verantwortlich fühlen: Sie übernehmen dann Aufgaben, die ihnen nicht entsprechen und/oder stellen ihre eigene Trauer aus Rücksicht auf Bezugspersonen zurück, um diese nicht zusätzlich zu belasten.
Rückschritte in der Entwicklung
Kinder können auf Verluste mit Rückschritten in der Entwicklung reagieren. Sie möchten sich aus dem Bedürfnis nach Sicherheit heraus, wieder jünger fühlen, als sie eigentlich sind. Möglicherweise nässen sie daher wieder ein, beginnen in Babysprache zu sprechen oder können nicht mehr so gut ausmalen oder ausschneiden wie zuvor. Sie möchten wieder im Bett der Eltern, bei Licht oder offener Tür schlafen, suchen auch am Tag stärker die Nähe von Bezugspersonen, können sich schlechter von ihnen trennen, haben das Bedürfnis nach Trost und Körperkontakt und wirken zugleich oft unleidlich oder weinen schneller als sonst. Zudem können sie schnell reizbar und abweisend sein, obwohl sie sich gleichzeitig nach Nähe und Zuwendung sehnen. All dies sind Signale an das soziale Umfeld, dass Kinder sich Unterstützung und Hilfe wünschen.
All die möglichen, oben aufgeführten Trauerreaktionen machen es Bezugspersonen nicht gerade einfach, zu verstehen, welche Bedürfnisse Kinder gerade haben und wie sie am besten unterstützt werden können. Oft haben wir unsere eigenen Sorgen und Belastungen und übersehen die sehr feinen Signale, die uns Kinder senden. Auch das gehört zum Leben. Es ist nicht immer alles perfekt, wir sind nicht immer optimal belastbar und aufmerksam. Trotzdem können wir sehr liebende und fürsorgliche Eltern sein. Das werden Kinder spüren und das ist die wichtigste und größte Kraftquelle, die wir Kindern auch in Verlustsituationen mitgeben können.
Wenn die beschriebenen Reaktionen über einen längeren Zeitraum anhalten, sollten Sie dafür sorgen, dass aus fachlicher Sicht körperliche Ursachen auszuschließen sind. Holen Sie deshalb Rat und Unterstützung bei Ihrem Kinderarzt.
Was können Bezugspersonen tun, um ihr Kind zu verstehen und es gut zu begleiten?
Zunächst sollten Sie prüfen, ob Sie generell Gedanken und Gefühle von Ablehnung entwickeln, wenn es um Verluste oder Abschiede geht. Möglicherweise wehren Sie aufgrund von negativen persönlichen Erfahrungen unbewusst eine Auseinandersetzung mit Verlusten ab. Dann kann es sein, dass Sie auch dem Kind aus gut gemeinter Fürsorge eine Auseinandersetzung mit eigenen Verlusten ersparen wollen, damit jedoch eine wesentliche Entwicklung des Kindes verhindern. Zudem sollten Sie über mögliche Trauerreaktionen und entwicklungspsychologische Aspekte informiert sein, um das Verhalten des trauernden Kindes einordnen zu können. Wesentlich ist zunächst, wahrzunehmen und anzuerkennen, dass das Kind einen Verlust erlebt. Häufig ist für Bezugspersonen nicht ersichtlich, dass das Kind einen Trauerprozess bearbeitet. Verluste, die Kinder erleben, erscheinen uns Erwachsenen oftmals, wie wir am Beispiel von Frida gesehen haben, gar nicht wie ein Verlust. So bemerken wir auch nicht, dass das Kind trauert, nehmen seine Trauer folglich nicht ernst und können es nicht angemessen unterstützen. Die nachfolgenden Ausführungen und Ratschläge helfen Ihnen dabei, die Trauer von Kindern besser zu verstehen und zu begleiten.
Schmerz und Leid aushalten
Frida trauert um Charlie. Der Verlust hat sie tief getroffen. Charlie ist für Frida nicht irgendein Stofftier. Frida hat eine enge Bindung zu ihm. Sie hat mit Charlie schon nächtliche Bedrohungen und Ängste überstanden. Er ist ihr Freund, Vertrauter und Beschützer. Für Frida ist er lebendig.
