Ich will doch nur dein Bestes….
Helga Gürtler
Alle Eltern möchten gern gute Eltern sein. Sie möchten ihr Kind/ ihre Kinder gut erziehen. Aber wie macht man das? Wie müssen Eltern sein, damit sie ihrer Aufgabe gerecht werden? Was liegt in ihrer Verantwortung – und was nicht?
Was verstehen wir überhaupt unter Erziehung? Und muss sich das verändern im Laufe der kindlichen Entwicklung? Was können Eltern insbesondere tun, wenn die Kinder in die Pubertät kommen?
Beginnen wir unsere Bestandsaufnahme mit Ihnen, den Eltern.
Sind Sie gute Eltern?
Die meisten Eltern stellen sich das ungefähr so vor:
- Gute Eltern sind langmütig, geduldig, feinfühlig und tolerant – immer!
- Gute Eltern lieben ihre Kinder – immer und unverbrüchlich. Ganz gleich, ob ein Kind gerade ihr Blumenbeet zertrampelt, seit drei Tagen die Schule schwänzt, sie im Zorn als “blöde Kuh” bezeichnet oder einem windigen Freund den Wohnungsschlüssel überlassen hat.
- Gute Eltern sind nicht selbstsüchtig. Sie sind immer für ihre Kinder da – auch nachts, wenn sie hundemüde sind, die Kinder aber dringend ein Problemgespräch führen möchten. Sie verschieben gern Verabredungen oder berufliche Verpflichtungen der Kinder wegen. Sie haben immer als Erstes das Wohl der Kinder im Kopf, fühlen sich für deren Wohlergehen uneingeschränkt verantwortlich.
- Gute Eltern machen in der Erziehung immer alles richtig. Sie überlegen sich gut, was sie tun wollen oder lesen kluge Bücher darüber. Und dann verhalten sie sich so, wie es ihnen ihr kritischer Verstand oder der Elternratgeber nahelegt.
- Guten Eltern gedeihen gute Kinder. Sie entwickeln sich ganz nach den Wünschen der Eltern, hören auf deren Rat. Sie lieben und achten ihre Eltern – immer. Kinder, die sich daneben benehmen, die Dummheiten oder Schlimmeres machen, sind ein Beweis für die mangelnde Qualität ihrer Eltern.
Glauben Sie das alles? Und, klappt es?
Nein? Schade! Sonst hätte ich in Ihnen das erste Exemplar einer idealen Mutter, eines idealen Vaters gefunden. Aber ich bin davon überzeugt, dass diese Spezies sowieso nur im schlechten Gewissen all der normalen, normal guten Eltern existiert, zu denen offenbar auch Sie gehören.
Haben Sie oft ein schlechtes Gewissen, weil Sie gern sein möchten, wie Sie nicht sein können? Glauben Sie, dass Sie sich deshalb für alles, was Ihre Kinder an negativen Eigenschaften an den Tag legen, schuldig fühlen und schämen müssen? Aber Sie sind doch ein Mensch, und kein pädagogische/r Superfrau/ -mann!
Eltern sind auch nur Menschen!
Sie geben sich viel Mühe mit der Erziehung Ihres Kindes. Wenn es dann aufmüpfig wird oder Dinge tut, die Sie ganz und gar nicht gutheißen können, wenn es Ihnen vorwirft, was Sie alles falsch machen, dann tut das weh!
Manchmal, wenn es wieder mal Streit zwischen Ihnen gibt, werden Sie Ihr “Früchtchen” nicht ausstehen können, und manchmal wünschen Sie es wahrscheinlich auf den Mond. Ihrem Kind geht es genau so. Allen anderen Menschen, die sehr eng zusammen leben, auch.
Sie sind nicht allmächtig und nicht allwissend. Sie können die Lebensumstände, unter denen Sie und Ihr Kind leben, unter denen Sie vielleicht auch manchmal leiden, nicht ohne weiteres ändern, auch wenn Sie sich darum bemühen. Sie haben eine Lebensgeschichte, die Ihren Charakter, Ihre Einstellungen geprägt hat. Selbst wenn Sie diese immer wieder kritisch überprüfen, wird es Ihnen nicht immer gelingen, sich nach neu gewonnenen Einsichten auch zu richten.
