Was wir von Kindern lernen können. Über den Wert kindlicher Kreativität für Erwachsene
Prof. em. Dr. rer. soc. Martin Doehlemann
Wir, die Großen, sollen von den Kleinen etwas lernen können? So merkwürdig das klingt: Gerade in den Unzulänglichkeiten der Kinder liegen ihre Originalität und ihr Phantasiereichtum begründet – und somit unsere Chancen, von ihnen zu lernen.
Kinder sind noch viel mehr „eins“ mit sich und der Welt als wir. Innenwelt und Außenwelt gehen ineinander über. Kinder trennen noch nicht so deutlich Wahrnehmung von Einbildung, Wirklichkeit von Wunsch. Sie können Gedanken oder Träume als dinglich gegeben erleben und bloße Dinge als lebend, mit Gesichtern, als lockend oder drohend. Das „Einssein“ ist Schwäche und Stärke zugleich. Schwankende Gefühle leben sich in der „kreativen“ Beseelung aller möglichen Gegenstände aus. Die Begrenztheit von Wissen und Erfahrung ist Ausgangspunkt für grenzenlose Phantasie. Kinder sind also nicht schöpferisch kraft Könnens und Wollens, sondern unabsichtlich im Rahmen spielerischer Welterkundung und -bewältigung.
Die durchschnittliche Erwachsenenwelt hat eine gewisse Tendenz zur „Monokultur“, also zum deutlichen Vorrang zwar effizienter, aber doch ziemlich eindimensionaler Sicht-, Denk- und Verhaltensweisen. Da bietet die eigenartige Kultur der Kinder Gelegenheit, unsere Persönlichkeit zu vervollständigen – nicht, indem wir „werden wie die Kinder“, sondern indem wir ihre seltsam anmutenden Lebensäußerungen liebevoll und geduldig zu Kenntnis nehmen und (selbst-)kritisch bedenken.
Kinder hauchen der Welt ihre Seele ein und erklären sie uns ganz anders.
Kindliches Umwelterleben ist eine gefühlsbestimmte buntbewegte Einheit von „Hineinlesen“ und „Herauslesen“. „Der Himmel ist dünn“, sagt Melanie (etwa 5). Warum? „Damit Sonne, Mond und Sterne durchscheinen können“. Zu den Kondensstreifen von Flugzeugen hinauf blickend fragt Sandra: „Dürfen die den Himmel zerkratzen?“ Max (5 Jahre; 6 Monate) malt eine schwarze Sonne mit schwarzen Sonnenstrahlen, „weil sie schläft“. Leo (3;5) meint, dass die Sonne in der Nacht ihre Strahlen einzieht. Warum wachsen auch an steilen Hängen die Bäume senkrecht nach oben? „Das ist, weil die Sonne nur mittags die Bäume anzieht“ (Sascha, 6;9). „Die Sonne geht durch einen durch – und hinten kommt sie als Schatten wieder raus“ (Johannes, 7). Holger (etwa 5) deutet den Schatten anders: Er „ist wie ein kleiner Abend, der kommt, wenn die Sonne scheint“. Grischa (3) stellt fest: „Wenn’s regnet, wird der Wind nass.“ „Wenn Wasser ganz alt wird, fließt es nimmer“ (Max, 4;5). In der Dämmerung bei Nebel: „Mutti, ich kann nichts sehen, es ist ja alles wie geflüstert“ (Marion, 5;6). Ein Junge (5) blickt im Wald in den Eingang eines alten Stollens: „Jetzt weiß ich, wo sich die Nacht am Morgen versteckt.“ Kinder können also „aus Versehen“ Physik und Poesie verbinden.
Über das Träumen: Andy (4;6) meint, Träume kämen „vom Mond“, der sich teile und „Lichter“ schicke. Oder: „Wenn man nicht schläft, ist der Traum im Kopf. Während man schläft, kommt er heraus. Wenn es Nacht ist, ist es Nacht, aber wenn man schläft, ist es nicht mehr Nacht“ (Frank, 6). „Schlafen wir immer und träumen wir alles? Träum’ ich noch, wenn ich tot bin?“ (Stephanie, 6;1). Beim Versuch, verschiedene Wirklichkeiten voneinander zu sondern, kommen Kinder zwar zu „falschen“, aber uns eigentümlich anrührenden Ergebnissen.