Kinder im Alter von Frida können noch nicht zwischen unbelebten und belebten Wesen unterscheiden. Daher empfinden vierjährige Kinder Verluste anders als Erwachsene. Wir werten solche Verluste häufig schnell als Bagatelle oder meinen das Kind übertreibe. Das Kuscheltier war alt, ein Billigteil, leicht zu ersetzen. Zudem hat das Kind noch 25 andere Stofftiere, also kein dramatischer Verlust aus unserer Sicht. Sätze wie: „Das ist doch gar nicht schlimm!“, „Morgen hast du das wieder vergessen!“, „ Wir kaufen dir ein neues, dann musst du nicht mehr traurig sein“, helfen dem Kind in seiner Situation und Entwicklungsphase nicht. Das verlorene Stofftier, das verstorbene Haustier sollte nicht schnellstmöglich durch ein neues ersetzt werden, auch nicht heimlich. Hilfreich unterstützen heißt, den Verlust als solchen zu akzeptieren und nicht zu beschönigen. Es bedeutet vor allem, den Schmerz und das Leid des Kindes auszuhalten. Gestehen Sie ihm den Kummer zu. Sagen Sie Ihrem Kind, dass diese schweren Gefühle kommen und auch wieder gehen werden.
Nicht alles ersetzen
Wird alles gleich ersetzt, lernen Kinder nicht, sich schmerzhaften Gefühlen zu stellen. Trauergefühle durch Ersatzobjekte zu kompensieren, wird dann zur Strategie, um mit Verlusten umzugehen. Dauerhaft kann eine solche Strategie nicht funktionieren. Verzweiflung und Angst nach einem schweren Verlust sind umso größer, desto weniger wir als Kind hilfreiche Strategien entwickeln und uns selbst in Krisen kennen lernen durften. Deshalb sind kleine Verluste und ihre Bearbeitung schon im frühen Kindesalter enorm wichtig.
Auf Veränderungen vorbereiten und informieren
Wir erschweren Kindern die Verlustsituation häufig, weil wir sie nicht altersentsprechend und ehrlich auf bevorstehende Veränderungen vorbereiten. Wir halten ihnen aus falsch verstandener Rücksichtnahme Informationen vor, die notwendig sind, damit sie sich selbst und die Situation verstehen. Die Folgen können schlimme Ängste und Sorgen sein, die sich durch Erklärungen hätten vermeiden lassen. Hat das Kind das, was geschieht, erklärt bekommen, entwickelt es keine falschen Vorstellungen, zum Beispiel im Hinblick auf die Krankheit und ihren Verlauf, auf die Perspektiven, die Abläufe im Krankenhaus, die Sicherheiten, den bevorstehenden Umzug, den Schulwechsel oder die bevorstehende Trauerfeier.
Geborgenheit und ehrliche Kommunikation
Wir sollten ein warmes und von Geborgenheit geprägtes Erziehungsklima schaffen und Kindern signalisieren, dass sie Fragen stellen dürfen, auch zu schweren Themen. Mit einer offenen, ehrlichen Kommunikation lassen sich zusätzliche Belastungen für Kinder eher vermeiden. Traut sich das Kind zu fragen, ob der Opa an der Krankheit sterben muss oder der Krebs von Jonas Vater ansteckend ist, sind wir in der Lage, auf seine Ängste zu reagieren. Wir können ihm unnötige Ängste nehmen und ihm bei der Auseinandersetzung mit begründeten Ängste helfen. Kinder orientieren sich im Umgang mit Verlusten am Trauerverhalten von Bezugspersonen. Daher hat unser persönlicher Umgang mit Trauer für die Bearbeitung kindlicher Verlust- und Veränderungsprozesse große Bedeutung.
Kinder von Schuldgedanken entlasten
Trennen sich die Eltern, stirbt der Hase oder wird der kleine Bruder krank, kann es sein, dass Kinder glauben, für dieses Ereignis verantwortlich zu sein. Gerade in der Entwicklungsphase zwischen dem fünften und achten Lebensjahr denken Kinder „magisch“. Sie haben die Vorstellung, Geschehnisse in der Welt mit ihrem Willen und ihren Wünschen steuern zu können und deshalb die Schuld an Ereignissen zu tragen. Lachen Sie also bitte nicht, wenn Ihr Kind davon überzeugt ist, dass die Oma nur deshalb im Krankenhaus liegt, weil es heimlich über sie geschimpft hat. Kinder fühlen sich entlastet, wenn sie spüren, dass wir sie nicht für schuldig halten; noch besser ist es, wenn sie selbst verstehen, dass sie »unschuldig« sind. Oft verbalisieren Kinder Schuldgedanken nicht und sind auf achtsame Begleiter und Unterstützung von außen angewiesen. Sie brauchen dann so viel Klarheit wie möglich. Erklärungen, warum zum Beispiel die Trennung stattgefunden hat oder der Hase gestorben ist, und Informationen darüber, wie es weitergehen wird, helfen Kindern mit der Situation zurechtzukommen.
