Eltern als Mediatoren
Dr. Claudia Wölfer
“Wenn Kinder sich heftig miteinander streiten, stellt sich für Eltern die Frage, ob sie eingreifen sollen oder nicht. Wie kann es gelingen, die Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen und zugleich Anleitung und Modell für konstruktive Auseinandersetzungen zu bieten?“
Ohne Einmischung der Eltern können die Kinder lernen, ihre Auseinandersetzungen selbst zu bewältigen. Der Preis dafür kann sein, dass sich häufig dasselbe Kind durchsetzt, z.B. das ältere Geschwister dem jüngeren gegenüber, oder das Nachbarmädchen fügt sich in der Regel der eigenen Tochter. Mit Einmischung der Eltern können Kinder angeleitet lernen, wie sie ihre Konflikte konstruktiv und fair austragen können. Allerdings besteht die Gefahr, dass Kinder die eingreifenden Eltern als ungerechtfertigt parteiisch wahrnehmen, ein Risiko, das ein Vermittler zwischen zwei Streitparteien immer in Kauf nehmen muss.
Beide Erziehungsziele – Erziehung zur Selbstständigkeit durch Nichteinmischung und Erziehung zum Konstruktiven Streiten durch Vermittlung und Anleitung – sind wertvoll und haben ihre Nachteile. Die Anwendung beider Vorgehensweisen im Wechsel ermöglicht Kindern idealerweise, zum einen durch die elterliche Anleitung konstruktive Verhaltensweisen in Streitsituationen gezielt zu erlernen und diese zum anderen in neuen Auseinandersetzungen nach und nach selbstständig umzusetzen. – Bleibt die Frage offen, auf welche Weise Eltern am günstigsten eine Vermittlerfunktion im genannten Sinne einnehmen können. Folgende Ziele müssten umfasst werden:
- Die Kinder sollen angeleitet werden, den aktuellen Konflikt konstruktiv zu bewältigen, so dass beide Streitparteien mit der anschließenden Lösung zufrieden sind.
- Sie sollen in die Lage versetzt werden, das gelernte Vorgehen nach und nach in anderen Konfliktsituationen auch alleine umzusetzen.
- Die Kinder sollen erleben, dass die Eltern sich um eine faire, unparteiische Vermittlung bemühen.
In der professionellen Konfliktvermittlung, der Mediation, werden ganz ähnliche Ziele von ausgebildeten Mediatoren angestrebt: der Konflikt zwischen zwei (oder mehr) Parteien soll so moderiert werden, dass die Kontrahenten zu einer Lösung finden, die den Interessen beider gerecht wird. Der Mediator leitet diese Lösungssuche an und verhält sich dabei unparteiisch. Das Ziel, dass die Beteiligten diesen moderierten Lösungsweg später auch eigenständig umsetzen, ist in der Mediation nachgeordnet, aber auch vorhanden.
Mediation findet im beruflichen und im privaten Alltag Anwendung: Konflikte zwischen Berufskollegen werden durch einen neutralen Mediator moderiert, Erbschaftsauseinandersetzungen zwischen Geschwistern können in der Mediation bearbeitet werden, oder ein Paar kann Scheidungsfolgen auf diesem Weg regeln. – Eltern sind in der Regel keine ausgebildeten Mediatoren, aber im Familienalltag dennoch häufig in der Rolle von Konfliktvermittlern. Daher liegt es nahe, zu prüfen, ob sich einige Vorgehensweisen aus der professionellen Mediation nicht auch für Eltern eignen.
Streiten sich zwei Kinder, stellen sie in der Regel ihre jeweiligen Lösungsvorschläge zum Konfliktthema gegeneinander: “Ich will das Überraschungsei!” – “Nein, das ist meins!” Der Blick beider ist nur noch darauf gerichtet, wer das Ei bekommt. Eltern können in solchen Situationen wie Mediatoren helfen, den Blick wieder zu erweitern, indem sie herauszufinden versuchen, worum es jedem Kind genau geht. Welches Bedürfnis steht hinter der Forderung? Wollen beide Kinder die Schokolade essen? Oder will ein Kind die Schokolade und das andere die versteckte Figur?