Gestatten Sie sich ruhig, eine normale Mutter, ein normaler Vater zu sein. Ein Mensch, der sich bemüht, aber nicht vollkommen ist.
Hören Sie vor allem auf, sich für Ihre Kinder zu schämen! Wenn Ihr Kind sich daneben benimmt, heißt das noch nicht, dass Sie daran schuld sind. Auch wenn Sie Ihrem Sohn das leuchtendste Beispiel in Sachen Ehrlichkeit waren, es nicht an Belehrungen dazu haben fehlen lassen, kann er doch eines Tages beim “unredlichen Erwerb” im Supermarkt erwischt werden und Ihnen womöglich noch erklären, das habe etwas mit Mut zu tun. Das ist sicher ein Grund, noch einmal sehr ernsthaft mit ihm über das Stehlen zu reden – ein Grund sich zu schämen ist es nicht. Ihre Kinder sind eigenständige Wesen, die ihr Aussehen und ihr Verhalten mehr und mehr selbst verantworten müssen.
Wenn Eltern sich für das Verhalten ihrer Kinder schämen, hat das auch Konsequenzen, die auf sie selbst zurückfallen. Was zu Hause so an Unerfreulichem abläuft, wird vor Außenstehenden möglichst verborgen. Der Nachbarin erzählt man höchstens von guten Noten auf dem Zeugnis oder sonstigen Glanzleistungen. Und sie macht es genau so. Dabei wäre es so tröstlich, von ihr zu hören, dass ihre Tochter in der Schule zurzeit auch so “durchhängt” oder auch schon mal im Warenhaus etwas hat “mitgehen lassen” !
Auf Elternversammlungen in der Schule oder im Gespräch mit der Lehrerin wird die häusliche Situation sorgfältig geschönt. Schwierigkeiten werden klein geredet. Dabei kennen die anderen das Problem wahrscheinlich auch, und man könnte sich vielleicht gegenseitig stützen und helfen. Aber so lange man sich für die Fehler der Kinder schämen muss…
Kinder sind nicht nur das Erziehungsprodukt ihrer Eltern
Kinder kommen nicht als “unbeschriebenes Blatt” auf die Welt – und es ist nicht einzig unsere Aufgabe, “dieses Blatt voll zu schreiben” . Kinder sind vielmehr eigenständige Persönlichkeiten vom ersten Tage ihres Lebens an. Sie bringen ihre eigene Art mit, das Leben anzugehen, sind von lebhaftem Temperament oder eher “schwer entflammbar” , neigen zu Panikreaktionen oder haben ein kaum zu irritierendes sonniges Gemüt. Kinder suchen sich aktiv ihre Erfahrungen. Aus der ständigen Auseinandersetzung mit der Umwelt, mit uns und unseren Eigenheiten formt sich ihre Persönlichkeit. Unsere Aufgabe ist deshalb nicht, sie nach unseren Vorstellungen zu prägen und zu (er-) ziehen, sondern ihnen bei der Entfaltung ihrer eigenen Persönlichkeit zu helfen.
Kinder sind längst nicht so hilflos und abhängig, wie auch die Wissenschaft lange Zeit glaubte. Schon das Baby macht seine Erfahrungen mit der Welt viel aktiver als wir bislang glaubten. Es bevorzugt dies und meidet jenes; es sucht aktiv, was zu ihm passt. Vom ersten Tage seines Lebens an erzieht es uns genau so wie wir es erziehen. Die moderne Videotechnik hat uns Beobachtungen ermöglicht, die für das bloße Auge, bei normal schnellem Ablauf, viel zu flüchtig sind. Erst Zeitlupe und ständige Wiederholung machen sichtbar, wie hier Blicke und Gesten, Zu- und Abwendung des Babys das Verhalten der Mutter oder des Vaters dirigieren, damit diese sich so verhalten, wie das Baby es gerade braucht.