Kinder sind Philosophen ohne Weisheit und geben uns Anregungen zum Nachdenken.
„Stimmt das, was ich seh’, lauter Dinge?“ fragt Steffi (5;6), lächelt dann und greift in die Luft: „Nämlich, wenn ich es anfasse – und es wäre lauter Luft da!“ Tobias (7) fragt: „Ist das Nichts wirklich? Kann ich es mir vorstellen?“ Und Julia (8) überlegt: „Weiß das Pferd, was es denkt?“ Für uns Erwachsene versteht sich vieles „von selbst“ oder bleibt schlicht unbeachtet. Wir haben oft verlernt, immer wieder neu zu fragen. Die Kinder aber verlangen unentwegt Auskunft, zum Beispiel über das Woher und Wohin der Menschen. „Wo war ich, als es mich noch nicht gab?“ „Warum bin ich geboren?“ „Mama, wenn ich sterbe, sterbe ich dann ganz?“ „Und wenn wir tot sind, können wir dann bloß noch leise miteinander sprechen?“ Paul (8) meint: „Die Seele ist das Innere vom Denken“.
Kinder suchen Gott ohne Ehrfurcht und fragen uns nach ihm.
Die Kleinen bringen uns vielleicht dazu, der Vielfältigkeit unseres eigenen Glaubens oder Unglaubens nachzuspüren. „Hat Gott alles gemacht? Wer hat Gott gemacht?“ (Sebastian, 8). „Hat Gott sich selber erfunden?“ (Birgit, 8). „Hat Gott damals gewusst, dass er Gott ist“? (Charles, 8). „Kann Gott sich selber umbringen?“ (Natascha, 6;3). Ob Gott zu sehen ist? Er „schaut blau aus. Sonst könnten wir ihn ja sehen im Himmel“ (Hanni, 6). „Vielleicht können wir durch ihn hindurchsehen – wie deine Brille, Papa“ (Anja, 5;1). „Gott ist alt, groß und fürchterlich. Er sieht fast aus wie ein Steinzeitmensch“ (Achim, etwa 7). Etwas besser kommt er bei Jane (9) weg: „Der liebe Gott hat einen weißen Mantel an und er hat lange graue Haare. Ich glaube, alles andere an ihm ist Geist.“ Wie verhält er sich? „Wenn ich Sünden getan habe, ist er wütend und schimpft. Man kann das aber nicht hören, weil er leise spricht und Latein“ (Roman, etwa 7). „Was tut Gott mit einem, wenn man tot ist? Isst er einen dann auf? Wir essen doch auch tote Hühner“ (Junge, etwa 5). Kindliches Gebet: „Lieber Gott mach, dass ich lebendig in den Himmel komm!“
Kinder sind Künstler ohne Können und fordern unsere ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit heraus.
Kinder sind natürlich keine Künstler mit Kunstfertigkeiten, „Willen zur Form“ und Wirkungsabsicht. Aber sie sind Künstlern wohl insofern verwandt, als sie eine erhöhte Eindrucksfähigkeit mit einem gesteigerten Ausdrucksbedürfnis verbinden. In ihren Bildern führen sie uns zum Beispiel „allseitig“ erfasste Dinge vor: durchsichtige (bunte Ostereier im Bauch einer Henne), unsichtbare (der Duft der Blume als bunte Punkte oder unheimliche Geräusche als dunkle schwebende Gebilde im Zimmer), vielseitige (Portraits in Seiten- und Vorderansicht zugleich), vielgesichtige (Sonne, Bäume, Blumen mit einem oder mehreren Gesichtern) und vieles mehr. Kinder gestalten zwar ohne „Geschmack“, erzeugen aber nie Geschmackloses oder Kitschiges; das können sie erst später von Erwachsenen lernen. Wir können mit Hilfe von Kindern erkennen, dass eine „unrealistische“ Betrachtungsweise den Dingen durchaus auf den Grund gehen kann – und sehen das auch in alten und neuen Kunstwerken.
