Grenzerfahrungen: Psychosoziale Beratung bei unerfülltem Kinderwunsch

PD Dr. Tewes Wischmann

 Wischmann

Die In-vitro-Fertilisation (IVF) beim Menschen ist inzwischen über ein Dritteljahrhundert alt: 1978 wurde die Engländerin Louise Brown geboren. Inzwischen kamen etwa 5.000.000 Kinder mittels assistierter Reproduktion ( = fortpflanzungsmedizinische Maßnahmen) auf die Welt. Es geht aber weiterhin etwa die Hälfte der Paare mit Kinderwunsch ohne ein leibliches Kind aus dieser Behandlung hervor. Die psychologischen Begleitumstände ungewollter Kinderlosigkeit wurden vor einigen Jahren in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsverbund systematisch untersucht. Ihre Bedeutung für die psychosomatische Betreuung von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch wird in diesem Beitrag dargestellt.

Kann Kinderkriegen ein Problem sein?

„Kinderkriegen ist keine Kunst” – mit diesem Vorurteil haben sich Paare mit unerfülltem Kinderwunsch noch häufig auseinanderzusetzen. Die Situation ungewollt kinderloser Paare gerät in den letzten Jahren aufgrund neuerer und teilweise auch umstrittener medizinischer Behandlungsmethoden sowie stärkerer Medienpräsenz zunehmend in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Zwar bleiben weniger als 5% aller Paare dauerhaft ungewollt kinderlos, aber fast jede dritte bis vierte Frau mit Kinderwunsch wartet länger als ein Jahr auf eine Schwangerschaft. Wann spricht man von ungewollter Kinderlosigkeit? Die offizielle Definition der WHO besagt, dass diese vorliegt, wenn es trotz regelmäßigen Geschlechtsverkehrs ohne Verhütung innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr nicht zu einer Schwangerschaft gekommen ist.

Obwohl die Ursachen der Fertilitätsstörung zu 40-50% beim Mann liegen, begaben sich früher meistens zuerst die Frauen in eine Kinderwunsch-Behandlung: Von den Patientinnen, die sich Ende der 90er Jahre in der Kinderwunsch-Sprechstunde der Universitätsfrauenklinik Heidelberg vorstellten, waren 80% bereits in Behandlung wegen ihres Kinderwunsches gewesen (meist beim niedergelassenen Frauenarzt), von ihren Partnern dagegen nur 56%. Durchschnittlich waren die Frauen bereits vier Jahre behandelt worden, ihre Partner durchschnittlich ein Jahr weniger (Wischmann 1998).

Kinderlosigkeit: gewünscht und unerwünscht

Gibt es eine Zunahme ungewollter Kinderlosigkeit? Dazu gibt es unterschiedliche Annahmen: eine These ist, dass durch die rasante Entwicklung der Reproduktionsmedizin sich vermehrt Paare mit Kinderwunsch in medizinische Behandlung begeben, die vor einigen Jahren statistisch noch nicht erfasst wurden. In den westlichen Ländern wird inzwischen die Realisierung des Kinderwunsches immer häufiger für ein späteres Lebensalter geplant: 1977 waren in Deutschland Frauen bei der Geburt des ersten Kindes durchschnittlich 25 Jahre alt, ein Vierteljahrhundert später betrug das Durchschnittsalter bereits 29 Jahre, mit weiter steigender Tendenz. Die Fruchtbarkeit nimmt allerdings mit dem Alter der Frau ab: Für Frauen zwischen 19 und 25 Jahren liegt die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft pro Zyklus bei ca. 30%, zwischen 25 und 33 Jahren dagegen bei ca. 18%. Auch die zunehmende Verbreitung sexuell übertragbarer Infektionskrankheiten sowie vermehrte Übergewichtigkeit in den letzten Jahrzehnten gilt als wichtiger ursächlicher Faktor bei Fruchtbarkeitsstörungen. Als weitere Ursache für die Zunahme ungewollter Kinderlosigkeit wird von Einigen die vermehrte Belastung von Frau und Mann durch Umweltschadstoffe gesehen: Menschen, die in Berufen arbeiten, welche mit erhöhter Schadstoffbelastung einhergehen (wie z. B. Zahnarzthelferin, Schweißer) müssen damit rechnen, länger auf eine Schwangerschaft warten zu müssen.