Lösungsvorschläge der Kinder schließen sich oft gegenseitig aus: entweder kann der eine seinen Vorschlag verwirklichen oder der andere. Beide Kinder fürchten, dass sie ihre Interessen nicht verwirklichen können, deshalb entsteht heftiger Streit. Auf der Ebene der Bedürfnisse, die hinter den Vorschlägen steht, sieht das manchmal anders aus, wie im zweiten Beispiel: ein Kind will die Schokolade zum Essen, das andere die Ü-Ei-Figur für seine Sammlung. Mit Hilfe eines moderierenden Elternteils können sie das herausfinden.
Häufig lassen sich sogar mehrere Lösungen finden, die die Bedürfnisse beider Kinder zufrieden stellen. Nur da die Kinder die Bedürfnisse des anderen oft nicht kennen, können sie auf diese Ideen nicht kommen. Sie haben sich auf ihren Lösungsweg festgelegt, der ihr eigenes Bedürfnis sichern würde, und kämpfen für die Durchsetzung.
Z.B. möchte Karoline mit ihrer Freundin Marina schwimmen gehen, während Marina lieber mit ihr auf der Straße Völkerball spielen würde. Auf die Nachfrage der Mutter, warum beide jeweils ihren Vorschlag durchsetzen wollen, kommt nach und nach heraus, dass Karoline mit Marina zum Schwimmen gehen möchte, weil dann ihre kleine Schwester nicht dabei wäre. Beim Spielen auf der Straße wäre sie dabei, und Karoline möchte ihre Freundinnen nicht immer mit der kleineren Schwester “teilen” . Marina möchte gerne beim Völkerball mitmachen, weil sie gerne Ball spielt.
Nach dieser Klärung überlegen sich die Mädchen neue Lösungen: sie könnten einen Wasserball mit zum Schwimmen nehmen oder beim Völkerball zusammen in einer Mannschaft spielen, in der Jana nicht ist, oder sie könnten eine Weile auf der Straße Ball spielen und danach zu zweit im Kinderzimmer. Außerdem könnte Jana sagen, dass sie nicht immer automatisch mit ihnen spielen könne, sondern in Zukunft fragen soll, ob es ihnen gerade recht ist etc. Als beide wussten, worum es der anderen eigentlich geht, waren sie sehr kreativ bei der Suche neuer Lösungen, die ihnen beiden gerecht werden.
Um eine solche Klärung der Bedürfnisse, die hinter den Lösungsvorschlägen stehen, zu fördern, fragt die Mutter beide Kinder nacheinander, was ihnen an ihrem Vorschlag so wichtig ist. Sie versucht, jedes Kind in seinem Bedürfnis zu verstehen und zeigt ihm das auch, indem sie das Bedürfnis wiederholt und sich vergewissert, dass es genau darum geht: “Also du möchtest gerne mit Marina zum Schwimmen, weil Jana dann nicht dabei wäre? Das Wichtige daran ist für dich, dass du Marina nicht mit Jana teilen müsstest?” . Dadurch wird das Tempo aus dem Streit genommen, und auch die Kinder können einander besser zuhören. Zum einen werden sie ruhiger, wenn sie merken, dass jemand ihr Interesse ernst nimmt. Zum anderen erfahren sie etwas Neues über das andere Kind.
Manchmal stehen sich nicht nur die Lösungsvorschläge, sondern auch die Bedürfnisse entgegen: beide Kinder wollen die Schokolade essen, oder beide Kinder wollen mit dem Roller fahren. Dann setzt sich entweder der Stärkere durch, oder die Eltern führen das Prinzip des “Teilens” oder des “Abwechselns” ein: jeder bekommt die Hälfte der Schokolade, und jedes Kind darf zehn Minuten mit dem Roller fahren. Das Ergebnis ist der klassische Kompromiss: jeder bekommt etwas, jeder verzichtet auf etwas. Beide Kinder erfahren, dass ihre Bedürfnisse ernst genommen werden, und dass das Miteinander auch Verzicht erfordert.