Abschied nehmen lernen
Abschied zu nehmen ist auch eine Entwicklungsaufgabe der Eltern. Im Laufe der Beziehung zu unseren Kindern müssen wir selbst lernen, uns zu trennen. Sei es am Abend, wenn das Kind mit dem Babysitter zu Hause bleibt, sei es, wenn wir das Kind in der Kita oder bei einer Tagesmutter lassen, sei es, wenn das Kind die erste Nacht woanders verbringt, in die Schule kommt oder auf die erste Reise geht: Wenn wir spüren, dass der Abschied uns sehr schwer fällt, sollten wir die eigenen Ängste nicht auf das Kind übertragen und es dadurch verunsichern. Das Kind wird sich sonst ebenfalls nicht gut trennen können und es schwerer haben, sich in der neuen Umgebung einzugewöhnen. Sorgen Sie deshalb gut für sich. Klären Sie persönliche Unsicherheiten. Schauen Sie hin, was Ihnen die Trennung so schwer macht. Haben Sie den Eindruck, das Kind ist nicht gut aufgehoben? Haben Sie kein Vertrauen zu den Aufsichtspersonen? Gibt es andere Faktoren, die Ihre Bedenken und Sorgen auslösen, Ihr Kind in fremde Hände zu geben? Verschaffen Sie sich Sicherheiten, damit Sie sich mit einem guten Gefühl von Ihrem Kind trennen können. Informieren Sie sich zum Beispiel über den Babysitter, die Spielgruppe, die Tagesmutter, den Kindergarten oder die Schule eingehend.
Übergangszeiten und vertraute Objekte
Schaffen Sie erträgliche Übergangsphasen (verlängern Sie z. B. Zeiten, in denen das Kind im Kindergarten bleibt, allmählich). So können Sie und Ihr Kind in die Trennungssituationen hineinwachsen und nach und nach Unsicherheiten und Ängste überwinden. Spüren Sie, dass Ihr Kind Angst vor einer Trennung hat, können Sie Ihr Kind fragen, ob es ihm eine Hilfe wäre, wenn der Teddy oder ein anderes vertrautes Objekt mitgenommen würde. Irgendwann benötigt Ihr Kind das Objekt nicht mehr zur Unterstützung, weil es sich in der neuen Umgebung sicher fühlt. Das ist dann für Sie ein wichtiges Signal.
Abschiede mit Ritualen begleiten
Rituale sind hilfreiche Formen, Altes zu verabschieden und Neues zu begrüßen. Übergangsprozesse, Abschiede und Verlustsituationen können mithilfe von Ritualen gestaltet, verstanden und erträglicher gemacht werden. Sie sollten, dem emotionalen und kognitiven Entwicklungsstand des Kindes angepasst sein und erklärt werden. Der Abschiedssituation wird durch ein feierliches Ritual die angemessene Bedeutung verliehen. Der Übergang in einen neuen Lebensabschnitt kann durch ein solches erleichtert werden. Aus dem Lebensalltag eines Kindes kennen wir Rituale und Formen, die Übergänge in einen neuen Lebensabschnitt begleiten, so zum Beispiel beim Verlust der Milchzähne (Zahnfee, Zahndose), beim Eintritt in den Kindergarten, zum Ende der Kindergartenzeit (Abschiedsfeier), am ersten Schultag (Schultüte, Feier) oder auch religiöse Rituale und Zeremonien (Konfirmation, Kommunion).
Ressourcen fördern und Kinder verstehen
Um Verluste bearbeiten zu können, brauchen auch Kinder Kraftquellen. Solche individuellen Ressourcen könnten für Ihr Kind zum Beispiel das Spielen, Basteln, Vorlesen, Singen oder Malen sein. Laden Sie Ihr Kind ein, in Bewegung zu kommen oder sich zu entspannen. Sie werden spüren, was Ihrem Kind gut tut und woran es Freude hat. Über ein gemeinsames Spiel erfahren Sie zudem häufig etwas von den Sorgen und Nöten Ihres Kindes.
Wie können wir Kinder prinzipiell stark machen für den Umgang mit Krisen?
Wichtige Voraussetzungen, um Krisen und Verluste zu überstehen, sind Selbstbewusstsein, und Selbstvertrauen. Die folgenden Hinweise stärken Kinder, um mit Verlusten und Krisen besser zurechtzukommen:
- Kinder brauchen stabile Beziehungen und liebevolle, zuverlässige Bezugspersonen, damit sie ihre Abschiede und Veränderungsprozesse bearbeiten können.