Kann ungewollte Kinderlosigkeit psychisch bedingt sein?

Inwieweit eine Fruchtbarkeitsstörung ausschließlich psychisch bedingt sein kann, ist inzwischen eindeutig geklärt. Erwiesen ist, dass starker psychischer Stress (z.B. berufs- oder partnerschaftsbedingt) sowohl bei der Frau als auch beim Mann zu deutlichen Störungen des fruchtbarkeitsbezogenen Verhaltens führen kann, z. B. in Form sexueller Störungen oder vermehrter Einnahme von Genussgiften.

Die frühe psychoanalytisch-psychosomatische Forschung betrachtete das Nicht-Schwanger-Werden der Frau als Ausdruck ihrer unbewussten Abwehr. Es wurde angenommen, insbesondere die „idiopathisch sterile“ Frau (s. u.) wehre sich unbewusst gegen ein Kind, häufig aufgrund ihrer Erfahrungen mit der eigenen Mutter. Diese Betrachtungsweise, die auch heutzutage noch bei einigen Autorinnen und Autoren vorherrscht, ist unzureichend und in dieser Pauschalität falsch.

Von psychisch (mit-)bedingter Fertilitätsstörung im engeren Sinne (s. Kentenich et al., 2013) kann nur dann gesprochen werden, wenn ein Paar trotz Kinderwunsches und Aufklärung durch den Arzt weiter fertilitätsschädigendes Verhalten praktiziert (z. B. Essstörung, Hochleistungssport, Genussmittel- und Medikamentenmissbrauch) bzw. die Konzeptionschancen nicht nutzt (eine nicht organisch bedingte sexuelle Funktionsstörung bzw. kein Geschlechtsverkehr an den fruchtbaren Tagen). Letztgenanntes ist nicht selten, bis zu 10% der Paare haben trotz Kinderwunsch keinen Sexualverkehr zum Zeitpunkt des Eisprungs an den „fruchtbaren Tagen” bzw. wissen nicht um das Konzeptionsoptimum (was bei der medizinischen Diagnostik gelegentlich nicht genügend berücksichtigt wird). Psychische Faktoren liegen häufig auch dann vor, wenn ein Paar eine medizinisch indizierte Infertilitätsdiagnostik bzw. -therapie bewusst bejaht, aber nicht beginnt.

In dem Zusammenhang ist auch folgender von vielen reproduktionsmedizinischen Einrichtungen übereinstimmend mitgeteilter Befund zu sehen: ein Drittel aller Schwangerschaften entsteht unabhängig von einer reproduktionsmedizinischen Behandlung, d. h. während der diagnostischen Phase bzw. in der Wartezeit. Erklärt wird dieses gelegentlich damit, dass viele Paare beim Behandlungsbeginn die Verantwortung für die Erfüllung des Kinderwunsches an die behandelnden Ärzte der Einrichtung abgeben können, was zu einer Entlastung des Paares im Sinne einer Stressminderung und damit zu einer Verbesserung der Konzeptionschancen (z. B. über veränderte Sexualität) führen würde. Wahrscheinlicher aber ist der Faktor Zeit dafür verantwortlich zu machen: Von den Paaren, die nach einem Jahr Kinderwunsch noch nicht schwanger geworden sind, werden innerhalb weiterer drei Jahre noch etwa die Hälfte spontan schwanger.