Kinder sind Sprachschöpfer und Wortspieler und können unser Sprachgefühl vertiefen.
Beim Prozess kindlicher Sprachfindung fallen manche einleuchtende Gleichnisbegriffe oder Lautmalereien an. Wenn der richtige Ausdruck fehlt, macht die Not eben erfinderisch. Einige Benennungen von Körperteilen und – befindlichkeiten : „Haarflamme“ (abstehende Locke), „Haarschlangen“ (Locken), „Kopfschläuche“ (Gehirn), „Augenvorhang“ (Lid), „wimpern“ (blinzeln), „Spreißeln in der Backe“ (Bartstoppeln), „Zahnhimmel“ (Gaumen), „winden“ (atmen), „Brustschenkel“ (kräftige Oberarme), „nackter Pullover“ (freier Oberkörper eines Mannes), „dickbäuchige Beine“ (stämmige Waden), „knurrende Knochen“ (erschöpft sein), „verlaufene Beine“ (müde vom Laufen), „Brust vom Fuß“ (Ferse), „in Füßen gehen“ (barfuß) – und Opas Kopf „ist barfuß“, d.h. er „hat viel Gesicht“ (eine Glatze). Wir mögen die originellen oder auch hanebüchenen Ergebnisse kindlicher Sprachkraft als Erholung von den vielen abgenutzten Worten empfinden, die uns unaufhörlich umschwirren.
Kinder sind unentwegte Rollenwechsler und drängen uns zur Vergrößerung unseres Rollenhaushaltes.
Nach dem wilden Spiel von „Reiter“ (Sohn, 6) und „Pferd“ (Vater auf allen Vieren) ergibt sich zum Beispiel folgende Bedeutungsabfolge: Der Vater liegt auf dem Teppich und ruht sich aus. Der kleine Sohn wiehert und schlägt sich mit einem Stöckchen auf die Hacken, d.h. er ist jetzt Pferd und Reiter zugleich. Dann legt er sich auf den Rücken neben den Vater und sagt, er sei „das berühmte Baby aus Paris, weil es das Heulen erfunden hat“; es will dem Vater aus einer imaginären Flasche einen Zaubertrank einflößen, damit er zu einem „Flugdinosaurier“ werde. Schwimmbewegungen des Jungen zeigen nun an, dass das Zimmer sich in eine Meereslandschaft verwandelt. „Haifisch“ (Sohn) und „Pottwal“ (Vater) bringen mit gewaltigen Flossenbewegungen das Meer zum Wogen, worauf sich der Sohn auf einen schwankenden „Kahn“ (Vater) rettet und von dort aus mit dem Stöckchen „Seepferdchen“ (Muster im Teppich) angelt. Mag sein, dass solche Verwandlungsspiele für uns ein heimliches Übungsfeld für Distanz gegenüber erstarrten Berufs- und Freizeitrollen darstellen.
Kinder sind notorische Grenzverletzer und wollen uns mitziehen.
Kinder erlernen erst allmählich die uns geläufigen Unterschiede zwischen öffentlicher und privater Sphäre, Arbeitszeit und Freizeit, Parkplatz und Spielplatz, guter Stube und Kinderzimmer usw. Das Bedeutungs – und Beachtungsrelief der Umwelt ist für sie oft ein anderes als für uns. Kinder ermuntern uns, den Verhaltensaufforderungen der Dinge zu folgen. Sie wollen mit uns auf Geländern balancieren, Böschungen hinunterrutschen oder in der Kirche schreien, weil es so schön hallt. Sie wollen in Drehtüren Karussell fahren, im Kaufhaus Verstecken spielen, weiße Wände bekritzeln, am sommerlichen Strand Weihnachtslieder krähen oder im Schnee mit Schwimmflossen watscheln. Und sie fragen, ob Mütter auch Gras essen müssen, damit Milch aus ihrer Brust kommt, ob Jesus einen Popo hatte und der Papst auch mal pinkeln muss. Solchen Tatendurst, solche „Unordnung“ in der Wahrnehmung und solche entlegenen Gedanken verbieten wir uns meist. Aber es kann uns bewusst werden, wie stark wir eingezwängt sind in vorgegebene Arrangements des Denkens und Handelns.