Auch das Zwei-, Drei-, Vierjährige “weiß” oft besser, was ihm guttut, als wir ihm im Allgemeinen zutrauen. Kleinkinder, die man z.B. frei auswählen lässt, was und wie viel sie essen wollen, stellen zwar einzelne Mahlzeiten oft so einseitig zusammen, dass es einen Erwachsenen graust. Auf längere Sicht aber wählen sie verblüffend genau das aus, was ihr Körper braucht.
In diesem wie in vielen anderen Fällen tun wir gut daran, unseren Kindern mehr Kompetenz zuzutrauen und ihnen von klein auf ein Mitspracherecht in ihren eigenen Angelegenheiten einzuräumen, damit sie diese Fähigkeit nicht verlieren, sondern weiter trainieren. Schreibe ich ihnen hingegen vor, was und wie viel sie essen müssen, wann sie zu schlafen und was sie anzuziehen haben, dann entsteht aus solchen Selbstverständlichkeiten leicht ein Machtkampf. Wer essen muss, der mag es nicht mehr. Der lernt, dass er Vater oder Mutter ärgern kann, wenn er das Essen verweigert oder wieder ausspuckt. Wer Süßes nicht essen soll, nascht heimlich oft hemmungslos.
Mit zunehmendem Alter werden die anstehenden Fragen vielfältiger, das Mitredenlassen anstrengender. Denn nicht immer weiß ein Kind gleich, was es will – das muss es erst selbst herausfinden. Möchte die Achtjährige nun Klavier spielen lernen oder nicht? Ist das eine schnell verlöschende Flamme, oder wird sie die nötige Geduld aufbringen? Es hat keinen Zweck, eine Achtjährige zum Klavierspielen zu überreden, wenn sie nicht selbst Interesse daran hat.
Was für Zwei- und Achtjährige gilt, gilt für Ältere erst recht. Nur, wenn Sie mit Ihrem Sechzehnjährigen ständig im Gespräch sind, können Sie ihm helfen herauszufinden, was ihn an der Schule so nervt – ob das eine vorübergehende Missstimmung ist oder eine irreparable Abneigung. Ob er sich eher für ein Handwerk eignet oder für einen Büroberuf, und welches die Vor- und Nachteile der einen oder anderen Entscheidung sind. Sie können seinen Weg nicht für ihn suchen; Sie können ihn nur dabei unterstützen, ihn selbst zu finden.
Ein Kind, das von klein auf daran gewöhnt ist, für seine Angelegenheiten mitverantwortlich zu sein, wächst nach und nach leichter in die Eigenverantwortlichkeit des Erwachsenen hinein. Kinder dagegen, die (zu) lange abhängig gehalten werden, haben es oft nötiger, sich dann in der Pubertät mit viel Getöse und Hauruck aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Dann gibt es leicht Überspitzungen, die Eltern wie Kindern wehtun.
Mit zunehmendem Alter muss Ihr Kind mehr und mehr selbst entscheiden, immer mehr Verantwortung für das eigene Verhalten selbst übernehmen. Und Sie müssen entsprechend zurücktreten – auch wenn es oft schwer fällt, auch wenn Sie noch so genau zu wissen glauben, dass das, was es gerade tut, falsch ist. Ihre Siebenjährige wird sich ihre Freundinnen selbst aussuchen, ob Ihnen dieser Umgang nun recht ist oder nicht. Es sind ihre Freundinnen. Ob und wie der Neunjährige seinen Schrank aufräumt, ist seine Sache, wenn er mit den Folgen seiner Ordnung oder Unordnung klarkommt. Es ist seine Ordnung. Wenn Ihr Fünfzehnjähriger sich zutraut, ohne jedes Wiederholen die nächste Klassenarbeit zu überstehen, muss er das selbst wissen. Es ist sein Risiko.
Möglicherweise regt sich jetzt Ihr Protest. Sie sind schließlich erwachsen, Sie haben Ihrem Kind eine Menge Erfahrung voraus, Sie wollen es vor Gefahren und Irrwegen bewahren. Aber das sind Ihre Erfahrungen, nicht seine. Das ist das Fatale, dass man Erfahrungen anderer, selbst wenn sie nach wie vor und allgemein gültig sind, nicht so einfach von anderen übernehmen kann. Man muss sie selbst machen, um aus ihnen zu lernen.
