Welche Erziehung braucht mein Kind?
Anne-Bärbel Köhle
Autoritär ist out, antiautoritär auch, und Grenzen zu setzen funktioniert ebenfalls nicht besonders gut. Mit welchen Regeln soll der Nachwuchs also groß werden? Experten plädieren für einen neuen Weg.
Das ist vermutlich die entlastendste Nachricht, die Eltern je gehört haben: „Im Grunde hat Erziehung keinen Zweck. Das Thema ist total überbewertet“, erklärt der dänische Familienberater Jesper Juul. Mehr noch: „Bis Kinder drei Jahre alt sind, brauchen sie sowieso keine Erziehung, sondern nur liebevolle Begleitung.“ Sagt Juul.
Ein prima Vorsatz – bis zu dem Moment, in dem ein tobender Zweijähriger mir nichts, dir nichts ein ganzes Lokal aufmischt. Jetzt nicht eingreifen? Unmöglich! Auch in anderen Situationen fällt Nichtstun ziemlich schwer: Dann zum Beispiel, wenn man endlich, endlich mal fünf Minuten Ruhe hat, um die Zeitung zu lesen. Aber leider zupft einem das Töchterlein penetrant am Ärmel: „Will spielen.“ Von bemalten Kinderzimmerwänden, üblen Geschwisterzwisten, handfesten Spielplatzraufereien und tagelangen Gemüsebrei-Streiks ganz zu schweigen.
Was also bedeutet Erziehung heute? Wann beginnen Eltern damit? Und wann hören sie tunlichst damit auf? Diese Fragen lassen sich offenbar so schlecht beantworten wie nie zuvor: „Es gibt keinen kulturellen oder sachlich begründeten Konsens mehr, auf den Mütter und Väter zurückgreifen können “, sagt Juul.
Neues Eltern-Kind-Verhältnis
Ein Trend folgt auf den anderen: Nach der streng autoritären Erziehung unserer Großeltern folgte das ultraliberale Laissez-faire der 68er-Generation. Und nun?” In den vergangenen 15 Jahren wurde die Erziehungsdebatte dermaßen vom Setzen der Grenzen dominiert, dass man den Eindruck gewinnen könnte, dies sei der Dreh- und Angelpunkt im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern“, erklärt Juul. Und das ist es für ihn nicht: „Die scheinbare Notwendigkeit, Kindern Grenzen zu setzen, hat inzwischen einen nahezu religiösen Status erreicht“.
Keine Grenzen, keine Maßregelung, keinen antiautoritären Habitus: Was ist Erziehung dann? „Nichts anderes als Beziehung“, sagt die Rosenheimer Erziehungswissenschaftlerin Dr. Christine Kaniak-Urban. „Beziehung schaffe ich nur, wenn sich das Kind verstanden fühlt.“ Wenn das Kind spürt, dass es angenommen wird, wie es ist, „dann können Eltern sich jede Menge Fehler erlauben“.
Manchmal könnte man glatt glauben, das Kind sei völlig aus der Art geschlagen. Die ganze Familie: supersportlich. Der Sohnemann dagegen: ein Stubenhocker erster Ordnung. Mit solchen Fällen hat Christine Kaniak-Urban, Schulpsychologin und Kinderpsychotherapeutin aus Rosenheim, ständig zu tun.
Die Expertin widmete ihre Doktorarbeit den verschiedenen Charakteren, die Kinder entwickeln können. Und sie weiß: „In Familien, in denen unterschiedliche Typen aufeinanderprallen, kann es zu gravierenden Missverständnissen kommen.“
In der Lebenswelt einer ordentlichen, supersensiblen Mutter sorgt die überschäumende Abenteuerlust einer lebhaften Tochter nicht nur für Befremden. Sie erzeugt gelegentlich auch Angst. Und das, davon ist Kaniak-Urban überzeugt, „macht viele Eltern blind für die Fähigkeiten ihres Kindes“. Wie schade! Wenn Väter und Mütter dagegen wissen, wie ihr Kind tickt, können sie es typgerecht fördern und seine seelischen Nöte erkennen – auch wenn sie das Verhalten ihres Kleinen manchmal reichlich seltsam finden.
Vier Kindertypen arbeitete Psychologin Kaniak-Urban heraus. In Reinform kommen sie übrigens selten vor. Die meisten Kinder vereinen Merkmale von zwei oder mehr Typen in sich, in der Regel ist aber einer dominant.
Der Abenteurer
Ihr Kind ist ein richtiger kleiner Racker? Mit Energie und Tatendrang für drei? Dann entspricht es diesem Typen.
Der Charakter:
Kein Baum, den er nicht erklimmt – kleine Abenteurer mögen es, sich und ihren Körper zu spüren und ständig neue Erfahrungen zu machen. Allerdings reagieren sie oft impulsiv: stampfen stocksauer aus dem Zimmer, brüllen und wälzen sich am Boden. Im Kindergarten kann das ganz schön für Ärger sorgen.
