Frühgeborene – Wissenswertes für Eltern

Dr. med. Friedrich Porz

50.000 der ca. 800.000 jährlich in Deutschland geborenen Kinder sind Frühgeborene. Dies sind Neugeborene, die vor 37 vollendeten Schwangerschaftswochen (SSW) zur Welt kommen. Rund 8.000 dieser Kinder sind sehr kleine Frühgeborene unter 30 SSW, und ca. 1.000 sind extremst kleine Frühgeborene von 24 und 25 SSW, die große Anforderungen an die Neugeborenenmedizin stellen.

Wie kommt es zu einer Frühgeburt?

Ein kleiner Teil der Frühgeburten ist durch vorbestehende gesundheitliche Probleme der Mütter wie Bluthochdruck, Diabetes, chronische Nieren- oder Herzleiden bedingt.

Weiter können während der Schwangerschaft auftretende Komplikationen zu einer Frühgeburt führen. Diese können Gebärmutterfehlbildungen, Muttermundsschwächen und Störungen der Plazenta sein oder ein im Laufe der Schwangerschaft auftretender erhöhter Bluthochdruck in Kombination mit Nieren- oder Leberfunktionsstörungen (Präekklampsie bzw. HELLP-Syndrom). Häufig ist eine Frühgeburt bedingt durch ein vorzeitiges Springen der Fruchtblase oder durch eine Infektion der Geburtswege, was zu frühzeitig einsetzenden Wehen führen kann.

Bei Zwillingsschwangerschaften ist die Frühgeburtenrate deutlich erhöht; “höhergradige” Mehrlinge wie Drillinge oder Vierlinge sind immer zu früh geboren, da die Mütter in diesen Fällen die Schwangerschaft nicht bis zu Ende austragen können.

Psychische oder psychosoziale Belastungen wie Angst, Partnerschaftskonflikte, psychische Erkrankungen, Belastungen am Arbeitsplatz, drohende Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme u.Ä. können ebenfalls vorzeitige Wehen auslösen und damit zu einer Frühgeburt führen.

Bei etwa der Hälfte der Frühgeburten sind keine eindeutigen Ursachen erkennbar.

Kann man vorbeugend etwas tun?

Die beste Vorbeugung ist die gute ärztliche Begleitung während der Schwangerschaft durch regelmäßige Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen und eine gesundheitsfördernde Lebensführung. Bei einer hohen psychosozialen Belastung kann eine kompetente Begleitung, die zu einer Reduktion der belastenden Lebensumstände führt, zur Senkung der Frühgeburtenrate beitragen.

Eine erfolgreiche medizinische Strategie zur Senkung der Frühgeburtenrate ist das von Prof. Saling initiierte Diagnostikprogramm der Scheiden-pH-Messung zur Früherkennung von Infektionen der Geburtswege.

Falls Frühgeburtsbestrebungen wie vorzeitige Wehen erkennbar sind oder aus anderen Ursachen mit einer Frühgeburt zu rechnen ist, kann mit einem ein bis zwei Tage vor der erwarteten Geburt an die Mutter verabreichten Cortisonpräparat die kindliche Lunge “gereift” werden.

Vorzeitige Wehen können häufig mit wehenhemmenden Medikamenten (Tokolyse) und Bettruhe unterdrückt werden. Man gewinnt Zeit für die Lungenreifebehandlung und erreicht oft eine Verlängerung der Schwangerschaft mit einer dann besseren Prognose für das Kind: So kann durch eine Verlängerung der Schwangerschaft von 24 auf 26 SSW die Überlebensrate des Kindes um 25% verbessert werden!

Wie sind die Überlebenschancen für Frühgeborene?

Durch die immensen Fortschritte bei der Schwangerenbetreuung, der Geburtshilfe und der Neugeborenenintensivpflege haben sich in den letzten Jahren die Überlebenschancen besonders der kleinen Frühgeborenen drastisch verbessert. Heute überleben vereinzelt extrem kleine Frühgeborene von 23 vollendeten Schwangerschaftswochen. Ab 24 vollendeten Schwangerschaftswochen haben die Kinder reelle Überlebenschancen, die mit zunehmender Reife bzw. zunehmendem Gewicht rasch ansteigen.

