Pränataldiagnostik (vorgeburtliche Diagnostik)
Prof. Dr. med. Constantin v. Kaisenberg, Prof. Dr. med. Jörg Schmidtke
Die Autoren beschreiben ausführlich die Möglichkeiten, aber auch Risiken der Pränataldiagnostik für das ungeborene Kind und die Mutter. Dabei erklären sie die unterschiedlichen Untersuchungen genau und zeigen Statistiken und Ziele auf. Den Abschluss bildet der Hinweis auf Beratungsmöglichkeiten- und ansprüche.
- Was versteht man unter Pränataldiagnostik?
- Was sind die Ziele der Pränataldiagnostik?
- Was zählt alles zur Pränataldiagnostik?
- Was ist eine “invasive” Pränataldiagnostik und wann führt man sie durch?
- Kann die Pränataldiagnostik absolute Sicherheit über den Gesundheitszustand des erwarteten Kindes geben?
- Welchen Anspruch auf Information und Beratung hat die Schwangere?
Was versteht man unter Pränataldiagnostik?
Mit Pränataldiagnostik bezeichnet man alle Verfahren, mit denen eine krankhafte Störung noch vor der Geburt eines Menschen erkannt werden kann. Die wesentlichen Fragestellungen sind Chromosomenstörungen, Fehlbildungen, Probleme der Plazenta, die Kind und Mutter erkranken lassen und Frühgeburtlichkeit. Angeborene Störungen können genetisch bedingt sein oder auf äußere Einflüsse – z.B. eine Infektion, Medikamente oder Strahlen zurückzuführen sein. Zusätzlich können Erkrankungen der Mutter wie Diabetes oder Herzinsuffizienz auftreten, die den Schwangerschaftsverlauf komplizieren.
Die wichtigste Methode für die Beurteilung von Wachstum und Gestalt des Kindes und der Funktion seiner Organe ist der Ultraschall.
Untersuchungen des Erbmaterials können auf der Stufe der Chromosomen oder der Gene erfolgen. Sie setzen eine Punktion voraus (invasive Pränataldiagnostik). Daneben gibt es nicht-invasive Untersuchungen, welche eine Risikoabschätzung für Chromosomenstörungen und andere genetische Erkrankungen ermöglichen. Genetische Untersuchungen haben die Besonderheit, dass sie nicht nur der Abklärung einer sichtbaren Störung dienen, sondern dass sie prinzipiell auch krankhafte Störungen voraussagen oder ausschließen können, die sich erst im späteren Leben zeigen.
Ultraschall und invasive Eingriffe sind Aufgabe des Pränatalmediziners (Gynäkologe). Genetische Untersuchungen und Beratungen (s.u.) erfolgen in der Regel durch den Facharzt für Humangenetik oder den Arzt mit der Zusatzbezeichnung “Medizinische Genetik”, sowie durch andere speziell qualifizierte Ärzte (Gendiagnostikgesetz).
Was sind die Ziele der Pränataldiagnostik?
Die Ziele der Pränataldiagnostik sind:
- durch Früherkennung von Fehlentwicklungen eine bestmögliche Behandlung der Schwangeren und des (ungeborenen) Kindes zu ermöglichen
- den Geburtsmodus und -zeitpunkt festlegen zu können;
- Befürchtungen der Schwangeren nachzugehen und wenn möglich abzubauen;
- im Falle einer kindlichen Störung eine Entscheidungshilfe über die Fortsetzung oder den Abbruch der Schwangerschaft zu geben.
Die Pränataldiagnostik kann also zu einem Konflikt zwischen den Lebensrechten des Kindes und der Schwangeren führen. Aus der Pränataldiagnostik gewonnene Erkenntnisse über den gegenwärtigen und zukünftigen Gesundheitszustand des Kindes rechtfertigen allein nicht, dass der Arzt zu einem Schwangerschaftsabbruch rät, ihn fordert oder durchsetzt. Es sind vielmehr die gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren zu berücksichtigen. Zugleich muss abgewogen werden, ob für sie eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schweren Beeinträchtigung ihres körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands besteht, die nicht anders abgewendet werden kann. Kommt eine Schwangere nach einer solchen Abwägung zu einer Entscheidung für einen Abbruch der Schwangerschaft, so ist dies vom Arzt zu respektieren.