Außerdem sind nur wenige Erfahrungen über lange Zeit und allgemein gültig. Ihre Erfahrungen müssen für Ihr Kind nicht stimmen. Ihre Erfahrungen prägen das, was Sie für Ihr Kind für gut und richtig halten. Ob es aber in seinem Falle wirklich das Beste ist, das können Sie nicht so ohne weiteres wissen – und mit zunehmendem Alter des Kindes immer weniger.
Was ist das Beste für mein Kind?
Bei kleinen Kindern ist es noch vergleichsweise leicht zu wissen, was das Beste für sie ist. Dass ein Baby sehr viel Nestwärme braucht, das gilt für alle gleichermaßen. Dass einem Zweijährigen im Trotzalter freundliche Beständigkeit zuträglicher ist als Strafen, auch. Ob es aber das Beste ist, den Sechzehnjährigen, der keinen Bock mehr auf Schule hat, trotzdem zum Weitermachen zu drängen oder ihn lieber eine Berufsausbildung beginnen zu lassen, das ist nicht eindeutig zu entscheiden. Dies kann nur im ständigen Gespräch und mit Beteiligung des Betroffenen entschieden werden.
Mütter und Väter glauben oft, recht genau zu wissen, was das Beste für ihre Kinder ist, oder sie glauben zumindest, sie müssten es wissen. Dabei sind ihre Vorstellungen davon, wie ein erwachsen gewordener Mensch – ein Mann, eine Frau – zu sein hat, von ihrer eigenen Lebensgeschichte und ihrer eigenen Erziehung geprägt. Aber auch von allgemein üblichen Vorstellungen, die allerdings von Zeit zu Zeit wechseln: Was als gut und normal in der Zeit galt, in der Sie Ihr Bild von sich selbst und von der Welt erarbeiteten, muss es heute – eine Generation später – nicht mehr sein.
Nehmen wir als Beispiel die Ansichten darüber, wie ein Junge, ein Mädchen sich verhalten sollte, damit er/ sie ein richtiger Mann, eine richtige Frau wird. Diese Vorstellungen haben sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert. Niemand wird hoffentlich heute mehr ein Mädchen kritisieren, weil es wild, aktiv und aufmüpfig ist. Oder einem Jungen das Weinen oder das Spielen mit Puppen vermiesen. Aber da, wo wir es nicht so direkt merken, sind die alten Vorurteile durchaus noch wirksam: Väter tun sich oft recht schwer, einen Jungen zu akzeptieren, der sich lieber verhauen lässt oder davonrennt als selbst zuzuschlagen. Zu viele Eltern empfehlen ihren Töchtern “typische Frauenberufe” , ohne lange, anspruchsvolle Ausbildung, wo sie Dinge lernen, die sie auch gebrauchen können, wenn sie später mal nicht berufstätig bleiben sollten. Und so manche kesse Emanze hört wohl noch den Spruch: “Mit dem Benehmen kriegst du nie einen Mann!”
Spätestens wenn die Auseinandersetzungen mit den heranwachsenden Kindern losgehen über das, was gut und richtig ist, sollten wir Eltern unsere Einstellungen einer Inventur unterziehen:
- Wie bin ich eigentlich geworden, was ich bin?
- Was hat meine Vorstellungen zu diesem und jenem geprägt und genährt?
- Passen diese meine Vorstellungen noch zum Leben meiner Kinder?
Manche Einstellung hat ihre Wurzeln in der ganz persönlichen Lebensgeschichte. Da ist eine Mutter unter recht beengten wirtschaftlichen Verhältnissen aufgewachsen. Ihr Traum war immer, Klavier spielen zu lernen, Pianistin zu werden. Aber das kostete viel Geld und war indisktutabel. Ihre Eltern hatten auch wenig Verständnis dafür. Ist sie deshalb jetzt so zornig, dass ihre Tochter den Klavierunterricht nicht ernst nimmt, am liebsten wieder aufhören möchte? Soll ihre Tochter Pianistin werden, weil sie es nicht werden durfte? War die Anmeldung der Kleinen zum Klavierunterricht auch ein Stück späte Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern: “Seht her, so verständnisvoll geht man mit den Wünschen der Kinder um!” ?