Nach den Daten der bayerischen Perinatalerhebung wurden in den letzten Jahren folgende Überlebensraten erreicht: Aufgeschlüsselt nach dem Reifealter überlebten 70-75% der Frühgeborenen von 24-25 vollendeten SSW, 85-90% der Frühgeborenen von 26-27 SSW und über 95% der Frühgeborenen von 28-29 SSW. Aufgeschlüsselt nach dem Geburtsgewicht überlebten 75-80% der Frühgeborenen von 500-749 g, 85-90% der Frühgeborenen von 750-999 und über 95% der Frühgeborenen von 1000-1500 g.

Auch wenn die Überlebensraten sich in den letzten Jahren erfreulich positiv entwickelt haben, stellt sich weiter die ethische Frage “Wie klein ist zu klein?” . Die Fachgesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin hat dazu 1999 eine offiziellen Empfehlung veröffentlicht: Ab 24 vollendeten SSW sollten immer lebenserhaltende Maßnahmen eingesetzt werden, falls keine lebensbedrohlichen Gesundheitsstörungen vorliegen. In der Zeitspanne von 22-23 vollendeten SSW sollte nach dem Einzelfall entschieden werden und nur bei deutlichen Lebenszeichen mit intensivmedizinischen Maßnahmen begonnen werden. Immerhin haben laut einer Umfrage an 21 deutschen Perinatalzentren zwischen 1997 und 1999 25% der Frühgeborenen von 23 vollendeten SSW überlebt – allerdings mit einem sehr hohen Risiko bleibender Schäden.

Wie ist die Langzeitprognose der Frühgeborenen?

Neben der Frage, ob das Kind überlebt, stellt sich für die Eltern die Frage, wie die Entwicklung ihres Kindes verlaufen wird. Das Entwicklungsrisiko ist für das einzelne Frühgeborene sehr schwer vorherzusagen, da die Prognose von vielen Faktoren abhängt. Generell ist die Prognose um so besser, je reifer das Kind ist. Jedoch kann auch ein Frühgeborenes von 34 SSW später eine Behinderung aufweisen; sehr kleine Frühgeborene können sich in vielen Fällen völlig normal entwickeln.

Besonders gefährdet sind Frühgeborene, bei denen im Verlauf weitere Komplikationen wie eine Hirnblutung, Hirnschädigungen, schwere Infektionen oder eine chronische Lungenerkrankung auftreten. Aber auch hier gilt, dass Vorhersagen im Einzelfall äußerst schwierig sind, da die Komplikationen von Kind zu Kind unterschiedliche Auswirkungen haben können. Jedes Frühgeborene hat seine eigene, nicht aus Statistiken vorhersehbare Geschichte. Die Qualität des Familienklimas und die Lernerfahrungen, die Eltern ihren Kindern bieten, können bei vielen Kindern anfängliche Risiken und Entwicklungsverzögerungen ausgleichen helfen.

“Große Frühgeborene” über 1500g Geburtsgewicht oder über 30 SSW haben, wenn keine weiteren Komplikationen nach der Geburt eintreten, sehr gute Chancen, sich völlig körperlich und geistig normal zu entwickeln,.

Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von 1000-1500 g oder von 28-30 SSW zeigen in 10-25%, sehr kleine Frühgeborene unter 1000 g Geburtsgewicht oder unter 28 Schwangerschaftswochen in 20-30% der Fälle behandlungsbedürftige Entwicklungsstörungen. Diese können sein: Bewegungsstörungen bis hin zur spastischen Cerebralparese, Koordinationsstörungen, Krampfanfälle, Blindheit, Taubheit sowie Störungen der geistigen Entwicklung.

Etwa ein Drittel der kleinen Frühgeborenen zeigt Verhaltensauffälligkeiten wie eine leichtere Irritierbarkeit, Aufmerksamkeitsstörungen und Probleme im Sozialverhalten wie z.B. beim Kontakt zu Gleichaltrigen.

Die Störungen der kognitiven Entwicklung und des Verhaltens können Ursache sein für Probleme in der Schule: Nach Daten der südbayerischen Entwicklungsstudie und einer holländischen Studie besuchen 20% der kleinen Frühgeborenen später eine Sonderschule, 25% besuchen nicht die altersgerechte Klasse, 15% erhalten Sonderförderung in der Regelklasse.
Wie werden Frühgeborene in der Klinik betreut?