Um trotz Eingreifens der Eltern als Konfliktvermittler möglichst viel Selbständigkeit der Kinder zu erhalten, ist es wichtig, sich selbst mit Lösungsvorschlägen zurück zu halten. Der Vater als Mediator für seine Kinder hat in erster Linie die Aufgabe, die Bedürfnisse aller Parteien herauszuarbeiten und sie gleichwertig nebeneinander zu setzen: “Also dir, Leon, geht es darum, dass du deiner Tante zeigen willst, wie gut du Roller fahren kannst. Und du, Amelie, würdest den Roller gerne haben, um Fahren zu üben. Was könnt ihr jetzt machen, damit ihr beide zufrieden seid?” Die Kinder selbst sollen dann zusammen überlegen, ob ihnen eine Lösung einfällt, mit der beider Bedürfnisse zufrieden gestellt sind. Je älter die Kinder sind, desto leichter gelingt das.
Bei jüngeren Kindern kann es nötig sein, dass der Konfliktvermittler Lösungsvorschläge macht. Dann sollte er verdeutlichen, wie durch die konkreten Vorschläge die Bedürfnisse der Streitparteien berücksichtigt werden: “Ihr könntet es so machen, dass Amelie jetzt Roller fahren übt, und sobald Tante Ulla kommt, bekommt Leon den Roller und dreht drei Runden über den Hof. Danach darf Amelie weiter üben. So kannst du, Leon, Tante Ulla zeigen, wie gut du schon fahren kannst, und du, Amelie, kannst die übrige Zeit üben. Was haltet ihr davon?” Die letztliche Entscheidung für einen Vorschlag treffen die Kinder.
Das Aussprechen und Nebeneinanderstellen der Bedürfnisse durch den Vater soll den Kindern vermitteln, dass ihre Interessen und Bedürfnisse berücksichtigt werden, und gleichfalls die des anderen Kindes. Die Kinder erfahren, dass die Bedürfnisse beider Seiten ihre Wichtigkeit haben, auch wenn ein Kind älter ist als das andere oder das eine Kind Sohn des Konfliktvermittlers ist und das andere das Nachbarskind. Sie merken, dass der Vater nicht nur eine Seite im Blick hat. Auch dadurch, dass der Vater sich mit Lösungsvorschlägen seinerseits zurück hält, wirkt er weniger leicht parteiisch.
Gelingt es Eltern, sich in dieser Weise als Konfliktvermittler einzubringen, lernen die Kinder, dass es in Konfliktsituationen nicht nur einen Gewinner und einen Verlierer geben muss, weil sich der Stärkere durchsetzt. Neben dem Prinzip Gewinner-Verlierer gibt es das Prinzip des Kompromisses, bei dem beide etwas gewinnen und beide auf etwas verzichten, indem sie z.B. teilen oder sich zeitlich abwechseln. Und es gibt das Prinzip des Doppelgewinns, bei dem beide gewinnen, weil sie heraus gefunden haben, dass die Bedürfnisse, die hinter ihren Lösungsvorschlägen lagen, sich gar nicht entgegenstehen, und es eine dritte Lösung gibt, die die Interessen beider zufrieden stellt. Im letzten Fall löst sich der ursprüngliche gegnerische Konflikt vollständig auf.
Durch die Moderation der Eltern üben die Kinder ein, in Konfliktsituationen ihre eigenen Bedürfnisse und auch die des anderen Kindes besser wahrzunehmen. Der Druck, für die eigenen Interessen hart kämpfen zur müssen, wird geringer, weil die Kinder in moderierten Auseinandersetzungen erfahren haben, dass Interessen sich nicht immer gegenseitig ausschließen, auch wenn es im ersten Moment so scheint. Dieses Wissen um die verschiedenen Möglichkeiten der Konfliktbewältigung erweitert ihre Handlungsmöglichkeiten. Sie gewinnen eine andere innere Haltung gegenüber Konfliktsituationen: Konflikte mit Entweder-Oder-Charakter werden zur Verhandlungssache.
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Autorin
Dr. Claudia Wölfer, Psychologische Psychotherapeutin, Weiterbildungen in Tiefenpsychologischer Psychotherapie (WIAP), Focusing (DAF), Systemischer Paar- und Familientherapie (IGST e.V.), Eltern-Säuglings-Beratung (Universitität Heidelberg) und Mediation (BAFM); Freiberuflich tätig als Psychotherapeutin und Supervisorin.
Adresse
Privatpraxis
Dr. Claudia Wölfer
Rohrbacher Str. 72
69115 Heidelberg
Erstellt am 16. Januar 2002, zuletzt geändert am 10. Juni 2013