Eine solche Entscheidungsfindung ist oft problematisch, zumal es außerordentlich schwierig sein kann, den Schweregrad einer erkannten oder vorausgesagten Störung richtig einzuschätzen. Eine wichtige Hilfestellung bietet die Genetische Beratung, und viele Frauen haben es als große Hilfe empfunden, schon vor einer geplanten Pränataldiagnostik eine genetische Beratung aufgesucht zu haben. Das Gendiagnostikgesetz legt fest, dass eine Schwangere vor einer vorgeburtlichen genetischen Untersuchung und nach Vorliegen des Untersuchungsergebnisses genetisch zu beraten ist. einer geplanten Pränataldiagnostik eine genetische Beratung aufgesucht zu haben.
Was zählt alles zur Pränataldiagnostik?
Eine erste Antwort hierauf findet jede Schwangere im Mutterpass. Bei jeder Schwangeren müssen vom Frauenarzt möglichst frühzeitig alle Risikofaktoren für eine kindliche Entwicklungsstörung in einem Gespräch und ggf. durch Beschaffung weiterführender Unterlagen erfasst werden. Dazu zählen:
- Risiken aus der Krankheitsvorgeschichte der Schwangeren (z.B. Epilepsie, Diabetes mellitus);
- Risiken aus der Schwangerschaftsvorgeschichte (z.B. Fehlgeburten);
- Risiken aus der Familienvorgeschichte (z.B. genetisch bedingte Erkrankungen bei Angehörigen);
- Verwandtschaftsbeziehung zum Partner;
- Herkunft aus einer Bevölkerungsgruppe, in der eine genetisch bedingte Erkrankung besonders häufig ist;
- Kontakt mit/ Aufnahme von frucht- und erbschädigenden Stoffen (z.B. manche Medikamente, Chemikalien, Strahlen, Krankheitserreger);
- Einnahme oder Missbrauch von Medikamenten, Genussmitteln oder Drogen.
Zur Pränataldiagnostik zählen die für alle Ärzte verbindlichen vorgeburtlichen Vorsorgeuntersuchungen im Rahmen der Mutterschaftsrichtlinien.
Im Zusammenhang mit der vorgeburtlichen Risikoermittlung für kindliche Störungen werden der Schwangeren häufig zwischen 11 und 13+6 Schwangerschaftswochen ein “Ersttrimester-Screening” für Chromosomenstörungen angeboten. Dies besteht u.a. aus der Messung der fetalen Nackentransparenz, der Messung biochemischer plazentarer Proteine aus dem Blut der Mutter und einer anschließenden Risikoberechnung. Es handelt sich hier nicht um einen diagnostischen Test, aber bei ausreichend guter Qualität der Untersuchung können etwa 95% der Chromosomenstörungen richtig vorhergesagt werden, obgleich nur bei 5% der Frauen, nämlich denjenigen mit dem höchsten Risiko einer Chromosomenstörung, eine invasive Diagnostik durchgeführt wird. Nähere Angaben hierzu finden sich in einer Richtlinie der Gendiagnostik-Kommission.
An dieser Stelle sollte auch die nicht-invasive Untersuchung der im Blut der Mutter zirkulierenden, fetalen (plazentaren) DNA durch moderne Sequenzierungsverfahren genannt werden (nicht-invasiver fetaler DNA-Test, „NIFT”). Als Detektionsraten für Chromosomenstörungen wie Trisomie 21, 18 und 13, geschlechtschromosomale Anomalien und Triploidie werden Werte von 99% und darüber angegeben.
Um die Aussagekraft des NIFT richtig einschätzen zu können, müssen zunächst die Begrifflichkeiten für die Qualität eines medizinischen Tests erläutert werden. Für die verschiedenen Varianten des NIFT wird meist eine „Testsensitivität” von 95-99% und eine „falsch positive Testrate” von 0,1bis 0,5% genannt. Unter der „Sensitivität” eines Tests versteht man in der Medizin die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Test bei tatsächlich Erkrankten positiv ausfällt. „Falsch positiv” ist ein positiv ausgefallener Test, wenn die festzustellende Krankheit in Wahrheit nicht besteht. Eine Schwangere, die vor der Wahl eines NIFT steht, möchte jedoch vor allem wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ihr Kind bei einem positiven Test betroffen ist – und wie sicher ihr Kind nicht betroffen ist, wenn der Test negativ ausfällt. Diese Fragen beantworten die sogenannten „prädiktiven Werte” des Tests, die wiederum davon abhängen, wie groß die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der festzustellenden Krankheit („Ausgangsrisiko“) ist, bevor man sie zu diagnostizieren versucht.