Die Häufigkeit einer medizinisch ungeklärten Fertilitätsstörung (auch funktionelle oder idiopathische Sterilität genannt), liegt – bei entsprechend genauer medizinischer Diagnostik – bei ca. 10%. Idiopathische Sterilität ist als Ausschlussdiagnose zu verstehen und daher nicht gleichzusetzen mit psychogener Sterilität. Da auch bei eindeutiger organischer Verursachung psychische Faktoren eine Rolle spielen können, ist eine Trennung in eine organisch bedingte und eine psychisch bedingte Fruchtbarkeitsstörung nicht möglich und auch nicht sinnvoll (Wischmann 2012).

Nach dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand kann festgestellt werden, dass Paare mit unerfülltem Kinderwunsch aus psychologischer Sicht weitgehend unauffällig und normal sind, so wie Paare ohne Fruchtbarkeitsstörung auch. Dies gilt auch für Paare mit idiopathischer Sterilität, für langfristig ungewollt kinderlos gebliebene Paare und für (Einlings-)Kinder nach reproduktionsmedizinischen Maßnahmen sowie deren Eltern (mit der Ausnahme von Familien mit höhergradigen Mehrlingen). Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studien hierzu sind in Kentenich et al. (2013) zusammengefasst.

Eigendynamik der Reproduktionsmedizin: „Nur noch ein Versuch!”

Die Planbarkeit gewollter Kinderlosigkeit sowie die Entwicklung der reproduktionsmedizinischen Therapiemöglichkeiten in den letzten Jahren können zu der Annahme verführen, eine gewollte Schwangerschaft sei jederzeit herstellbar. Übersehen wird dabei, dass auf die erste Schwangerschaft in der Regel gewartet werden muss und diese nicht selten mit einer Fehlgeburt endet. Vor allem aber werden die Erfolge der assistierten Reproduktion überschätzt, zumindest von vielen Paaren mit Kinderwunsch. Die Rate der Lebendgeburten (baby-take-home-rate) liegt bei der IVF immer noch bei ca. 15% pro Behandlungsversuch. Übersehen wird gelegentlich, dass sich zwar mit der Zahl der Versuche die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft erhöht, aber eben nicht addiert. So muss davon ausgegangen werden, dass nach drei Behandlungszyklen assistierter Reproduktion im Durchschnitt ca. die Hälfte aller Paare ohne Kind bleibt.

Der reproduktionsmedizinische technische Fortschritt führt nicht selten zu einer hoch motivierenden „Machbarkeits”-Fantasie auf Seiten der ärztlichen Behandler: bei der Zeugung eines Kindes möglicherweise entscheidend mitgeholfen zu haben, erhöht das Selbstwertgefühl in beträchtlichen Maße. Bei einer sich über mehrere Jahre erstreckenden Behandlung eines „einem ans Herz gewachsenen” Paares ohne Erfolg kann das Pendel ins andere Extrem ausschlagen: Frustration kann die Folge sein, ähnlich wie bei der Behandlung terminal erkrankter Patienten. Trifft die „Machbarkeits”-Fantasie auf ein Kinderwunsch-Paar mit hohem Leidensdruck, das womöglich seine Lebensplanung inzwischen fast völlig auf die Erfüllung des Kinderwunsches eingestellt hat, kann dieses im ungünstigsten Fall zu einer unvorteilhaften Allianz zwischen Paar und Behandler führen: „der nächste Versuch wird klappen und wenn nicht der, dann sicher der übernächste”. Alle Beteiligten kennen die Zahlen der Erfolgsraten, aber aus der Wahrscheinlichkeits- wird eine Möglichkeitsstatistik. Ähnliche Mechanismen liegen eben auch der Entstehung einer Spielsucht zugrunde, wie jeder jahrelange Lotto- oder Roulettespieler bestätigen kann. Während Ärztinnen und Ärzte in der Behandlung schwer krebskranker Menschen meist auch bezüglich der medizinischen Grenzen geschult werden (Stichwort „Psychoonkologie“), fehlt dieses in der Reproduktionsmedizin noch völlig. Von daher wäre eine Schulung in „Psychoreproduktionsmedizin“ sinnvoll und dringend notwendig.