Manchmal verfolgen Eltern auch an ihren Kindern Verhaltensweisen, die ihnen selbst in ihrer Kindheit ausgetrieben wurden. Ist z.B. der Vater, der so penetrant auf Ordnung achtet, selbst als Kind oft wegen Unordentlichkeit bestraft worden? Kann er Herumliegendes deshalb nicht ertragen, weil da auch in ihm irgendwo noch der kleine Junge lauert, der gern ein bisschen um sich “herumferkeln” würde? Muss er den jetzt, stellvertretend für seine Eltern, in seinem Sohn bekämpfen? Oder es bleibt einer ein trotziger Schlamper, gerade weil ihn seine Eltern zu penetrant zur Ordentlichkeit erziehen wollten. Und jetzt reagiert er allergisch, wenn seine Frau die Kinder (und ihn) zu etwas mehr Ordentlichkeit anhalten möchte. In einer anderen Familie ist vielleicht Ordnung nie ein wichtiges Thema, ist es auch in der Geschichte der Eltern nicht gewesen.
Jedenfalls ist es schon interessant, die Schwerpunkte, die man in der Erziehung der Kinder setzt, auf solche persönlichen Anteile hin zu untersuchen. Eines lässt sich aber trotz all dieser Unsicherheit sagen: Das Beste für Ihr Kind ist, wenn es in Ihnen einen ehrlichen, nicht überheblichen Partner hat, den es kritisieren darf, mit dem es sich streiten und auseinandersetzen kann.
Aber hat nicht Erziehen auch mit Ziehen zu tun – Ziehen in eine bestimmte Richtung oder hinter mir her?
Was heißt denn eigentlich Erziehen?
Zunächst einmal ist Erziehen Behüten. Das Kind braucht seine Familie als sichere Basis, auf die es sich immer wieder zurückziehen kann, wenn es sich in seinem Forscherdrang eine Schramme auf der Nase oder auf der Seele geholt hat. Sie müssen Ihr Kind behüten vor Gefahren, denen es ohne Sie nicht gewachsen ist. Sie müssen es davor bewahren, Tollkirschen zu kosten, spontan in den Straßenverkehr zu rennen oder in der Schule überfordert zu werden. Die eigentliche Kunst am Behüten aber ist das Freilassen in der genau richtigen Dosierung. Wenn ich Kinder zu sehr behüte, enge ich sie ein, hindere sie am Selbständigwerden.
Kinder, die in die Pubertät kommen, wollen nicht mehr behütet werden. Sie sind dagegen ausgesprochen allergisch. Und es bleibt auch nicht mehr viel, was wir in dieser Richtung tun können, wenn sie den nötigen Schutz nicht schon in sich selbst finden. Wir können Jugendliche durch unser Veto davor bewahren, Verträge einzugehen, deren Tragweite sie nicht übersehen können. Es ist gut, dass sie dazu noch unsere Unterschrift brauchen. Aber wir können sie z.B. nicht davor bewahren, illegale Drogen, die ihnen angeboten werden, auszuprobieren. Fernhalten geht nicht mehr, Verbieten bewirkt eher das Gegenteil. Aber wenn wir Glück haben, erzählen sie uns von ihrem ersten Joint, und wir können über ihre Erfahrungen und unsere Besorgnis mit ihnen reden.
Erziehen heißt sicher manchmal auch Verhindern und Gegenhalten. Ich kann verhindern, dass meine Dreijährige fernsieht. Denn eine Dreijährige kann noch nicht selbst entscheiden, ob ihr das Fernsehen zuträglich ist oder nicht. Oder ich kann möglichst oft ein so attraktives Kontrastprogramm anbieten, dass meine Tochter die Flimmerkiste vergisst. Bei einer Zwölfjährigen, die nicht selbst einsieht, dass zu viel Fernsehen krank macht, geht gar nichts. Wenn ich nur verbiete, wartet sie, bis ich weggehe, oder guckt woanders. Es bleibt mir in dem Alter also nichts mehr von meiner elterlichen Macht, nur die ständige Auseinandersetzung, das ständige Ringen um Einsicht.