Medizinische Behandlung

Die Geburt eines Frühgeborenen sollte nach Möglichkeit in einem “Perinatalzentrum” erfolgen, wo Geburtshelfer und Kinderärzte eng zusammenarbeiten sowie die Frauenklinik und die Kinderklinik benachbart oder in einem Hause sind. So kann der optimale Geburtszeitpunkt gemeinsam geplant werden. Das Team aus Kinderärzten und Kinderkrankenschwestern steht bereit, um das Frühgeborene sofort zu versorgen, und ein für das Kind belastender Transport entfällt.

Die Betreuung in der Kinderklinik richtet sich primär auf die Überwachung und die Unterstützung der bei den Frühgeborenen noch nicht ausgereiften Körperfunktionen. Dabei sind die Intensität und das Ausmaß der medizinischen Maßnahmen je nach Reifegrad und Zustand des Frühgeborenen sehr individuell. Bei allen Kindern stehen die Wärmezufuhr im Inkubator (Brutkasten) und die Flüssigkeitszufuhr über eine Infusion im Vordergrund. Muttermilch ist auch für das Frühgeborene die beste Nahrung. Sehr früh wird deshalb mit der Muttermilchfütterung begonnen, zunächst mit abgepumpter Milch per Magensonde, bis die Mütter dann selbst stillen können.

Bedingt durch die Unreife des Atem-/Kreislaufzentrums kommt es bei den Frühgeborenen gehäuft zu Atempausen (Apnoen) und einem Absinken der Herzfrequenz (Bradycardien), die medikamentös oder durch eine Atemhilfe behandelt werden können.

Bis etwa 35 SSW haben Frühgeborene eine noch nicht ausgereifte Lunge. Eine die Lungenbläschen stabilisierende Substanz, “Surfactant” , wird noch nicht ausreichend gebildet. Deshalb müssen besonders die Frühgeborenen unter 1000 g noch häufig beatmet werden. Bei Bedarf wird ihnen über den Beatmungsschlauch Surfactant direkt in die Lunge zugeführt. Größere Frühgeborene benötigen häufig nur eine Atemhilfe oder müssen gar nicht beatmet werden. Nur noch selten kommt es heute durch die Beatmung zur Ausbildung einer chronischen Lungenerkrankung (Bronchopulmonale Dysplasie).

Weitere Probleme können durch die noch sehr ungenügende Abwehrlage bedingte schwere Infektionen bereiten, besonders eine entzündliche schwere Darmerkrankung (Nekrotisierende Enterocolitis).

Die gefürchtetsten medizinischen Komplikation sind Blutungen in die Hirnhohlräume – bedingt durch das noch sehr unreife und empfindliche Blutgefäßsystem und Erweichungsherde des Gehirns (periventrikuläre Leukomalazie) -, die Folge von vorübergehenden Durchblutungsstörungen des Gehirns sind.

Das Ausmaß dieser Komplikationen hat entscheidenden Einfluss auf die Entwicklungsprognose.

Entwicklungsfördernde Pflege

Seit einigen Jahren wird versucht, mit dem Konzept der “individuellen entwicklungsfördernden Pflege” die “High-Tech-Medizin” mit einer menschlicheren Intensivbetreuung zu verbinden.

Pflegemaßnahmen werden sanft durchgeführt und zeitlich auf die Wachphasen des Kindes abgestimmt, Routinemaßnahmen möglichst vermieden. Lange Ruhepausen sollen eine Selbstregulation des Kindes erlauben und so den Stress reduzieren. Der Reizüberflutung der Frühgeborenen wird durch die Reduktion der Geräuschkulisse und des Lichtpegels, durch Lagerung auf Fellen oder Wasserkissen oder in einem “Nest” aus Lagerungskissen im Inkubator entgegengewirkt.

Schwestern und Physiotherapeuten fördern durch gezielte Anregungen die Atmung, die Motorik, das Saug- und Trinkverhalten, die Körperwahrnehmung, aber auch alle Sinne der Frühgeborenen.

Was können die Eltern für ihr Frühgeborenes tun?

Um den Trennungsverlust durch die Frühgeburt abzumildern, werden die Eltern möglichst früh und möglichst umfassend in die Betreuung einbezogen. Sie können in dieser psychisch sehr belasteten Situation als “frühgewordene Eltern” nur dann eine Beziehung zu ihrem Kind aufbauen, wenn sie zur Kontaktaufnahme ermutigt werden und positive Interaktionserfahrungen mit ihrem Kind erleben.