Aspekte der Kinderwunschmotivation

Der Kinderwunsch ist immer vielfältig bestimmt: es können selbstbezogene Überlegungen im Vordergrund stehen (wie erweiterte Körpererfahrung, Lebensaufgabe, Überwindung von Einsamkeit, Wiederbelebung der eigenen Kindheit), die Überlegungen können partnerbezogen sein (z. B. der Frau die gewünschte Aufgabe geben), paarbezogen (z. B. Stabilisierung der Partnerschaft, Füllen von partnerschaftlichen Defiziten), normativ („ein Kind gehört zu einer richtigen Familie”) und auf die soziale Umwelt bezogen (die Eltern wünschen sich ein Enkelkind). Die Motive, die sich um den Kinderwunsch zentrieren, haben auch einen funktionalen Charakter, das heißt, dass mit einem fantasierten Kind auch die Befriedigung eigener Bedürfnisse einhergeht. Unbewusste Motive prägen den Kinderwunsch in hohem Maße, was bedeutet, dass er letztlich nicht in all seinen Facetten geklärt werden kann. Zusätzlich ist der Kinderwunsch natürlich auch gesellschaftlich determiniert, er wird z. B. durch die soziale Schicht und die religiöse Orientierung des Paares beeinflusst.

Der Wunsch nach einem Kind ist meistens ambivalent: Neben den positiven Vorstellungen gegenüber Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft gibt es auch fast immer Ängste zu den kaum einschätzbaren Veränderungen, die damit verknüpft sind. Das betrifft die eigene Rolle (als Schwangere, Gebärende, als Mutter oder Vater) wie auch die Qualität der Paarbeziehung, die sich durch ein Kind in jedem Fall ändert.

Aus dem hier Angeführten dürfte deutlich geworden sein, dass eine Unterscheidung in einen „gesunden” vs. „fixierten” oder „richtigen” vs. „falschen” Kinderwunsch ausgesprochen heikel ist (Wischmann 2012). In der Beratung ungewollt kinderloser Paare spielt diese Tatsache eine wichtige Rolle, da viele Paare mit Befürchtungen in Bezug auf die „Ernsthaftigkeit” ihres Kinderwunsches die Psychologen aufsuchen. Für eine erfolgreiche Bewältigung der Fertilitätskrise erscheint allerdings wichtig, sich die Ambivalenz des Kinderwunsches zugestehen zu können.

Das Beratungskonzept der „Heidelberger Kinderwunsch-Sprechstunde”

Alle Paare, die sich in die Kinderwunsch-Sprechstunde der Universitätsfrauenklinik Heidelberg wegen bisher unerfüllten Kinderwunsches in Behandlung begeben, haben das Angebot, zwei Beratungsgespräche als Bestandteil der integrativen Kinderwunschbehandlung am Institut für Medizinische Psychologie der Psychosomatischen Universitätsklinik wahrzunehmen.

Ziel der Beratung ist es nicht, den Kinderwunsch in Frage zu stellen, sondern das Paar vom inneren bzw. äußeren Druck, unter den es sich gesetzt sieht und der häufig zu massiver Verunsicherung führt, zu entlasten. Ein weiteres Ziel der Beratung ist es, das Paar in den Entscheidungsprozessen bei den verschiedenen medizinischen Behandlungsschritten zu unterstützen. Auch der Umgang mit der ungewollten Kinderlosigkeit, die das Paar häufig als eigenes Versagen, als scham- und schuldbesetzt erlebt, wird in den Gesprächen reflektiert und konstruktiv umgestaltet.