Für eine Schwangere, deren Ausgangsrisiko für eine fetalen Trisomie 21 1:500 beträgt, ergibt sich bei einer Sensitivität von 95% und einer falsch Positivrate von 0,5% ein positiv prädiktiver Wert von nur 28%. D.h. dass nur in 28 von 100 Fällen, bei denen der NIFT „positiv” ausfällt, das erwartetet Kind auch tatsächlich eine Trisomie 21 hat. Selbst bei einer Testsensitivität von 99% und einer falsch Positivrate von 0,1% würde der positiv prädiktive Wert nur 66% betragen.
Ganz andere Werte ergeben sich für Schwangere, die einer Hochrisikogruppe entstammen (z. B. deutlich erhöhtes Alter, oder auffälliges Ergebnis im „Ersttrimesterscreening” (s.o.)). Bei einem Ausgangsrisiko von1:20 liefern die gleichen Testsensitivitäten und Falschpositivraten wie im vorhergehenden Absatz positiv prädiktive Werte von 91% bzw. 98%.Der negativ prädiktive Wert – d.h. die Wahrscheinlichkeit für ein nicht betroffenes Kind bei negativem Testergebnis – ist in unserer Beispielen durchgängig hoch und beträgt mindestens 400:1.
Daraus ergibt sich, dass die Aussagekraft des NIFT umso größer ist, je höher das Ausgangsrisiko der Schwangeren ist. Angesichts der Tatsache, dass die positiv prädiktiven Werte 99% dennoch nicht überschreiten dürften, ist selbst bei auffälligem NIFT vor einem Schwangerschaftsabbruch eine Verifizierung der Diagnose durch Chorionzottenbiopsie oder Fruchtwasseruntersuchung zu empfehlen.
Es ist heute auch möglich, zwischen 11 und 13+6 Schwangerschaftswochen das Risiko für die Entwicklung einer späteren Präeklampsie (hoher Blutdruck, erhöhte Eiweißausscheidung), einer intrauterinen Wachstumsretardierung (Fetus ist zu klein), einer Makrosomie (Fetus ist zu groß), einer Fehl- oder Totgeburt, einer Frühgeburt oder einer Übertragung vorherzusagen und zu berechnen. Diese Untersuchungen erfordern jedoch eine ausgewiesene Zusatzausbildung und unterliegen einem speziellen Zertifizierungsverfahren.
Je nach Art des Befundes kann es erforderlich sein, zu der Ultraschalluntersuchung weitere Spezialisten wie Neonatologen, Kinderkardiologen, Kinderkardiochirurgen, Kinderchirurgen, Gesichtschirurgen oder Neurochirurgen hinzuzuziehen, damit die Eltern bereits vorgeburtlich über die späteren Behandlungsmöglichkeiten spezieller Erkrankungen aufgeklärt werden können.
Was ist eine “invasive” Pränataldiagnostik und wann führt man sie durch?
Unter einer invasiven Pränataldiagnostik versteht man jede Maßnahme, bei der kindliche Zellen oder kindliches Gewebe durch einen intrauterinen Eingriff, z.B. eine Punktion, gewonnen werden; Blutentnahmen bei der Mutter zählen nicht hierzu.
Es stehen im Wesentlichen drei Entnahmetechniken zur Verfügung: die Chorionzottenbiopsie, die Amniozentese und die Nabelschnurpunktion. Alle diese Maßnahmen werden üblicherweise ambulant durchgeführt. Der unmittelbare Eingriff dauert bei der Amniozentese und der Chorionzottenbiopsie ca. eine Minute, die Nabelschnurpunktion kann etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen. Die Eingriffe werden von den meisten Frauen nicht als schmerzhaft erlebt und werden als einer Blutentnahme vergleichbar beschrieben.