- Kinder brauchen geregelte, verlässliche Alltagstrukturen.
- Kinder brauchen im Familiengefüge eine grundsätzliche Haltung von Respekt, Ehrlichkeit, Fürsorge, Liebe, gegenseitiger Wertschätzung und Unterstützung.
- Im Familiensystem sollte ein Umgang mit Belastungen vereinbart werden und eine offene Kommunikation zu schweren Themen „geübt“ werden.
- Kinder brauchen Zeit und Raum, frei zu spielen, sich auszuprobieren, kreativ zu sein, und müssen unbedingt vor Reizüberflutung (Handy, Tablet, PC, …) geschützt werden.
- In der Familie sollte es kontinuierlich Möglichkeiten geben, miteinander ins Gespräch und in den Austausch zu kommen. So können Strategien im Umgang mit Problemen und Krisen entwickelt werden.
- Kinder brauchen sachliche, nicht wertende Informationen zu bevorstehenden Veränderungen und zu eigenen Reaktionen auf Verluste. Sie sollten altersentsprechend an Veränderungsprozessen beteiligt werden.
- Kinder müssen spüren dürfen, dass Bezugspersonen nicht immer alles wissen und nicht immer für jede Situation eine Lösung haben. Sie sollten vermittelt bekommen, dass es zum Leben gehört, auf der Suche zu sein. Kinder lernen so in Situationen, in denen sie selbst orientierungslos sind, nach Wegen und Handlungsmöglichkeiten zu suchen.
- Kinder sollten nicht überbehütet werden, sie brauchen Erfahrungs- und Entwicklungsräume.
- Kinder müssen Verantwortung tragen dürfen, ohne dabei überfordert zu werden.
- Kinder müssen ehrlich gelobt werden.
- Kinder sollten über mögliches Trauerverhalten von Bezugspersonen informiert werden, damit sie nicht meinen, sie seien die Ursache für das veränderte Verhalten.
- Kinder sollten immer wieder ermutigt werden, gut für sich zu sorgen. Sie sollten darin bestärkt werden, ihren Hobbys nachzugehen, Dinge zu tun, die ihnen Freude machen und die Kontakt, Kreativität und Bewegung fördern.
- Kinder müssen nicht funktionieren, schon gar nicht im Umgang mit Verlusten. Sie müssen leiden und wieder zu einem inneren Geleichgewicht finden dürfen.
- Kinder brauchen Zeit und Menschen, die ihr Leiden zulassen und aushalten.
- Kinder sollten in ihren Fähigkeiten gefördert werden.
- Kinder sollten unabhängig von Leistung geliebt werden.
- Kinder sollten Normorientierung, Regeln und Grenzen erfahren.
Weitere Hinweise und Themen zum Umgang mit Kindern in Bezug auf Verluste (z. B. Abschied von der Tagesmutter – Start in den Kindergarten, Trauer nach der Trennung der Eltern, Trauer nach dem Tod eines nahestehenden Menschen, Kreative Möglichkeiten, Verluste zu bearbeiten, Hilfreiche Begleitung im Überblick, Grenzen und eigene Trauerprozesse) sowie Lesetipps und Links finden Sie in:
Stephanie Witt-Loers (2016):
Wie Kinder Verlust erleben … und wie wir hilfreich begleiten können
Vandenhoeck und Ruprecht
ISBN 978-3-525-70188-1
Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch
Autorin
Stephanie Witt-Loers, verheiratet, drei Kinder, ist Trauerbegleiterin, Kinder- und Familientrauerbegleiterin, Dozentin, Buchautorin, Leiterin von Kindertrauergruppen sowie Trauerbegleiterin im Auftrag verschiedener Jugendämter und Kinderheime. Sie leitet das Institut Dellanima, bietet Fortbildungen, hält Vorträge, berät und begleitet Schulen und Kitas in akuten Krisenfällen oder präventiv. In ihrer Praxis bietet sie Einzel- und Gruppentrauerbegleitung für Menschen jeden Alters an.
Kontakt
Institut Dellanima - Trauerbegleitung - Fortbildung - Vorträge
Stephanie Witt-Loers
Kinder – und Familientrauerbegleiterin (BVT) Trauerbegleiterin (BVT) Fachautorin DRK Projektleiterin "Leben mit dem Tod"
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eingestellt am 08. November 2016