Die Hauptpfeiler der Gesprächsführung sind: Transparenz (Ablauf, Inhalte und Ziele der Beratung werden dem Paar erläutert und begründet), Paarzentrierung (der Kinderwunsch wie auch der Umgang mit der Kinderlosigkeit gehen beide Partner an), Klärung (welche Motive fließen bei beiden Partnern in den Kinderwunsch mit ein?), Entlastung (fast jedes Paar empfindet die Sexualität während der Kinderwunschbehandlung als beeinträchtigt) und Ressourcenaktivierung (die Gestaltungsmöglichkeiten des Paares in der jetzigen Situation der Kinderlosigkeit werden gestärkt). Eingehend werden die thematischen Schwerpunkte in Stammer et al. (2004) und Wischmann (2012) dargestellt.

Ergebnisse aus den Beratungs- und Therapiegesprächen

Zwischen 1994 und 2000 wurde als Teil eines bundesweiten Forschungsverbundes die Studie „Heidelberger Kinderwunsch-Sprechstunde“[1] durchgeführt. In dieser Studie wurden ca. 1000 Paare mit Kinderwunsch psychologisch untersucht. Ein Teil dieser Paare nahm die psychologische Beratung bzw. eine Paartherapie wahr.

Wir konnten bestätigen, dass sich die untersuchten Frauen etwas depressiver und ängstlicher gegenüber den Normwerten der Fragebögen zeigten. Höhere Ängstlichkeit oder Depressivität der Frau machte in unserer Studie aber den Eintritt einer Schwangerschaft nicht unwahrscheinlicher. Die Lebenszufriedenheit und die Partnerschaft wurden dagegen deutlich positiver als durchschnittlich eingeschätzt. Wir interpretieren dieses so, dass viele Paare die nicht nur zeitlich, sondern auch emotional enorm aufwendige Kinderwunschbehandlung beginnen, welche eher wenige Konflikte in der Partnerschaft oder in anderen Lebensbereichen aufweisen. Der Vergleich der idiopathisch sterilen Paare mit Paaren mit organischen Diagnosen ergab nur unbedeutende psychologische Unterschiede.

Welche Paare nahmen die Beratung wahr? Bei den 175 Paaren der Beratungsgruppe zeigte sich, dass sich sowohl die Frauen als auch die Männer belasteter durch den unerfüllten Kinderwunsch darstellten, beide unzufriedener mit der Sexualität waren, die Frauen sich depressiver und unzufriedener mit der eigenen Person wahrnahmen, beide Partner mehr frühere Belastungen angaben als die Paare, die nicht zu uns in Beratung gekommen waren. Dieses deutet auf eine Untergruppe von Paaren hin, welche gehäuft frühere und aktuelle Belastungen erlebt hat und deshalb vermehrt einer psychologischen Beratung zur Bewältigung der Fertilitätskrise bedarf. Wir gehen davon aus, dass durch die Fruchtbarkeitsstörung frühere seelische Kränkungen bei der Frau oder beim Mann wieder hervorgerufen werden können. Häufig mussten schon zu viele Krisen im Leben durchstanden werden („Wieder muss ich mir was erkämpfen“), oder der unerfüllte Kinderwunsch stellt die erste existenzielle Krise dar und das richtige „Werkzeug“ zur Bewältigung fehlt noch.

Was waren nun die Effekte der Beratung? Die Belastung durch den unerfüllten Kinderwunsch und auch die Stärke des Kinderwunsches war bei den beratenen Paaren zurückgegangen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe von Paaren, welche die Beratung nicht wahrgenommen hatten. In der Rückschau bewerteten über 40% der Paare die Beratung insgesamt als eindeutig positiv, während 15,5% der Paare eine nur negative Einschätzung über die Beratung abgaben (Wischmann 1998). Die Restgruppe meldete sowohl positive als auch kritische Anmerkungen zurück. Die Paare, welche nicht von der Beratung profitierten, waren größtenteils zur Beratung überwiesen worden und hatten selber wenig Beratungswunsch. Inhaltlich wurden vor allem das Sprechen mit einem „neutralen Dritten“ als entlastend erlebt, sowie die Tatsache, als Paar über die Situation der ungewollten Kinderlosigkeit wieder mehr ins Gespräch gekommen zu sein.