Chorionzottenbiopsie
Zeitpunkt: ab 11 vollendeten Schwangerschaftswochen (11+0 SSW)
Vorgehen: durch eine durch die Bauchdecke der Schwangeren nach lokaler Betäubung eingeführten Nadel wird eine kleine Probe der Chorionzotten des Mutterkuchens angesaugt (das Chorion bildet den kindlichen Anteil des späteren Mutterkuchens, der Plazenta). Im Labor kann die Gewebeprobe direkt (biochemisch, molekulargenetisch) oder nach Kultivierung (Chomosomenanalyse) untersucht werden. Man führt standardmäßig immer Kurzzeit- und Langzeitkulturen durch.
Amniozentese
Zeitpunkt: ab 16 vollendeten Schwangerschaftswochen (16+0SSW)
Vorgehen: Punktion eines Fruchtwassersees innerhalb der Gebärmutter durch die Bauchdecke mit einer dünnen Kanüle.
Gewonnenes Material: Fruchtwasser. Die im Fruchtwasser schwimmenden kindlichen Zellen werden im Labor kultiviert und weiter untersucht. Auch das Fruchtwasser selbst kann Auskunft über kindliche Störungen geben. Die Fruchtwasserzellen können mit Hilfe eines molekularzytogenetischen Verfahrens (“pränataler Schnelltest”) direkt auf Abweichungen von der normalen Chromosomenzahl getestet werden.
Nabelschnurpunktion
Zeitpunkt: etwa ab 20 Schwangerschaftswochen, je nach Zugängigkeit und Dicke der Nabelschnur.
Vorgehen: Unter Ultraschallsicht wird mit einer dünnen Kanüle eine Nabelschnurvene punktiert und einige ml fetales Blut entnommen. Die Blutzellen werden direkt untersucht (biochemisch, molekulargenetisch) oder kurzzeitig kultiviert.
Wann liegt das Untersuchungsergebnis vor?
Die Untersuchungsdauer hängt von der Untersuchungsmethode und dabei im Wesentlichen von der erforderlichen Dauer der Zellkultur ab. Wenn eine Langzeitkultur erfolgt (Chorionzotten, Fruchtwasserzellen), so liegt das Ergebnis einer Chromosomenanalyse nach 10 – 21 Tagen vor; die Kurzzeitkultur (Chorionzotten, Nabelschnurblut) liefert bereits ein Chromosomenergebnis nach 1 bis 5 Tagen, wobei das Ergebnis der Kurzzeit-Chorionzottenkultur wegen einer gering erhöhten Fehlerrate dieser Methode nur als “vorläufig” bezeichnet wird (aber in den weitaus meisten Fällen mit dem endgültigen Ergebnis übereinstimmt). Der “pränatale Schnelltest” aus Fruchtwasser liefert ein Resultat innerhalb von 24 Stunden. Biochemische und vor allem molekulargenetische Tests kommen zumeist ohne eine Zellkultivierung aus und benötigen daher in aller Regel nur einige wenige Tage.
Worin bestehen die Risiken der Pränataldiagnostik?
Das wesentliche Risiko eines invasiven Eingriffs ist die Auslösung einer Fehlgeburt. Da die spontane Fehlgeburtsrate um 12 SSW höher als um 20 SSW ist, ist die gesamte fetale Verlustrate nach einem invasiven Eingriff früher in der Schwangerschaft erhöht. Die Eingriffs-bezogene fetale Verlustrate liegt jedoch sowohl für die Chorionzottenbiopsie, die Fruchtwasseruntersuchung und die Nabelschnurpunktion etwa bei 1%. Wenn ein Hydrops fetalis (Wasseransammlung in der Haut, dem Bauch und um die Lungen des Kindes) besteht, ist das Fruchttodrisiko nach Nabelschnurpunktion erhöht. Ernste Komplikationen bei der Mutter sind sehr selten.
Gründe für eine invasive Pränataldiagnostik
Anlass für eine invasive Pränataldiagnostik können sein:
- Wunsch der Schwangeren nach diagnostischer Gewissheit;
- eine erhöhte Nackentransparenz und/oder ein anderer verdächtiger Ultraschallbefund im ersten oder zweiten Trimenon;
- auffälliges Ergebnis eines NIFT (s.o.)