Die Eltern werden so früh wie möglich an der Pflege beteiligt und übernehmen mit zunehmender Erfahrung immer mehr Tätigkeiten. So fühlen sie sich nicht mehr so machtlos und gewinnen allmählich Kompetenz und Verantwortung für ihr Kind zurück. Mit Unterstützung der Kinderkrankenschwestern und durch geduldiges Beobachten lernen die Eltern, die Signale ihres Kindes richtig zu deuten und ihr Verhalten auf den Zustand des Kindes abzustimmen.

Eine enge Kontaktaufnahme erlaubt die “Kängurumethode” , bei der die Kinder aus dem Inkubator genommen und den Eltern für einige Zeit auf die Brust gelegt werden. Streicheln, Massieren, Ansprechen, Schaukeln und Halten des Kindes beruhigen einerseits die Kinder und fördern andererseits die Eltern-Kind-Interaktion. Auch das Stillen bietet eine Möglichkeit zum engen Körperkontakt. Die Mütter können durch das Stillen mehr für ihr Kind tun, fühlen sich ihm mehr verbunden und gewinnen ein Stück Normalität zurück.

Elterngruppen, in denen andere betroffene Eltern ihre Erfahrungen mit den neuen Eltern austauschen können, sind eine weitere Hilfe bei der Bewältigung, besonders auch nach der Entlassung aus der Klinik.

Was benötigen Frühgeborene nach der Entlassung?

Bei den vielfältigen Problemen in der ersten Phase nach der Entlassung wie Fütterungsschwierigkeiten, Schlafproblemen und Unruhephasen, bei einer eventuell notwendigen Überwachung durch einen Heimmonitor und bei der Sorge um die Entwicklung ihres Kindes benötigen die Eltern kompetente Unterstützung. Hauptansprechpartner ist hier der niedergelassene Kinderarzt, der auch die bei allen Kindern üblichen Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen durchführt. Hilfreich ist eine ambulante Nachbetreuung durch Kinderkrankenschwestern, wie sie in Augsburg durch das familienorientierte Nachsorgemodellprojekt “Bunter Kreis” angeboten wird.

Alle Frühgeborene sollten eng entwicklungsneurologisch und entwicklungspsychologisch nachuntersucht werden, um frühzeitig Hilfen – z.B. durch Krankengymnastik, Ergotherapie oder Frühförderung – einleiten zu können. Manche Kliniken bieten hierfür spezielle Sprechstunden für Frühgeborene an oder die Kinder werden an ein sozialpädiatrisches Zentrum oder eine andere Frühfördereinrichtung überwiesen.

Wichtigstes Ziel einer Beratung und Begleitung ist, dass die Eltern nach der krisenhaften Zeit der Geburt und des Klinikaufenthalts wieder ihr eigenes Gleichgewicht, ihre Zuversicht und ihre Kompetenz erlangen und dass sie eine ihnen und dem Kind angepasste Form der Eltern-Kind-Interaktion aufbauen – ungeachtet der eventuell möglichen Entwicklungsprobleme.
Literatur

Eine Literaturliste zu Frühgeborenen finden Sie hier.

Publikationen des Bundesverbandes “Das frühgeborene Kind” (Bestellung per E-Mail):

Elternbroschüren

  • Frühgeborene in den ersten Lebenswochen
  • Frühgeborene und ihre Eltern in der Klinik
  • Frühgeborene nach der Entlassung
  • Entwicklungsprognose frühgeborener Kinder
  • Finanzielle Hilfen (auf deutsch und auf türkisch)

Buch: Die Begleitung der Eltern auf der Intensivstation

Video: Eine Handvoll Leben

Weitere Informationen

Telefoninfoline des Bundesverbandes “Das frühgeborene Kind” : 01805/875877

Website

Autor

Dr. med. Friedrich Porz, Kinderarzt, Neonatologe, ist Leitender Oberarzt der 2. Kinderklinik des Klinikums Augsburg, Leiter der “Augsburger Nachsorgeforschung” im beta Institut für sozialmedizinische Forschung und 2. Vorsitzender des Bundesverbandes “Das frühgeborene Kind e.V.” .

Kontakt

Dr. Friedrich Porz
2. Kinderklinik Klinikum Augsburg
Stenglinstr. 2
86156 Augsburg

Tel.: 0821/4003382 oder 4003401

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Erstellt am 31. Januar 2002, zuletzt geändert am 18. März 2010