Erziehen heißt vor allem Vormachen. In Erziehungsratgebern steht oft, Eltern müssten ihren Kindern Vorbild sein. Das riecht nach moralischem Zeigefinger und überhöhtem Anspruch. So ist es aber gar nicht gemeint: Es soll einfach heißen, dass Kinder sich mehr an dem orientieren, was wir ihnen vormachen, als an dem, was wir ihnen sagen. Deshalb lohnt sich immer auch die selbstkritische Frage: Welches Leitbild haben meine Kinder eigentlich an mir? Kann ich meinen Söhnen ein Modell für eine emanzipierte Frau sein, wenn ich mir von meinem Mann zu vieles ohne Widerspruch gefallen lasse? Können sie mir die Warnungen über die Gefahren des Rauchens glauben, wenn ich selbst qualme wie ein Schlot?
Ältere Kinder haben ein sehr feines Gespür für unsere Schwächen. Mit unmissverständlichen Formulierungen legen sie oft ihren Finger genau auf die schlimmen Stellen. Sie erwischen uns vor allem auch dabei, wenn das, was wir ihnen sagen, und das, was wir selbst tun, nicht zusammen passen. Anstatt auf solche Konfrontationen allergisch-wütend oder mit Ausflüchten zu reagieren, kann ich versuchen, mich zu verändern, mich selbst mehr an das zu halten, was ich predige. Wo mir das nicht gelingt, muss ich auch zu meinen Schwächen stehen, wenn ich glaubwürdig bleiben will. So wird – und das ist eine große Chance – die Auseinandersetzung mit den Kindern auch eine Auseinandersetzung mit mir selbst, ein Jungbrunnen für die eigene Seele. Denn alt wird man erst, wenn man sich nicht mehr verändert.
Erziehen bei älter werdenden Kindern ist in zunehmendem Maße nur noch Begleiten und Unterstützen. Begleiten kann ich nur jemanden, der neben mir geht. Wie es schon für den Umgang mit einem Zweijährigen ratsam ist, vor ihm in die Hocke zu gehen, damit wir die Welt mit gleichen Augen und uns gegenseitig auf gleicher Höhe sehen, so ist es für das Gespräch mit einem Zwölfjährigen unabdingbar, von der Erwachsenen-Überheblichkeit zu lassen, wenn ich sein Vertrauen behalten will.
Sie werden bei einem Zwölfjährigen, der drei Stunden zu spät nach Hause kommt, nichts erreichen, wenn Sie ihn in Grund und Boden donnern und ihm eine Woche Stubenarrest verpassen. Erzählen Sie ihm lieber von der Angst, die Sie ausgestanden haben, von all den möglichen Gefahren, die Sie sich ausgemalt haben. Das wird er wahrscheinlich übertrieben finden, aber warum sollte er Sie dem noch einmal aussetzen, wenn er Sie gern hat und gar nicht ängstigen wollte?
Je mehr Sie auf Respekt und Gehorsam pochen, desto weniger wird er Ihnen gezollt werden. Wenn Sie auf die Demonstration von Macht und Überlegenheit verzichten, ist die Chance größer, dass Sie Vertrauen und Achtung Ihres Kindes behalten.
Im Umgang mit heranwachsenden Kindern muss ich ertragen lernen, dass sich da eine ganz andere Sichtweise mit dem Anspruch auf Gleichberechtigung neben meine schiebt, dass nicht immer ich es sein muss, die (oder der) Recht hat. Wenn ich z.B. in der Zeitung lese, dass in der Disco, die meine siebzehnjährige Tochter oft besucht, Drogen kursieren, möchte ich, dass sie da nicht mehr hingeht. Wenn sie mir aber erklärt, das sei alles maßlos übertrieben, außerdem gebe es solche Angebote in fast jeder Disco und sie nehme das Zeug sowieso nicht, dann wird sie die Lage wohl besser einschätzen können als ich. Ob sie diese Disco doch in Zukunft lieber meiden sollte, müssen wir im gleichberechtigten Gespräch miteinander verhandeln. Ich kann beraten, kann von meiner Besorgnis reden, vielleicht auch beschwören und streiten, mehr nicht.