Eine Erhöhung der Schwangerschaftsrate durch die psychologische Beratung bzw. die Psychotherapie war nicht erwartet worden. Die Schwangerschaftsrate betrug bei den Paaren mit und ohne Beratung jeweils ca. 25%. Ein Drittel dieser Schwangerschaften trat dabei spontan auf, d. h. unabhängig von medizinischer Therapie. Häufig hört man in der Beratung von Kinderwunschpaaren, dass es bei Paaren, die sich von einem leiblichen Kind innerlich verabschiedet und ein Kind adoptiert oder in Pflege genommen haben, dann doch zu einer spontanen Schwangerschaft kommt. Systematische Untersuchungen können den Zusammenhang zwischen Adoption und Schwangerschaft jedoch nicht belegen. Größere Fallzahlen betrachtet, liegt die Schwangerschaftsrate bei Adoptiveltern sicher nicht über der anderer Paare nach Fertilitätsbehandlung (Wischmann 2012).

Weiterführende Hilfsangebote für Betroffene und Berater

Aus den vom BMBF geförderten Forschungsprojekten gingen zum einen Publikationen hervor, die sich direkt an interessierte Paare richteten: Ein Medienpaket mit Informationsbroschüren und Videos – teilweise auch in türkischer Sprache – zu medizinischen und psychologischen Aspekten des Kinderwunsches (BZgA 1999/2005) sowie ein Patientenratgeber zu psychologischen Hilfen bei unerfülltem Kinderwunsch (Wischmann & Stammer 2010). Zum anderen wurde ein „Beratungsmanual“ erstellt, in dem verschiedene psychosoziale Beratungskonzepte für professionelle Behandler von Fertilitätsstörungen in ihren konkreten Abläufen praxisnah dargestellt werden (Stammer et al., 2004), einschließlich eines Manuals für Frauenärzte. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Forschungsprojekte sind u. a. in Kentenich et al. (2013) veröffentlicht.

Im Juli 2000 wurde das „Beratungsnetzwerk Kinderwunsch Deutschland“ (BKiD) gegründet (Kleinschmidt et al., 2008). Das Beratungsnetzwerk versteht sich als Zusammenschluss der psychosozialen Berater und Beraterinnen in Deutschland, welche langjährige Erfahrungen in der psychologischen und psychosozialen Beratung bei unerfülltem Kinderwunsch und ungewollter Kinderlosigkeit haben. Das BKiD hat das Ziel, bundesweit das Beratungsangebot zu verbessern, indem es auch Qualifikationskriterien für Berater/innen erstellte. Informationen zum BKiD finden sich im Internet unter www.bkid.de.

Weitere Hinweise (z. B. auf Internetforen) und Literaturempfehlungen bei ungewollter Kinderlosigkeit finden sich im Internet hier: www.kinderwunschberatung.uni-hd.de.

Zusammenfassung und Ausblick

Ungewollt kinderlose Paare zeigen durchschnittlich keine Häufung an psychischen Störungen im Vergleich zu Paaren ohne eingeschränkte Fruchtbarkeit. Dieses gilt auch für Paare mit medizinisch ungeklärter Fertilitätsstörung. Die wenigen psychologischen Auffälligkeiten wie die durchschnittlich etwas erhöhte Depressivität und Ängstlichkeit der Frauen sind überwiegend Folge der Fertilitätsstörung und nicht deren Ursache. Ein Teil der Paare mit unerfülltem Kinderwunsch bedarf einer psychosozialen Betreuung, da sie aufgrund von früheren oder aktuellen Belastungen nur schwer in der Lage sind, diese aktuelle Krisensituation aus eigenen Kräften zu bewältigen. Die psychosoziale Beratung bei unerfülltem Kinderwunsch sollte fakultativ sein und von den Paaren zu jedem Zeitpunkt der medizinischen Behandlung in Anspruch genommen werden können. Als sinnvoll hat sich ein abgestuftes Angebot erwiesen, da nur ca. 15-20% der Paare eine intensivere psychologische Betreuung brauchen. Ziel einer psychologischen Betreuung bei unerfülltem Kinderwunsch sollte die erfolgreiche Verarbeitung dieser existentiellen Lebenskrise sein einschließlich der sie begleitenden ambivalenten Affekte.