- ein familiäres Risiko für eine molekulargenetisch erkennbare Erkrankung.
Ein erhöhtes Alter der Schwangeren war früher der häufigste unmittelbare Anlass für eine invasive Pränataldiagnostik im zweiten Trimenon. Obgleich ein erhöhtes mütterliches Alter ein Risikofaktor für die Geburt eines Kindes mit einer abweichenden Chromosomenzahl – z.B. einem Down-Syndrom (Trisomie 21) – ist, wird heute in der Regel zuvor ein Ersttrimester-Screening (11-13+6 SSW) angeboten, das in vielen Fällen das Risiko so reduziert, dass sich die Eltern gegen eine Punktion entscheiden. Wird bei dem Ersttrimester-Screening ein hohes Risiko für eine Chromosomenstörung gefunden, ist die Chorionzottenbiopsie die Methode der Wahl, um dies abzuklären, da nach ca. einem Tag das Ergebnis vorliegt und das Risiko einer Fehlgeburt nach einer Chorionzottenbiopsie zu diesem Zeitpunkt (etwa 12 SSW) nicht höher ist als nach einer Fruchtwasseruntersuchung um 16 SSW. Dies erfordert jedoch speziell geschulte Untersucher.
Tabelle: Risiko für kindliche Trisomie 21 (Down-Syndrom)
SSW=Schwangerschaftswoche
Alter der
|
12 SSW |
16 SSW |
Geburt |
20 |
1/1068 |
1/1200 |
1/1527 |
25 |
1/946 |
1/1062 |
1/1352 |
30 |
1/626 | 1/703 | 1/895 |
35 |
1/249 | 1/280 | 1/356 |
40 |
1/61 | 1/76 | 1/97 |
Hinzu kommt noch etwa die gleiche Zahl an anderen Chromosomenstörungen wie die Trisomien 18 und 13 und die geschlechtschromosomalen Störungen.
Die Risikoziffern zum Zeitpunkt des pränataldiagnostischen Eingriffs sind höher als die bei der Geburt, weil es im Laufe der Schwangerschaft noch zu spontanen Fehlgeburten kommen kann, insbesondere bei Kindern mit einer Chromosomenstörung.
Kann die Pränataldiagnostik absolute Sicherheit über den Gesundheitszustand des erwarteten Kindes geben?
Keine pränataldiagnostische Maßnahme kann ein gesundes Kind “garantieren”. Im Durchschnitt kommen etwa 5% aller Kinder mit einer mehr oder weniger schwerwiegenden Störung zur Welt (sog. “Basisrisiko”): 0,5 % aller Neugeborenen haben eine medizinisch relevante Chromosomenstörung, 1% eine Erkrankung, die auf die Wirkung eines Einzelgens zurückzuführen ist, 2% eine körperliche Fehlbildung und 1,5% eine andere erblich (mit-)bedingte oder durch äußere Ursachen entstandene Erkrankung.
Mit einer Chromosomenanalyse lassen sich praktisch alle Chromosomenstörungen erkennen bzw. ausschließen. Qualifizierte Ultraschalldiagnostiker können heute bereits zwischen 11-13+6 SSW und um 20 SSW bis zu 95% aller Fehlbildungen diagnostizieren. Wegen ihrer großen Zahl lassen sich einzelne Gene jedoch zur Zeit noch nicht systematisch und in jedem Einzelfall noch in der Schwangerschaft durchtesten. Hier muss man sich auf diejenigen beschränken, die für diese Schwangerschaft besonders wichtig sein könnten (z.B. eine vorausgegangene Geburt eines Kindes mit einer bestimmten Einzelgen-Erkrankung). Auch bei der Diagnostik von Infektionsfolgen muss man gezielt vorgehen.
Man kann also sagen, dass man mit gezieltem Ultraschall und Chromosomenanalyse das Basisrisiko von ca. 5% theoretisch erheblich senken und darüber hinaus ganz spezielle Risiken in ganz speziellen Situationen weiter abklären kann. In der Regel wird dies heute bereits zwischen 11 und 13+6 Schwangerschaftswochen durchgeführt. Ist eine Einzelgenerkrankung bekannt, sollte frühestmöglich eine Planung einer erwünschten invasiven Diagnostik erfolgen, so dass diese etwa um 12 SSW durchgeführt wird..