Ich muss auch lernen, eigene Fehler zuzugeben und zu eigenen Schwächen zu stehen, wenn ich ein akzeptierter Gesprächspartner bleiben will. Ich kann meinem Sechzehnjährigen nur schwer seinen Rausch vom Wochenende vorwerfen und gleichzeitig behaupten, mein eigener Alkoholkonsum sei etwas ganz anderes.
Wenn Jugendliche gegen zu viel elterliche Bevormundung opponieren, wenn sie uns kritisieren, uns zu beweisen versuchen, dass sie so manches inzwischen besser wissen oder können als wir, mag das manchmal – besonders wenn es in dem üblichen ruppigen Ton daherkommt – ein Angriff auf unser Selbstwertgefühl sein. Es ist aber auch ein erfreuliches Anzeichen zunehmender Autonomie. Wie gesagt, es kann sein, dass sie Recht haben!
Und schließlich muss Erziehen auch Vertrauen sein. Wir müssen darauf vertrauen, dass unser Sohn, unsere Tochter mehr und mehr in der Lage ist, seinen/ ihren ganz persönlichen Weg zu finden – auch wenn der mit dem, was wir uns vorgestellt haben, nicht übereinstimmt. Sich bei dem, was man tut, vom Vertrauen der Alten getragen zu fühlen, das ist wie ein warmes Gefühl im Bauch, auch wenn man sich noch so rotzig und unabhängig gibt.
Schlussbemerkungen
Fassen wir noch einmal zusammen:
- Ideale Eltern gibt es nicht. Auch wir sind keine. Falls wir diesen Anspruch einige Jahre noch mühsam aufrecht erhalten konnten, zerfällt er durch die Aufmüpfigkeit und kritische Distanz unserer heranwachsenden Kinder.
- Kinder verzeihen den Eltern ihre Fehler um so eher, je weniger diese auf Unfehlbarkeit pochen.
- Wir können Kinder nicht nach unserem Bilde prägen, ihnen nur helfen, ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln.
- In der Pubertät können wir unsere Kinder nicht mehr erziehen, nur noch unterstützen. Was das Beste für sie ist, können wir nicht wissen. Wir können nur versuchen, es mit ihnen gemeinsam herauszufinden.
Kommen wir aber von diesem Ausflug ins Grundsätzliche noch einmal zurück auf das unmittelbar und konkret Anwendbare: Da steht vor Ihnen Ihre fünfzehnjährige Tochter mit zerlöcherten Jeans und grünen Haaren. Als erstes taucht in Ihnen die Frage auf: Was sollen bloß die Nachbarn denken? Sagen Sie sich: Für das Aussehen meiner Tochter bin ich nicht verantwortlich. Es ist ihr Aussehen. Fragen Sie sich aber auch:
- Schadet jemandem das Aussehen meines Kindes?
- Warum möchte sie so aussehen? Wem möchte sie damit gleichen oder imponieren? Wen möglicherweise schockieren?
- Warum stört es mich? Auf wen möchte ich mit meinem Kind einen guten Eindruck machen?
Sie dürfen ihr ruhig sagen, dass Sie ihr Aussehen scheußlich finden, sich sorgen um den Eindruck in der Nachbarschaft. Aber Ihre Angelegenheit ist es trotzdem nicht. Sollte Sie jemand darauf ansprechen, sagen Sie ruhig: “Mir gefällt es auch nicht. Aber sie findet es zur Zeit schön.” Niemand sollte jedoch daran zweifeln können, dass Sie Ihr Kind weiter liebhaben, so wie es ist – auch mit grünen Haaren!
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Autorin
Helga Gürtler ist Diplom-Psychologin. Sie schreibt Bücher und Zeitschriften-Artikel zu Erziehungsthemen, hält Vorträge, arbeitet mit Elterngruppen und in der Fortbildung von Erzieherinnen.
Adresse
Helga Gürtler
Stubenrauchstr. 4
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Telefon: 030 / 833 67 10
Email: Helga Gürtler
Erstellt am 4. Juli 2003, zuletzt geändert am 9. September 2013