Welche psychologischen Auswirkungen die rasante reproduktionsmedizinische Entwicklung haben wird, lässt sich kaum vorhersehen. Die langfristigen Auswirkungen der Mikroinjektion (ICSI), bei der aktiv die schützende Eihülle – und damit eine natürliche Grenze – durchstoßen wird, sind immer noch unbekannt. Der Blick in andere Länder, insbesondere die USA, zeigt, wie weit das „Geschäft mit der Hoffnung” gehen kann: Eizellenspenderinnen und Samenspender können aus dem Katalog ausgewählt werden. Wie bei allen medizinischen Bemühungen, bei denen es um existenziell Menschliches geht – und um nichts anderes handelt es sich auch beim Kinderwunsch – ist der technische Fortschritt nicht nur ein Segen. Auch in der Reproduktionsmedizin zeigt sich die Notwendigkeit, Abbruchkriterien für ärztliche Interventionen zu definieren. Es werden hier nicht nur die betroffenen Paare mit Grenzerfahrungen konfrontiert, sondern auch ihre behandelnden Ärzte.

[1] Diese Studie wurde gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung innerhalb des Forschungsverbundes „Psychosomatische Diagnostik und Beratung/Therapie bei Fertilitätsstörungen”; (FKZ: 01 KY 9305 und 01 KY 9606).

Literatur

  • BZgA „Medienpaket Kinderwunsch“ (1999/2005), erhältlich bei der BZgA, 51101 Köln (online verfügbar unter www.familienplanung.de/kinderwunsch)
  • Kentenich, H., Wischmann, T., Stöbel-Richter, Y. (2013): Fertilitätsstörungen — Psychosomatisch orientierte Diagnostik und Therapie. Leitlinie und Quellentext — 1.Revision. Psychosozial Verlag, Göttingen.
  • Kleinschmidt, D., Thorn, P., Wischmann, T. (2008): Kinderwunsch und professionelle Beratung. Das BKiD-Handbuch. Kohlhammer, Stuttgart.
  • Stammer, H., Wischmann, T., Verres, R. (2004): Paarberatung und -therapie bei unerfülltem Kinderwunsch. Hogrefe, Göttingen.
  • Wischmann, T. (1998): Heidelberger Kinderwunsch-Sprechstunde. Eine Studie zu psychosozialen Aspekten ungewollter Kinderlosigkeit. Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main.
  • Wischmann, T. (2012): Einführung Reproduktionsmedizin. Medizinische Grundlagen – Psychosomatik – Psychosoziale Aspekte. PsychoMed compact. Reinhardt UTB, München.
  • Wischmann, T., Stammer, H. (2010): Der Traum vom eigenen Kind. Psychologische Hilfen bei unerfülltem Kinderwunsch. Kohlhammer, Stuttgart.

Dieser aktualisierte Text basiert auf der Originalpublikation „Grenzerfahrungen: Wenn der Wunsch nach einem Kind nicht erfüllt wird“, der in der Zeitschrift „Report Psychologie“ (1998; 23; S. 138-144) erscheinen ist. Wir danken dem Deutschen Psychologen Verlag für die freundliche Nachdruckgenehmigung.

Autor

PD Dr. Tewes Wischmann, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut und jungianischer Psychoanalytiker

Institut für Medizinische Psychologie, Zentrum für Psychosoziale Medizin
Universitätsklinikum Heidelberg
Bergheimer Straße 20
69115 Heidelberg

Tel.: 06221-568137


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Erstellt am 16. August 2001, zuletzt geändert am 7. Juni 2013