Welchen Anspruch auf Information und Beratung hat die Schwangere?
Jede Schwangere hat einen umfassenden Anspruch auf Informationen, persönliche Aufklärung und genetische Beratung. Auf den zusätzlichen Beratungsanspruch nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz ist hinzuweisen. Einwilligung nach Aufklärung ist zwingende Voraussetzung für jede pränataldiagnostische Maßnahme. Das gilt auch für diejenigen Maßnahmen, die bei uns in Deutschland routinemäßig jeder Schwangeren vom Frauenarzt angeboten werden müssen, nämlich Ultraschalluntersuchungen in der ca. 10., 20. und 30. Schwangerschaftswoche. Hierbei handelt es sich um eine ungezielte Untersuchung der Entwicklung des Kindes; es wird in der Regel nicht nach bestimmten Fehlentwicklungen gesucht.
Mehr und mehr bürgert es sich jedoch ein, zwischen 11 und 13+6 SSW die Nackentransparenz zu messen. Eine Verdickung zeigt ein erhöhtes Risiko für eine Chromosomenstörung, für ein genetisches Syndrom, für Fehlbildungen insbesondere des Herzens und für einen ungünstigen Schwangerschaftsausgang an, kommt jedoch auch bei normalen Kindern vor. Feten, bei denen zwischen 11-13+6 Schwangerschaftswochen eine erhöhte Nackentransparenz bestand, werden intrauterin einem speziellen Nachsorgeprogramm zugeführt. Über die mit einer erhöhten Nackentransparenz einhergehenden Störungen muss der Frauenarzt vorher aufklären.
Bei einem kleinen Teil der Schwangerschaften besteht ein Anlass für eine “gezielte” Pränataldiagnostik. In diesen Fällen muss vorab über Ziel und Risiko der Untersuchung, ihre Aussagekraft, die Aussagesicherheit, Art und Schweregrad der gesuchten Störung, das mögliche Vorgehen bei krankhaftem Befund, die möglichen Konflikte und die Alternativen zu einer gezielten Pränataldiagnostik ausführlich beraten werden.
Falls bei der gezielten Pränataldiagnostik ein krankhafter Befund erhoben wurde, muss ausführlich über die Bedeutung des Befunds, Ursache, Art und Prognose der Erkrankung oder Entwicklungsstörung, mögliche Komplikationen, vor- und nachgeburtliche Behandlungsmöglichkeiten und etwaige Konsequenzen für die Geburtseinleitung beraten werden. Die Alternativen – Fortsetzung oder Abbruch der Schwangerschaft – müssen eingehend besprochen werden; Kontaktmöglichkeiten zu Selbsthilfegruppen oder gleichartig Betroffenen sowie die Möglichkeiten sonstiger medizinischer, psychologischer und sozialer Hilfe müssen eröffnet werden.
Literatur
- J. Schmidtke (2002): Vererbung und Ererbtes. Ein humangenetischer Ratgeber. GUC-Verlag, Chemnitz, 2. überarb. Auflage.
- KH Nicolaides, CS von Kaisenberg (2004): Die Ultraschalluntersuchung von 11-13+6 Schwangerschaftswochen.
Weitere Beiträge von Prof. Dr. Jörg Schmidtke hier in unserem Familienhandbuch
Autoren
Prof. Dr. med Constantin v. Kaisenberg ist Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Subspezialist in Spezieller Geburtshilfe und Perinatalmedizin, DEGUM III, Diploma in Fetal Medicine (FMF UK), Leiter des Bereiches Geburtshilfe und Pränatalmedizin, Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Medizinische Hochschule Hannover.
Prof. Dr. med Jörg Schmidtke ist Facharzt für Humangenetik und kommissarischer Direktor des Instituts für Humangenetik der Medizinischen Hochschule Hannover.
Adressen
Prof. Dr. med. Constantin v. Kaisenberg
Medizinische Hochschule Hannover
Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Tel.: 0511/532-9581, Mobile: 0176 1532 3454,
Prof. Dr. med. Jörg Schmidtke
Medizinische Hochschule Hannover
Institut für Humangenetik
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Tel.: 0511/532-6537
Erstellt am 29. März 2011, zuletzt geändert am 17. Dezember 2013