Das können sie gut:
Der Abenteurer ist motorisch sehr geschickt, er liebt Sport und Tiere. Außerdem haben diese Kinder „einen unglaublichen Schatz an Kenntnissen über praktische Zusammenhänge“, so Psychologin Kaniak-Urban.
Das brauchen sie:
Die kleinen Energiebündel sehnen sich danach, ihre Gefühle von Wut in den Griff zu bekommen. Dabei können ihnen Eltern helfen, indem sie ihnen zeigen, dass es okay ist, so zu fühlen. Und: Mini-Abenteurer brauchen viel Zeit und Platz zum Toben.
Die Clevere
Wieso, weshalb, warum? Dieser wissbegierige Kindertyp will alles ganz genau lernen.
Der Charakter:
Das Kleine will alles ganz genau wissen, kann Eltern Löcher in den Bauch fragen. Große Kuschler sind die Schlaukopfkinder aber nicht. Im Gegenteil: Sie gelten oftmals als ein wenig distanziert. In schwierigen Situationen neigen sie dazu, auf cool zu schalten und Probleme zu verdrängen. Gelegentlich wirken sie besserwisserisch. Das macht sie bei anderen manchmal etwas unbeliebt.
Das können sie gut:
Sie lieben es, zu lernen. Neues eignen sie sich schnell an. Sie sind meist früh selbstständig und kommen oft gut in der Schule mit!
Das brauchen sie:
Eltern sollten sich vergegenwärtigen, dass ein Kind, das sich zurückzieht, „nicht arrogant oder gar gefühlskalt ist, sondern ein Kind in Not“, so Kaniak-Urban. Das Kleine dazu zu drängen, sich zu offenbaren, hält Expertin Kaniak-Urban aber für grundfalsch: „Warten Sie geduldig ab, und signalisieren Sie Ihre Bereitschaft, zuzuhören.“ Kleine, coole Schlauberger profitieren auch davon, wenn Eltern ihnen Gefühle aktiv vorleben. Davon können sie nämlich lernen.
Das Seelchen
Wenn Ihr Kind diesem Typen entspricht, braucht es viel Zuwendung – es ist sehr sensibel.
Der Charakter:
Es ist sensibel, bekommt auch die leisen Töne in Beziehungen mit. „Seelchen-Kinder ziehen keine Grenze zwischen ich und du“, beschreibt es Expertin Kaniak-Urban. Sie brauchen nahe Beziehungen, sind bereit, viel in ihre Freundschaften zu investieren. Und sie möchten positive Rückmeldung, dass sie geschätzt werden und wertvoll sind. Unter Zoff im Kindergarten können sie entsetzlich leiden. Sie sind die Träumer unter den Kindern. Manchmal wirken sie deshalb gehemmt und schüchtern.
Das können sie gut:
Seelchen-Kinder besitzen oft eine blühende Phantasie und viel Intuition. Sie sind häufig sehr kreativ, können wundervoll malen und sich gewandt und originell ausdrücken. Bei Gleichaltrigen sind sie sehr beliebt.
Das brauchen sie:
Kuscheln, Nähe, positive Bestätigung. Das macht die kleinen Seelchen glücklich. Aber Vorsicht: Weil sie so empfindlich sind, werden sie von Eltern und Geschwistern oftmals besonders schonend behandelt. Das kann sie daran hindern, selbstständig zu werden.
Der Pflichtbewusste
Diese Kinder übernehmen sehr früh Verantwortung. Sie sind selbstständig und pflichtbewusst.
Der Charakter:
Er liebt es, zu helfen – aber dafür will er auch kräftig gelobt werden. „Bei diesen Kindern steht das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung im Vordergrund“, so Kaniak-Urban. Ihnen geht es darum, als nützlich betrachtet zu werden. Sie möchten Normen und Anforderungen erfüllen, wie Erwachsene es sich wünschen.
Das können sie gut:
Pflichtbewusste Kinder sind sehr ordentlich und praktisch veranlagt. Sie sind sorgfältig und selbstständig: richten ihr Kindergartentäschchen schon am Abend vorher, erledigen ihre Aufgaben zuverlässig. Weil sie so strukturiert sind, haben sie in der Schule meist keine Probleme.
Das brauchen sie:
Rituale und immer gleiche Abläufe stabilisieren die kleinen Pflichtbewussten besonders dann, wenn sie sich gerade unter Druck fühlen. Weil sie darauf gepolt sind, die Wünsche anderer zu erfüllen, sollten Eltern darauf achten, dass das Kleine nicht zu kurz kommt. Meist bürden sich Pflichtbewusste selbst viele Aufgaben auf – Erwachsene können sie da vorsichtig bremsen.
Quelle
Baby und Familie / GesundheitPro 2008
Autorin
Anne-Bärbel Köhle, ehemals Chefredakteurin beim Familienmagazin „Baby und Familie“, ist Mutter von zwei Söhnen (16 und 19 Jahre).
Foto von © Andrea Pfau
Erstellt am 28. Juli 2008, zuletzt geändert am 15. April 2010