Kinder führen ein leidenschaftliches Leben und vermögen uns anzustecken.
„Da lachst du“, erzählt das Mädchen (8), „dass dir die Wangen zappeln“. Max (8;2) konnte gar nicht mehr zu lachen aufhören: „An meiner Lachspirale wackelt eine Schraube.“ Als er schließlich aufhörte: „Jetzt ist die Lachspirale rostig.“ Florian (4;3) schreit laut, um sein kleines Brüderchen zu erschrecken. Dann, leise mit einem Lächeln, wie zu sich selbst: „Manchmal bin ich selber erschrocken, wenn ich so laut schreie.“ Größte Lust und heftigster Überdruss, innigste Herzlichkeit und wütende Abneigung: Kinder übertreffen uns oft in der Spannweite und Intensität der Gefühlsregungen und locken uns manchmal aus der Reserve. „Ich kann überhaupt nicht aufhören, dass ich dich lieb hab. Ich bin schon Millionen Jahre tot, bevor ich damit aufhören kann“ (Anna, 7). Kinder wollen oft schmusen. In ihrer fast zwittergeschlechtlichen Ungerichtetheit verteilen sie Zärtlichkeiten, die von ihrer ganzen Person ausgehen, und sie locken solche an. Diese „interesselosen“ Liebes- und Balgspiele können den Erwachsenen eine oft vergessene Dimension von Zärtlichkeit erschließen.
Kinder sagen arglos die Wahrheit und halten uns einen Spiegel vor.
Manche Mutter hat schon die peinliche Situation erlebt, dass ihr Kind spürt und ausspricht, was sie selbst über anwesende Leute, etwa die Schwiegermutter, nur „denkt“ und keinesfalls zeigen möchte. Oder: Als Michael (4) ermuntert wurde, tüchtig zu essen, damit er „so groß wie der Papa“ werde, wandte er sich an den Vater: „Warum isst denn du?“ Hänschen (3;4) zum Vater: „Papa, du hast einen fettigen Bauch, da muss ich mal draufklopfen“. Die Beschreibung gefällt dem Bruder Michel (6;5) und er erzählt sie gleich der großen Schwester (9;5) weiter. Diese verbessert sogleich: „Nein, Papa hat einen fetthaltigen Bauch.“ Schließlich: „Ein Erwachsener“, meint Christof (6), „kann nicht mehr höher, weil er oben Schluss gemacht hat.“ Dennoch: „Auch wenn man nicht mehr wächst, kann man noch gescheiter werden; denn die Gedanken nehmen ja keinen Platz weg, sie sind ja durchsichtig“ (Terry 5;3).
Ist das so? Auf jeden Fall könnte eine empfindsame Aufmerksamkeit für die eigenwillige Kinderart unser Erwachsensein erweitern und abrunden.
Literatur
- Martin Doehlemann: Die Kreativität der Kinder. Anregungen für Erwachsene.
- Mit einem Beitrag von Norbert Rath. Münster / New York / München / Berlin 2001
- Auch hier im Familienhandbuch von Prof. em. Dr. rer. soc. Martin Doehlemann: “Schwarze Männer und Lichtgestalten. Das “archaische” Naturerleben von Kindern – und der heutige Mangel an Möglichkeiten“
Autor
Martin Doehlemann, Prof. em. Dr. rer. soc., M.A., lehrte Soziologie – mit den Schwerpunkten Sozialisation und Kultursoziologie – am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster.
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Erstellt am 21. November 2003, zuletzt geändert am 10. Juni 2013